R. Oldenziel u.a. (Hrsg.): Cycling and Recycling

Cover
Titel
Cycling and Recycling. Histories of Sustainable Practices


Herausgeber
Oldenziel, Ruth; Trischler, Helmuth
Reihe
The Environment in History: International Perspectives 7
Erschienen
New York 2016: Berghahn Books
Anzahl Seiten
VII, 248 S., 18 Abb.
Preis
$ 95.00 / £ 60.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Zechner, Berlin

In Zeiten eines voranschreitenden Klimawandels hat die Umweltgeschichte weiterhin Hochkonjunktur.1 Nachdem in der aktivistisch geprägten Anfangsphase etwas einseitig Narrative des ökologischen Niedergangs im disziplinären Fokus gestanden hatten, erweiterte sich das Themenspektrum später um weitere Lesarten der komplexen Beziehungsgeschichten zwischen Mensch und Umwelt.2 Wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte gerade für den deutschen Sprachraum das 2009 in München gegründete „Rachel Carson Center for Environment and Society“, dem das Herausgeberduo des zu besprechenden Sammelbandes als Gastwissenschaftlerin beziehungsweise Direktor verbunden ist.3

Mit der Publikation wollen Ruth Oldenziel und Helmuth Trischler die Erörterung einer Frage voranbringen, die über die rein wissenschaftliche Sphäre hinaus schon ins politische Feld führt: „how history can help us move toward more sustainable societies“ (S. 1). Zu diesem Zweck hinterfragen sie die einseitige Fortschrittserzählung der traditionellen Technikgeschichte, um hernach für ein „nonlinear understanding of sustainability“ (S. 10) im Sinne der Zyklizität zu plädieren. Im Anschluss an die Einleitung widmen sich die Autorinnen und Autoren der zehn Fallstudien den Kulturtechniken Fahrradfahren und Wiederverwerten, die anhand mehrerer europäischer sowie dreier nicht-europäischer Beispiele analysiert werden.4

Den ersten Hauptteil („Cycling Histories“) leitet ein Beitrag des Ethnologen Hans Peter Hahn ein, der die weitverbreitete Fahrradnutzung in westafrikanischen Ländern auf praktische Alltagsbedürfnisse statt auf ideelle Umweltschutzbemühungen zurückführt – und hier gleichwohl alternative „pathways to sustainability“ (S. 27) sieht. Nachfolgend vergleicht der Verkehrshistoriker Manuel Stoffers für die Zeit ab den 1970er-Jahren die „Human-Powered Vehicle Movements“ in den Niederlanden und den USA: In den Niederlanden werde das Fahrrad von der Mehrheit als ein durch separate Infrastruktur zu förderndes Gebrauchsmittel verstanden, während es im autobegeisterten Amerika lange ein Minderheitenaccessoire geblieben sei – als Erkennungszeichen der Gegenkultur oder Spielzeug für Technikfreunde. Historisch argumentierende Aufsätze von Cathérine Bertho Lavenir sowie Adri Albert de la Bruhèze / Ruth Oldenziel thematisieren das kulturelle und soziale „Framing“ des Fahrrads zwischen Arme-Leute-Vehikel und Luxusartikel, welches für dessen Akzeptanz oft entscheidender sei als rationale Überlegungen hinsichtlich Gesundheitsfürsorge, Kostenersparnis oder Umweltentlastung. Am Beispiel der schwedischen Hauptstadt Stockholm belegt der Technikhistoriker Martin Emanuel das Ausmaß mobilitätspolitischer Pfadabhängigkeiten, mit denen sich vergangene Entscheidungen im Sinne der autogerechten Stadt als „material remnants of past ideologies“ (S. 102) heute weiter zulasten des Fahrrad- und Fußgängerverkehrs auswirkten.

Gewissermaßen als Gelenk zwischen den beiden übergeordneten Themengebieten fungieren die als „Intersections“ rubrizierten Ausführungen des Japanologen M. William Steele, der auf einen im Westen bisher wohl wenig bekannten konfuzianischen Traditionsstrang der Nachhaltigkeitsidee aufmerksam macht – wobei aber auch „invented traditions“ konkrete Verhaltensänderungen bewirken könnten. Zudem konstatiert er für die japanischen Städte eine Art „bicycle anarchy“ (S. 132) hinsichtlich des ungeregelten Abstellens und Entsorgens, was immer noch gängigen Klischees über ostasiatische Ordnungsliebe deutlich widerspricht und den einen oder die andere an Berliner Zustände erinnern mag.

