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Titel
Kirche nach Auschwitz zwischen Theologie und Vergangenheitspolitik. Die Auseinandersetzung der evangelischen Kirchen beider deutscher Staaten mit der Judenvernichtung im "Dritten Reich" im politisch-gesellschaftlichen Kontext


Autor(en)
Pavlush, Tetyana
Reihe
Zivilisationen & Geschichte 35
Erschienen
Frankfurt am Main 2015: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
573 S.
Preis
€ 96,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Brunner, Abteilung für Kirchengeschichte, Evangelisch-Theologische Fakultät, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Tetyana Pavlush widmet sich in ihrer 2014 an der Freien Universität Berlin verteidigten Dissertation einem Thema, welches nicht unerheblich zum besseren Verständnis des deutschen Nachkriegsprotestantismus in Ost- und Westdeutschland beiträgt. Die Wahl dieses Themas bedarf kaum einer weiteren Rechtfertigung; erstaunlicher ist vielmehr, wie zurückhaltend gerade auch die kirchen- und theologiegeschichtliche Forschung sich dieser Fragen bislang angenommen hat.1 Trotz etlicher Einzelstudien zu „Theologie und Vergangenheitsbewältigung“2 gibt es auf diesem Feld weiterhin große Lücken. Der öffentliche Umgang der evangelischen Kirchen in Ost und West mit dem Holocaust steht für die Autorin dabei im Zentrum ihres Interesses. Sie untersucht, wie und mit welchen Folgen die evangelischen Kirchen an den Holocaust erinnerten und welchen Stellenwert die Ermordung der europäischen Juden für das Selbstverständnis der Kirchen in der Zeit der staatlichen Teilung hatte. Neben einer bewundernswerten Fleißarbeit werden dabei allerdings die größeren Linien der Entwicklung nicht ganz deutlich.

Überzeugend ist Pavlushs methodischer Ansatz, der relativ ausführlich in einem ersten Kapitel erörtert wird. „Asymmetrische Vergleichsfälle symmetrisch vergleichen“ (S. 21) lautet dabei die Devise. Da sich bei der Arbeit an ihrer Studie herausgestellt habe, dass es ein quantitatives und qualitatives Gefälle gebe – sowohl im Hinblick auf den Umfang der Quellen als auch hinsichtlich mit unterschiedlicher Intensität geführter Debatten auf Seiten der westdeutschen Landeskirchen –, plädiert Pavlush für eine Kontextualisierung der Vergleichsobjekte: „Statt den ostdeutschen Fall deskriptiv überzubetonen, sollte er kontextuell erklärt werden.“ (S. 23) Das ist ebenso richtig wie trivial. Ihre Entscheidung, öffentliche Konflikte und Gedenktage zum Gegenstand der Untersuchung zu machen bzw. die sich hier entfaltenden Diskurse zu analysieren, leuchtet ein und kann überdies als eine wichtige Ergänzung zu solchen Studien im Feld der Erinnerungskultur und Geschichtspolitik gelten, die die Kirchen bislang eher am Rande einbezogen haben.

Die angestrebte Kontextualisierung, die neben den politischen und gesellschaftlichen Faktoren folgerichtig auch die kirchlichen Entwicklungen berücksichtigt, ist Inhalt des zweiten Kapitels, das die „endogenen und exogenen Faktoren“ in einer konzisen diachronen Skizze von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum wichtigen Beschluss der Synode der Evangelischen Kirche im Rheinland „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ vom 11. Januar 1980 bietet. Dabei betont Pavlush die endogenen Faktoren deutlich stärker als die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Dies rechtfertigt sich aber wohl insofern, als wir bislang über die internen Faktoren, die die öffentliche Holocaust-Erinnerung der evangelischen Kirchen bestimmten, sehr viel weniger wussten als über die exogenen Faktoren.

