Titel
Reisen in die Moderne. Der Amerika-Diskurs des deutschen Buergertums vor dem Ersten Weltkrieg im europaeischen Vergleich


Autor(en)
Schmidt, Alexander
Erschienen
Berlin 1997: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arno Mietschke, Friedrich-Meinicke-Institut, Freie Universität Berlin

Mit der publizierten Fassung der 1994 an der Freien Universitaet Berlin zugelassenen Dissertation liegt ein weiteres Buch zum Thema deutscher Reflexionen ueber das moderne "Amerika" vor. Alexander Schmidt begruendet seinen Ansatz in der vergleichsweise umfangreichen, theoretisch weit ausholenden Einleitung damit, dass am Beispiel des Amerika-Diskurses die gesellschaftliche Fremd- und Selbstwahrnehmung des deutschen Buergertums zur Jahrhundertwende rekonstruiert werden kann. Mit diesem Zugang wird Bezug genommen auf die aktuelle geschichtswissenschaftliche Diskussionen um historische buergerliche Wirklichkeitsmodelle, Mentalitaeten und Deutungsmuster und somit deren Geschichtsmaechtigkeit neben den harten Fakten der sozialhistorischen Forschung betont. Buergerliche "Konstruktionen der Wirklichkeit" sollen gerade durch Stereotypen ueber "Fremde" fuer die historische Forschung greifbar werden. Damit wird auf einen Beitrag zur Sozialgeschichte der Ideen, zur kollektiven kulturellen Identitaetsbildung des deutschen Buergertums abgezielt und so zugleich die traditionelle sozial-("struktur")historische Forschung via Dirskursgeschichte um "fundamentale Semantiken" buergerlicher Akteure erweitert. Die europaeische Vergleichsdimension soll dabei hinterfragen, ob die jeweiligen nationalen Amerikabilder eher gemeinsame europaeische Wertmuster reflektieren oder ob die deutsche Debatte ueber die amerikanische Gesellschaft die sogenannte Sonderwegsthese stuetzt.

Die Arbeit wird theoretisch einerseits mit der aktuellen Diskussion des kulturell zusammengehaltenen Buergerlichkeitsbegriffs im Kontext von "Mentalitaeten" und "Diskursen" und andererseits mit der Diskussion modernisierungstheoretischer Ueberlegungen eingeleitet. Fuer letztere diente die USA-Gesellschaft vielfach als Modell. Weiterhin wird ein Ueberblick zur Sozialgeschichte des Reisens im 19. Jahrhundert geboten und "Amerika" im Spiegel der europaeischen Mythen vorgestellt.

Den ca. 100 der Arbeit als Quelle dienenden Reiseberichten wurden fuer die Darstellung 6 immer wiederkehrende Stereotypen deutscher Amerika-Wahrnehmungen zugrunde gelegt, die in jeweils etwa 30 Seiten umfassenden Kapiteln untersucht werden. Mit dieser Herangehensweise empfielt sich die Arbeit auch unabhaengig von o. g. Zielstellungen als Kompendium fuer alle am deutsch-europaeischen Amerikabild Interessierten, denn die Stereotypen sind zweifellos jedem Kenner historischer Amerikaberichte vertraut und zugleich von "langer Dauer" und wirken z. T. bis heute fort. So wurden die Gesellschaftsstrukturen (Kapitel 1) gegenueber Europa durch weniger Klassenkampf und staatliche Regulierung gepraegt wahrgenommen, die nicht ausschliesslich herkunftbedingten Aufstiegsorientierungen und -chancen betont (Vom Tellerwaescher zum Millionaer!). In dem "Land, wo die Arbeit adelt" (Kapitel 2) wurde von den Amerikareisenden der hohe Lebenstandard hervorgehoben, zugleich die Mechanisierung des Menschen infolge des vermeindlich hoeheren Grades der industriell-technischen Fortschritts kritisiert. Die amerikanische Mentalitaet (Kapitel 3) wird als pragmatisch, rational, utilitaristisch und "kulturlos" im Sinne etwa der deutschen Hochkultur reflektiert. "Die Amerikaner" werden als materialistisch beschrieben. Dieses Kernkapitel belegt besonders, wie sehr bei den "Wilhelminern" idealistische Erklaerungsansaetze in der insgesamt sehr homogenen Wahrnehmung der amerikanischen Gesellschaft dominierten. Schmidt interpretiert zu Recht die stereotypen Wahrnehmungen vor dem Hintergrund der buergerlichen Deutungsmuster: "Insofern kristisierten die deutschen Beobachter am amerikanischen Beispiel mehr oder weniger bewusst vor allem die Tendenzen eines wachsenden Materialismus in der deutschen Gesellschaft und besonders im Buergertum, wie er ebenso wie die massive antimaterialistische "Gebildetenrevolte" von der sozialhistorischen und geistesgeschichtlichen Forschung immer wieder betont worden ist." (S. 186)