Im zweiten Hauptteil („Recycling Histories“) dominieren auf das deutsche Beispiel bezogene Untersuchungen, ergänzt um eine doch etwas aus dem Themenrahmen fallende Studie der Soziologin Zsuzsa Gille zur ungarischen Rotschlamm-Katastrophe von 2010 (bei der nach einem Unfall in einer Aluminiumfabrik rund eine Million Kubikmeter schwermetallhaltigen Rotschlamms für weiträumige Überschwemmungen sorgte). Frühneuzeitliche Praktiken des Reparierens und Gebrauchtverkaufens versteht der Stadthistoriker Georg Stöger als de facto nachhaltige Konsumtionsweisen, in denen sich Jahrhunderte vor dem Aufkommen der „throwaway society“ (S. 161) Ressourcenknappheit und Sparsamkeitsideal fernab ökologischer Befindlichkeiten verbanden. Gegenwärtigen Abfallphänomenen spürt der Wirtschaftshistoriker Roman Köster am Beispiel Westdeutschlands nach, wo seit den 1970er-Jahren umfassende Recyclingsysteme notfalls auch mithilfe staatlicher Subventionen eingeführt wurden – im Gegensatz zu früheren Verwertungsregimen in einer gesamtgesellschaftlichen Situation des Wohlstandes statt der Armut.5 Den Inhalt des letzten Beitrags bilden spannende Erkundungen der Entwicklungssoziologin Djahane Salehabadi zum Berliner Elektroschrott als „increasingly hot commodity“ (S. 203), um die eine offene Konkurrenz zwischen den Stadtreinigungsbetrieben und einer osteuropäisch geprägten Mülljägerszene entbrannt sei.

Abgeschlossen wird der mit einer Auswahlbibliographie versehene Band durch zwei als „Reflections“ markierte Kurzkommentare. Zuerst warnt Donald Worster – einer der Altmeister der US-amerikanischen „Environmental History“ – vor der Sehnsucht nach einem „simple technological fix“ (S. 216), an deren Stelle ein Gesamtsystem kultureller wie ökonomischer Nachhaltigkeit treten müsse. Danach relativiert der Technik- und Umwelthistoriker Robert Friedel ebenfalls die Relevanz von Technologien und problematisiert mehr die konkreten Verhaltensänderungen, die während des 20. Jahrhunderts zur Abkehr von nachhaltigeren Wirtschaftsformen führten.

Der Rezensent bekennt freimütig, viele interessante bis faszinierende Fakten über „Cycling and Recycling“ in ganz verschiedenen Länderkontexten dazugelernt zu haben. Zudem ist die überwiegende Mehrzahl der Beiträge so verständlich und weitgehend jargonfrei geschrieben, dass die Texte auch jenseits enger Fachgrenzen rezipierbar sind – was für ein interdisziplinäres Feld wie die Umweltgeschichte besonders wichtig erscheint. Des Weiteren weist der Sammelband über die semantische Klammer des Titels hinaus eine thematische Stringenz auf, die man vielen auf dem Markt befindlichen Buchbindersynthesen ebenfalls wünschen würde. Indes bleibt auch nach wiederholter Lektüre der Einleitung zweifelhaft, ob es für den erreichten Erkenntnisgewinn tatsächlich des theoretischen Rahmens eines nun zyklischen statt linearen Nachhaltigkeitsverständnisses bedurft hätte. Ferner wären zusätzliche Abbildungen vorteilhaft gewesen, um die untersuchten Phänomene noch anschaulicher und damit breitenwirksamer darzustellen. Dem Verlag Berghahn Books ans Herz gelegt seien schließlich der Appell für eine belastbarere Fadenheftung sowie die Anregung, seine Bücher zu Umweltthemen künftig auf Recyclingpapier zu drucken.

Anmerkungen:
1 Vgl. als umweltgeschichtliche Internetportale etwa Arcadia. Explorations in Environmental History, http://www.environmentandsociety.org/arcadia (16.11.2016); Environmental History Resources, https://www.eh-resources.org (16.11.2016); H-Environment, https://networks.h-net.org/h-environment (16.11.2016).
2 Vgl. als Online-Überblicksartikel mit zahlreichen weiteren Literaturverweisen etwa Nils Freytag, Natur und Umwelt, in: Europäische Geschichte Online, 05.07.2016, http://www.ieg-ego.eu/freytagn-2016-de (16.11.2016); Melanie Arndt, Umweltgeschichte, Version: 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 10.11.2015, http://docupedia.de/zg/arndt_umweltgeschichte_v3_de_2015 (16.11.2016); Uwe Luebken, Undiszipliniert. Ein Forschungsbericht zur Umweltgeschichte, in: H-Soz-Kult, 14.07.2010, http://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-1111 (16.11.2016).
3 Vgl. die Institutshomepage: http://www.carsoncenter.uni-muenchen.de (16.11.2016).
4 Vgl. zum Thema Fahrradgeschichte auch die aktuelle Ausstellung des Technoseums Mannheim: http://www.technoseum.de/ausstellungen/2-raeder-200-jahre (16.11.2016); zuvor u.a. bereits die Ausstellung „Das Fahrrad. Kultur, Technik, Mobilität“ im Hamburger Museum der Arbeit (2014/15), rezensiert von Thorsten Logge, in: H-Soz-Kult, 15.11.2014, http://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-198 (16.11.2016).
5 Siehe demnächst auch Roman Köster, Hausmüll. Abfall und Gesellschaft in Westdeutschland 1945–1990, Göttingen 2017 (angekündigt für Januar).