H.-L. Dienel: Ingenieure zwischen Hochschule und Industrie

Titel
Ingenieure zwischen Hochschule und Industrie. Kaeltetechnik in Deutschland und Amerika, 1870-1930


Autor(en)
Dienel, Hans-Liudger
Reihe
Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 54
Erschienen
Goettingen 1995: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
647 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arno Mietschke, Friedrich-Meinicke-Institut, Freie Universitõt Berlin

Die nunmehr als Buch vorliegende Muenchener Dissertation von 1992 traegt in mehrfacher Hinsicht zur Belebung der allzu haeufig funktionalistisch gefuehrten Diskussion um den Beitrag von Ingenieuren zur industriellen Entwicklung bei. Erstmalig wird in dieser umfangreichen Fallstudie fuer eine "verwissenschaftlichte" Industrie dokumentiert, wie die komplexen Beziehungen zwischen biographischen, technischen, wirtschaftlichen und wissenssoziologischen Strukturierungen ueber eine Zeitraum von 60 Jahren historisch wirksam waren.

Dienel leiten Fragen nach den Wechselwirkungen zwischen technikwissenschaftlicher und industrieller Entwicklung in der Kaeltetechnik. Wie gestaltete sich das Verhaeltnis zwischen der Hochschul- bzw. Industrie-"Ingenieurkultur"? Durch die Einbeziehung vielfaeltiger Institutionalisierungsprozesse und die Beruecksichtigung handelnder Akteure, ihrer kulturellen Praegungen etc. gelingt es Dienel, die enge technikhistorische Analyse in einen breiten gesellschaftlichen Beziehungskontext einzubetten. Die Technikentwicklung wird unter Berufung auf das von Thomas P. Hughes entwickelte Konzept der Auspraegung technologischer Stile historisiert. Dienel moechte mit diesem Konzept insbesondere den in Techniksoziologie entwickelten sozialkonstruktivistischen Analyse-Ansatz zur "cultural construction" erweitern (S. 33).1 Das "kulturhistorische Stilkonzept" ermuntert Dienel darueber hinaus, seine Fallstudie um eine inter-nationalstaatliche Perspektive zu erweitern. In den 3 Hauptkapiteln: "Die Kaelteindustrie" (mit ueber 300 Seiten das umfangreichste), "Thermodynamik und Kaeltetechnik an den Technischen Hochschulen" und "Die Kontakte zwischen Industrie und Hochschule" (jeweils gut 100 S.) werden die deutschen Entwicklungen mit denen in den USA verglichen.

Im folgenden werde ich ausgewaehlte Forschungsergebnisse hervorheben. Dienel stellt zu Recht fest, dass die Geschichtsschreibung zum Problemfeld "Verwissenschaftlichung der Industrie" allzu stark auf die Grossindustrie fixiert blieb und zuwenig die Professionalisierungstendenzen der Ingenieure vor dem Hintergrund ihres technischen Alltags kritisch rekonstruierte. Zwar sei gerade die mittelstaendische Kaeltetechnik "bis heute in der Literatur ein Paradebeispiel fuer die ueberragende Bedeutung der Wissenschaft fuer die industrielle Entwicklung", aber "den Grundstein fuer diese gebetsmuehlenartig wiederholte Behauptung legten die Thermodynamiker ... selbst." (S. 19) Erst die quellenkritische unternehmensbezogene Analyse der technik- und wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklung dieser Industrie grenzt diese Einschaetzung eher auf den Ausnahmefall der Gesellschaft fuer Lindes Eismaschinen ein. Die Grenzgaengerschaft zwischen Theorie und Praxis resp. zwischen der wenige Jahre andauernden Hochschullehrerschaft und des lebens-verlaufpraegenden Erfinderunternehmertums des Firmengruenders Carl Linde wird detailliert u.a. durch die EDV-gestuetzte Auswertung der umfangreichen Korrespondenz als historische Ausnahme entmystifiziert. Dies gelingt nur durch die intraindustriellen Vergleichsperspektive. Die Beduerfnisse der Brauereiindustrie bildeten den Hintergrund, dass Linde als ausgewiesener Kaeltemaschinen-Gutachter mit der Entwicklung einer Kaeltemaschine beauftragt wurde. Dem Entwickler kamen zunaechst eher seine mechanisch-konstruktiven Erfahrungen aus industrieller Taetigkeit als sein thermo-dynamisches Wissen bei der Verbesserung der Versuchs-Kaeltemaschine zu Gute. (S. 107) Diese auf praktische Erfahrungen bauende Kundenorientierung bildete auch spaeter die Grundlage der Ingenieurbuero-Organisation (ohne eigene Produktionsanlagen) der Linde-Gesellschaft und ermoeglichte durch den "unbuerokratischen, entwicklungsnahen, ingenieursdominierten Stil" die Marktfuehrerschaft gegenueber den Konkurrenten innerhalb der Kaelteindustrie. (S. 164ff., hier S. 326) Eine Industrieforschung wird erst in den 1920er Jahren als Strategie zur Sicherung der Marktfuehrerschaft via technologischer Fuehrung gegenueber der zunehmenden Zahl kaeltemaschinenbauender Firmen in beiden Laendern etabliert, die allerdings wie innerhalb der Linde-Gesellschaft zunaechst nicht in die Gruendung von "zentralen und den konkreten technischen Entwicklungsaufgaben enthobenen Forschungslaboratorien" einmuendete, sondern personen- und projektbezogen blieb. (S. 245ff. bzw. 313) Dienel zeigt mit diesem Befund, dass die Prozesse der Verwissenschaftlichung der Industrie zu industriespezifischen Auspraegungen fuehrte, die mit einer aus der grossindustriellen Entwicklung abgeleiteten Schablone nur unzureichend charakterisiert werden koennen. (S. 163ff.) Dienels Arbeit sollte ermutigen, unser Geschichtsbild ueber "Konstruktionsprozesse moderner industrieller Entwicklung" durch das Studium der vielfaeltigen Erscheinungsformen zu differenzieren und zu verbreitern.