Die drei anschliessenden Kapitel ruecken gegenueber der deutschen Gesellschaft besonders auffaellige Unterschiede in gesellschaftlichen Teilbereichen in den Mittelpunkt. So wurden Emanzipationserfolge von Frauen oder antiautoritaere intergenerationelle Verhaltensmuster (Kapitel 4) in der Regel mit Unbehagen registriert, da diese wenig den heimischen Normen im deutschen Kaiserreich entsprachen. Auch die aus deutscher Sicht an Pragmatismus, Selbstaendigkeit, einseitiger Spezialisierung und wirtschaftlicher Effizienz ausgerichteten amerikanischen Bildungsinstitutionen (Kapitel 5) stiessen schon wegen ihres egalitaeren Charakters auf Verwunderung der vielfach bildungsbuergerlichen Reiseberichterstatter. Und schliesslich bildete die amerikanische Grossstadt (Kapitel 6) fuer die deutschen Besucher hinreichend Gelegenheit, um ueber die Faszination und den Schrecken von Fortschritt und Vermassung nachzudenken, die typischen Grossstadt-Routen boten fuer derartige Reflexionen vielfaeltige Moeglichkeiten.

Insgesamt kommt Schmidt zu dem Schluss, dass es kein ueberwiegend negatives Amerikabild der europaeischen Besucher gab, vielmehr seien ambivalente Wahrnehmungen charakteristisch gewesen. Dennoch wurden in der eigenen Gesellschaft auffindbare negative Modernisierungsfolgen besonders heftig an der amerikanischen Gesellschaft kritisiert. Eigene buergerliche Werthorizonte (Gemuetlichkeit, Beamtenstaat, Hochkultur) wurden den Folgen der Hochindustrialisierung entgegengehalten. Insofern galt Amerika - gemeint und beobachtet wurden natuerlich nur die weisse middle und upper class bzw. deren Selbstbilder - sowohl politisch als auch wirtschaftlich-technisch nur begrenzt als allgemeines Leitbild europaeischer Modernisierungsprozesse. Der europaeische Vergleich nationaler Wahrnehmungen amerikanischer Entwicklungen belegt nach Schmidt (Kapitel 7) eher die gemeinsamen europaeischen Wertmuster denn einen deutschen "kulturellen Sonderweg". Amerika erschien als buergerliche Utopie sozialer Harmonie gegenueber einem insbesondere in Deutschland favorisierten staatsfixiert-autoritaeren Weg in die Moderne.

Diese Arbeit belegt einmal mehr, dass historische Prozesse nicht allein ueber dokumentierte "realistische" Schilderungen etc. erschlossen werden koennen, sondern dass es der quellenkritischen Verarbeitung der an Akteure gebundenen Konstruktionsprozesse bedarf (z. B. Stereotypen, Klischees), deren historiographische Einordnung wiederum gesellschafthistorisches Wissen voraussetzt. Auch dieses Buch beweist damit die Wirksamkeit anthropologischer Methoden fuer die geschichtswissenschaftliche Forschung. Dass die beabsichtigte Rekonstruktion von Text und Kontext, wie auf dem einleitend formulierten theoretischen Reflexionsniveau gefordert, in den darstellenden Teilen schwer durchgaengig umgesetzt wird, mag kritisch bedauert werden. Insgesamt ist es erstaunlich, dass trotz der durchaus differenzierten sozialen und unterschiedlichen nationalen Zusammensetzung der Reisenden, die Dominanz der Einheitlichkeit der buergerlichen Wahrnehmungen sogar im europaeischen Vergleich herausgearbeitet werden konnte.

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