Anhand von vier Fallbeispielen, die sie als „öffentliche Kontroversen“ bezeichnet – den Eichmann-Prozess 1961, Rolf Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“ 1963, den Sechs-Tage-Krieg 1967 sowie die Fernsehserie „Holocaust“ 1979 – stellt Pavlush die kirchliche „Vergangenheitsbewältigung“ dar (bei ihr erscheint dieser Begriff auch in Anführungszeichen). Die Lektüre der gründlichen Rekonstruktionen der Teilhabe kirchlicher Vertreter an diesen Debatten sowie der jeweiligen Akzentsetzungen ist aufschlussreich, zumal Pavlush viele Details ans Tageslicht bringt, die bislang noch kaum oder gar nicht bekannt waren. So zeigt sie etwa, wie evangelische Kirchenvertreter auf Hochhuths Theaterstück reagierten. Der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Otto Dibelius kritisierte Hochhuth dahingehend, dass dieser „junge Autor“ keinerlei Verständnis dafür aufbringe, was es bedeute, „unter dem Druck feindseliger totaler Macht“ zu stehen (S. 181). Allerdings gab es auch Stimmen, wie diejenige Helmut Gollwitzers, die die lange Tradition christlicher Judenfeindschaft hervorhoben, auf die Hochhuth nun aufmerksam mache. Die Frage, warum der Papst geschwiegen habe, richte sich aber nicht nur an diesen, „sondern ‚an uns alle‘“ (S. 186). Im Anschluss an die evangelische Debatte über den „Stellvertreter“ sei es zu ersten Ansätzen einer „Theologie nach Auschwitz“ gekommen, so Pavlush weiter. Das mangelnde Schuldbewusstsein in kirchlichen Kreisen sei erst Stück für Stück aufgebrochen worden. Ihr gelingt es hier, wie auch in den anderen Abschnitten dieses langen Kapitels, den Prozess anhand der einzelnen Fallbeispiele zu rekonstruieren, wobei ab und an der rote Faden verloren zu gehen droht.

Der 30., 40. und 50. Jahrestag des November-Pogroms von 1938 stehen im Mittelpunkt des vierten Kapitels. Pavlush versteht die Gedenkveranstaltungen zum 9. November 1938 dabei als ein „Forum für die Holocaust-Reflexion“ (S. 319). Es kann hier nicht darum gehen, die materialgesättigten Kapitel zu referieren. Gekonnt rekonstruiert die Autorin die öffentlichen Äußerungen von Theologen und Persönlichkeiten aus dem Raum der Kirche. Allerdings hätte auch dieser Abschnitt noch stärker an der Leitfrage der Arbeit orientiert werden müssen. Die genuin theologischen Reflexionen über die „Kirche nach Auschwitz“ bleiben bei Pavlush zu stark im Hintergrund. Dabei wäre das ja aus kirchen- und theologiehistorischer Sicht die entscheidende Frage: Welchen Einfluss nahm „Auschwitz“ als Symbol und historischer Ereigniszusammenhang auf die theologische Arbeit dieses Zeitraums? Auf Basis ihres äußerst umfangreichen Materials kann Pavlush zeigen, dass das Gedenken an den 9. November 1938 spätestens seit 1978 und dann vor allem 1988 zum Anlass genommen wurde, über die Judenvernichtung insgesamt sowie über die Beteiligung und Mitschuld der Protestanten an diesem Geschehen zu reflektieren. Christlich-jüdischer Dialog und Holocaust-Gedenken bedingten sich also wechselseitig (vgl. auch S. 430–435).

In ihrem Fazit hebt Pavlush abschließend einige Befunde hervor, die sich aus ihrer Analyse ergeben haben. Zunächst macht sie sich nochmals für die von ihr als methodischen Ansatz gewählte „Asymmetrie als ein narratives Paradigma“ stark, welches sich zur Analyse „viel besser eignet als etwa die Gegenüberstellung von Erfolgsgeschichte und Niederlage“ (S. 460). Diesem ausgewogenen Ansatz für die Bewertung des west- und ostdeutschen Protestantismus, der ja, wie diese Arbeit zeigt, immer in seinen spezifischen Zwängen und Möglichkeitsräumen, also eben in seinen Kontexten bewertet werden muss, ist explizit zuzustimmen. Die Asymmetrie lässt sich in einem deutlichen Fokus auf die westdeutschen Debatten nachverfolgen, denen dann oftmals der Abschnitt zur DDR angefügt worden ist. Nicht immer wird dabei deutlich, welchen Ertrag die angestrebte Kontextualisierung hat, beziehungsweise wie Kontext und Diskurs zusammenhängen. Dann weist die Autorin auf die unterschiedlichen Generationenfolgen hin, die die Erinnerung an den Holocaust beeinflusst hätten. Es fehlt aber noch immer an Studien, die den Aspekt der Generationen im ost- und westdeutschen Protestantismus erforschen. Das von Pavlush im Anhang beigegebene Personenregister ist in diesem Zusammenhang nützlich, allerdings hätte man sich gewünscht, dass biographische Aspekte stärker in ihre Analyse eingebunden worden wären.

