Mehr als 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Verschwinden der sozialistischen Regime in Ostmitteleuropa normalisieren sich die Beziehungen Deutschlands zu seinen oestlichen Nachbarn Schritt fuer Schritt. Diese gegenseitige Annaeherung steht allerdings unter dem Vorzeichen der Erinnerung an den von Deutschland verursachten Krieg und seine Auswirkungen und Folgen. Einem Teil dieser Folgen widmet Alfred-Maurice de Zaya sein Buch A Terrible Revenge. Der Autor schildert das Schicksal der Fluechtlinge und Vertriebenen aus den ehemals deutschen Ostgebieten (Schlesien, Ostpreussen, Vorpommern und Ostbrandenburg) sowie der deutschen Minderheiten in den ostmittel- und osteuropaeischen Laendern (Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, Rumaenien und der UdSSR). Das Buch ist die ueberarbeitete und erweiterte englische Uebersetzung der 1986 erschienenen deutschen Fassung mit dem lakonischen Titel Anmerkungen zur Vertreibung der Deutschen aus dem Osten (1), das in der Bundesrepublik bislang drei Auflagen erlebte.
Der Autor ist amerikanischer Staatsbuerger und ausgebildeter Jurist, der in New York als Rechtsanwalt arbeitete, bevor er sich nach einem einjaehrigen Aufenthalt an der Universitaet Tuebingen entschloss, seine Anwaltskarriere zu unterbrechen, um an der Historischen Fakultaet der Universitaet Goettingen eine Dissertation zum Vertriebenenproblem zu schreiben, womit er offenbar sein Lebensthema fand. Er wurde 1977 mit der Arbeit Nemesis at Potsdam. The Anglo-Americans and the Expulsion of the Germans. Background, Execution, Consequences (2) promoviert, die 1980 auf Deutsch erschien und -- ungewoehnlich fuer historische oder sozialwissenschaftliche Dissertationen, wenn man einmal vom Goldhagen Phaenomen absieht -- sich in Deutschland zu einem Bestseller entwickelte, der bereits acht Auflagen, die letzte 1996, erlebte. Als Kenner der Materie beriet der Autor sowohl den Bayrischen Rundfunk als auch den Suedwestfunk fuer seine Dokumentationen zum Thema Flucht und Vertreibung und arbeitete am Bildband Flucht und Vertreibung mit (3). Seine Buecher brachten ihm Unterstuetzung und wohlwollende Vorworte bundesdeutscher konservativer Politiker ein, er geriet allerdings mit seinen Arbeiten auch in die Gefechtslinien der Auseinandersetzungen um die Ostpolitik Willy Brandts und Walter Scheels, in der Vertriebene und ihre Fuersprecher als Gegner dieser politischen Verhandlungen Verrat deutscher Interessen witterten, die Befuerworter jedoch einen notwendigen Schritt zur Normalisierung des Verhaeltnisses zwischen der Bundesrepublik Deutschland und ihren oestlichen Nachbarn sahen.
Dass sieben Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und sechs Jahre nach der deutsch-deutschen Vereinigung die Interpretation von Flucht und Vertreibung deutscher Bevoelkerung in der Nachkriegszeit ein bis heute sensibles und umstrittenes Thema sind, zeigte juengst erst wieder das zaehe Ringen um die deutsch-tschechische Erklaerung, die von der unterschiedlich gelagerten historischen Erinnerung beider Laender ueberschattet wurde, naemlich einer Opferperspektive auf beiden Seiten, die wenig Raum fuer die Rolle der Taeter liess.
De Zayas schreibt also zu einem Thema, das neben dem Holocaust zumindest zentral fuer das Selbstverstaendnis und die politische Identitaet der alten Bundesrepublik war und darueber hinaus ueber ein Thema, das mit dem kriegerischen Konflikt im zerfallenen Jugoslawien eine ueberaus aktuelle Brisanz gewonnen hat. Dass der Krieg auf dem Balkan, der erneut Massenvertreibungen in Europa ausloeste, Anstoss zur vorliegenden englischen Auflage des Buches gab wird schon im Untertitel (The Ethnic Cleansing ...), mehr aber noch im Text deutlich, in dem der Autor in seinem Resumee das Gedenken an die Vertreibung der deutschen Minderheit Jugoslawiens nach 1945 anmahnt, um so Lehren aus der Geschichte zu ziehen, die gegenwaertiges und zukuenftiges Leid und Unheil verhindern koennten (S. 147)
Ordnet man A Terrible Revenge in das bisherige Oeuvre des Autors ein, so ist es mehr eine Nachschrift bzw. eine populaerwissenschaftliche Abfassung seines wissenschaftlichen Werkes, insbesondere seiner Dissertation. De Zayas bietet seinen Lesern in sechs Kapiteln einen knappen Ueberblick ueber die Vorgeschichte von Flucht und Vertreibung (The Germans of East Central Europe; The Expulsion Prehistory: Interbellum Years and World War II), die politischen Hintergruende (War and Flight), ihren Verlauf (Allied Decisions on Resettlement, Expulsion and Deportation), und das Schicksal der Vertriebenen nach der Vertreibung in den Aufnahmegebieten (The Expellees in Germany - Yesterday and Today). Die deutsche Ostkolonisation des hohen Mittelalters als auch die Peuplierungspolitik im 18. Jahrhundert, die u.a. von deutschsprachigen Kolonisten getragen wurde, werden knapp und praezise dargestellt, um zu verdeutlichen, wie die urspruengliche ethnische Heterogenitaet Ostmittel- und Suedosteuropas zustande kam, die im 20. Jahrhundert einer zunehmenden Homogenisierung gewichen ist. Kultur- und geistesgeschichtliche Leistungen bedeutender Ostdeutscher (Ostdeutschland hier im historischen Sinne) werden herausgehoben, um den Verlust deutlich zu machen, den Flucht und Vertreibung bewirkten (sieht man einmal von dem Lapsus ab, dass der Geburtsort Caspar David Friedrichs, Greifswald in Vorpommern, faelschlicherweise den ehemals deutschen Ostgebieten zugeschlagen wird, tatsaechlich aber auch heute noch ein Teil des vereinigten Deutschlands ist).