Im zweiten Punkt moechte ich auf die industrielle Bedeutung der wissenschaftlichen Ausbildung von Ingenieuren abheben. Dienels technische Vorbildung erleichterte ein weiteres Desiderat anzugehen: Die Analyse der Lehr- und Forschungsinhalte an den Technischen Hochschulen offenbart, dass wegen der Zuordnung der Kaeltetechnik zum Theoriefach Thermodynamik die Anwendungsprobleme erst allmaehlich thematisiert wurden und im allgemeinen nur wenige Studenten erreichten. (S.361ff.) Erst im Zusammenhang mit der Herausbildung der Waermewirtschaft als Reaktion auf die Nachkriegsprobleme kommt es zur Gruendung eines Kaelteinstituts 1926 in Deutschland. (S. 404ff.) Dass die angestellten Linde-Ingenieure zumeist Absolventen der thermo-dynamisch fuehrenden Technischen Hochschule Muenchen und damit als vertrauenswuerdige Personen dem Hochschullehrer Linde bzw. dessen Nachfolger bekannt waren, unterstreicht einmal mehr den Ausnahmefall der Linde-Gesellschaft. (S 166f.) Dienels Ergebnisse zur Ausbildung von Kaeltetechnikern legen ingesamt eher nahe, dass weder in Deutschland noch in den USA von einem regelmaessige und durchgaengigen Wissenstransfer via Humankapital zwischen Hochschule und Kaeltemaschinenproduzenten ausgegangen werden kann.(S. 507ff.)

Wie - so ist nunmehr zu fragen - sind die Kontakte zwischen Industrie und Hochschule zusammenfassend zu wuerdigen? Dienels Antwort ist unmissverstaendlich: Im Ergebnis einer aufwendigen Analyse vielfaeltiger Austauschformen (Vereine, Tagungen, Publikationen, Patente, persoenlicher Beziehungen, Gutachtertaetigkeit etc.) heisst es abschliessend: "Informelle und formelle Kontakte zwischen Hochschule und Industrie waren weder in Deutschland noch in den Vereinigten Staaten so intensiv, dass man von einer gemeinsamen community der akademischen und industrielle Kaeltetechnik sprechen sollte." (S. 523) Die Beziehungen zwischen der Gesellschaft Linde und der TH Muenchen blieb eine Ausnahme. "Direkte Forschungskooperation zwischen Hochschule und Kaelteindustrie mit Auswirkungen fuer die industrielle Praxis waren in beiden Laendern selten."(S.556) Groessere Bedeutung als die konkreten Wechselwirkungen zwischen beiden Ingenieurkulturen kam den gegenseitig legitimierenden Funktionen zu. Fuer die Technischen Hochschulen bildete der industrielle Erfolg gerade der Kaeltetechnik einen Beweis fuer die Praxisnaehe der technischen Wissenschaften und diese waren wiederum durch ihr grosses Sozialprestige u.a. als neutrale Gutachterinstanz in der Industrie hoch willkommen. (S. 562)

Es gehoert zu den Vorzuegen der Buches von Dienel, auf die unterschiedlichen Leitbilder fuer die Ingenieure in Hochschule und Industrie hingewiesen und deren Stilbildungsfunktion herausgearbeitet zu haben. Die Ingenieurkulturen entwickelten sich in Industrie und Hochschule ueberwiegend selbstaendig voneinander und blieben bis in die 1920er Jahre relativ unabhaengig. "Die getrennten Welten der industriellen und der akademischen Kaeltetechnik fanden in der Maschine nur schwer zu einander."(S.562)

Mit Dienels Arbeit liegt die bislang umfassendste und gruendlichste historische Analyse ueber Wechselwirkungen zwischen Hochschule und Industrie fuer eine mittelstaendische Industrie vor. Weitere sollten folgen.

Anmerkung:
1 Dienels Ansatz kann damit in die zunehmenden Bestrebungen zur kulturhistorische Erweiterung der Geschichtswissenschaft eingereiht werden. Der "Kulturbeitrag der Technik", der im Selbstverstaendnis der Techniker fest verankert ist, wurde allerdings traditionell auch in der Technikgeschichtsschreibung hervorgehoben. Siehe zur allgemeinen Debatte mit weiterfuehrender Literatur: Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft: Beitraege zur Theoriedebatte/ unter Mitarb. von Gunilla-Frederike Budde, hrsg. von Thomas Mergel; Thomas Welskopp, Muenchen: Beck, 1997 bzw. zum Kulturbetrag der Techniker: Technische Intelligenz und "Kulturfaktor Technik". Kulturvorstellungen von Technikern und Ingenieuren zwischen Kaiserreich und frueher Bundesrepublik Deutschland/ hrsg. von Burkhard Dietz; Michael Fessner; Helmut Maier. - Muenster: Waxmann, 1996.

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