Die Autorin fasst im Fazit außerdem zusammen, welche Auswirkungen die öffentlichen Kontroversen auf die ost- und westdeutschen Kirchen hatten. Die Debatten hätten provoziert, mobilisiert, sensibilisiert, sich identifizierend ausgewirkt, ferner informierende, reflektierende und katalysierende Funktionen gehabt. Dies leuchtet zwar ein, aber es bleibt einigermaßen unklar, wie sich die von Pavlush durchaus in Betracht gezogenen Wechselwirkungen im Einzelnen niedergeschlagen haben und welchen Einfluss, wenn überhaupt, die Kirchen auf die Gestaltung dieser öffentlichen Kontroversen nehmen konnten. Spannend wäre überdies die Frage, wie sich das von Pavlush erarbeitete Selbstverständnis zu anderen kirchlichen Identitätskonzepten verhält – etwa demjenigen der „Volkskirche“ (vor und nach 1945). Freilich gibt die Autorin hier durchaus Hinweise, auf die sich weitere Studien beziehen können, wenn sie zum Beispiel zeigt, wie das Konzept der „Kirche im Sozialismus“ für die ostdeutschen Kirchen auch eine Verpflichtung beinhaltete, sich mit der NS-Zeit auseinanderzusetzen (vgl. S. 474).3 Im Fazit hätte noch konziser darauf hingewiesen können, worin denn nun genau die Folgen der evangelischen Erinnerung an den Holocaust bestanden haben.

Zu den formalen Kritikpunkten an der Arbeit gehört eine undurchsichtige Zitationsweise, die zwar lästig ist, aber den Erkenntnisgewinn nicht mindert. Die theologiegeschichtliche Entwicklung hätte in der Arbeit etwas stärker gemacht werden können. Tetyana Pavlush schließt mit ihrer Dissertation dennoch eine wichtige Lücke in der Kirchlichen Zeitgeschichte und verdeutlicht, wie ertragreich eine deutsch-deutsche Betrachtungsweise sein kann.

Anmerkungen:
1 Vgl. aber jüngst den Band des Bonner Systematischen Theologen Andreas Pangritz, Vergegnungen, Umbrüche und Aufbrüche. Beiträge zur Theologie des christlich-jüdischen Verhältnisses, Leipzig 2015.
2 Siehe pars pro toto etwa Lucia Scherzberg (Hrsg.), Theologie und Vergangenheitsbewältigung. Eine kritische Bestandsaufnahme im interdisziplinären Vergleich, Paderborn 2005; dies. (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung im französischen Katholizismus und deutschen Protestantismus, Paderborn 2008; zusammen rezensiert von Klaus Große Kracht, in: H-Soz-Kult, 04.11.2008, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-11173> (27.04.2016).
3 Bedauerlicherweise nicht berücksichtigt hat die Autorin die grundlegende Studie von Wolfgang Thumser, Kirche im Sozialismus. Geschichte, Bedeutung und Funktion einer ekklesiologischen Formel, Tübingen 1996; ebenso wenig die Arbeiten von Katharina Kunter, etwa: Erfüllte Hoffnungen und zerbrochene Träume. Evangelische Kirchen in Deutschland im Spannungsfeld von Demokratie und Sozialismus (1980–1993), Göttingen 2006; rezensiert von Uwe Kaminsky, 05.01.2007, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-8673> (27.04.2016).