Die Entwicklungen der Zwischenkriegszeit und der Zeit des Zweiten Weltkrieges, die der Autor als Vorgeschichte der Vertreibung deutet, werden in erster Linie unter den Auswirkungen des Versailler Vertrags und der Nichtbeachtung des Selbstbestimmungsrechts der Voelker geschildert. Dieses Selbstbestimmungsrecht sei nach 1918 grob fahrlaessig verletzt worden, indem es Deutschland und insbesondere den Deutschen in Oberschlesien und im Sudetenland, die wider Willen in Polen bzw. der Tschechoslowakei leben mussten, vorenthalten worden sei. Eine Interpretation, die sich sehr stark an die zeitgenoessischen politischen Debatten der Weimarer Republik anlehnt, aber neuere und nicht mehr ganz so neue sozialgeschichtliche Deutungen, die die Kontinuitaeten spezifisch deutscher Entwicklungen aus dem 19. Jahrhundert heraus betonen (Sonderweg) oder aber das spannungsreiche Wechselverhaeltnis von Staatsnation, ethnischer Minderheit und "Mutterland," wie es z.B. Rogers Brubaker (4) analysiert, aussen vor laesst. In diesem Blick werden die Deutschen, insbesondere die jenseits des Staatsterritoriums dann allein zu Opfern einer verfehlten internationalen Politik erklaert ("The first victims of the war were the Volksdeutsche, ethnic German civilians, resident in and citizens of Poland", S. 21). Die politische Mobilisierung und Radikalisierung der deutschen Minderheiten in Ostmitteleuropa und die daraus resultierenden Konflikte lassen sich jedoch ohne das politische Einwirken von deutscher Seite und die Nationalisierung der deutschen Minderheiten nicht erklaeren. Auch ist die Aussage, dass die Radikalisierung unter nationalistischen Vorzeichen in Ostmittel- und Mitteleuropa in der Zwischenkriegszeit allgegenwaertig war, nur ein schwaches Argument, um den deutschen Anteil an der Vorgeschichte der Vertreibung zu verkleinern.
Gerade das vom Autor gewaehlte Beispiel der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit greift zu kurz, da -- die ethnopolitisch aufgeheizte Atmosphaere dieser Zeit in Rechnung gestellt -- das Land es noch vergleichsweise gut verstand, bei der Etablierung des neuen Nationalstaats nationale Leidenschaften, die zu ethnischen Auseinandersetzungen fuehrten, demokratisch zu zuegeln, so lange der aussenpolitische Druck dieses zuliess.
Folgt man de Zayas Interpretation, sind alle Katzen des Nationalismus nachts auf einmal grau, die des deutschen allerdings noch ein wenig grauer. Ohne die Auswirkungen des Versailler Vertrags fuer die politische Oeffentlichkeit der Weimarer Republik und des "Dritten Reichs" unterschaetzen zu wollen, ist eine Reduktion der komplexen sozialen und politischen Probleme hierauf doch zu einseitig. Das Argument hat in etwa die Ueberzeugungskraft wie die Interpretation des Autors, dass das Attentat auf den oesterreichischen Thronfolger im Juni 1914 in Sarajewo den casus belli dargestellt habe (S. 14). Vierzig Jahre nach der Fischerkontroverse ueber die Ursachen des Ersten Weltkriegs und drei Jahrzehnte nach dem Siegeszug der Sozialgeschichte ist es fuer Historiker nicht mehr legitim, so stark zu vereinfachen bzw. einem Einzelereignis solch herausgehobene Bedeutung beizumessen.
Bevor der Autor die Vertreibungen und ihre Begleitumstaende selbst schildert, deutet er die aussenpolitischen Zusammenhaenge der unmittelbaren Nachkriegszeit, in die die Vertreibungen nach seiner Ansicht einzuordnen seien. Zentral sei das Versagen der Westalliierten Grossbritannien und USA gewesen, die sowjetischen Expansionsbestrebungen auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam nicht nachhaltig Einhalt geboten haetten und so die politische und moralische Verantwortung fuer die voelkerrechtswidrigen Vertreibungen truegen. Eine These, auf der auch schon die Dissertation des Autors beruhte. Immerhin wird zuvor auf immerhin anderthalb Seiten (27-29) erwaehnt, dass es eine revisionistische, expansionistische und letztlich moerderische Aussenpolitik von Seiten Nazi-Deutschlands gegeben hatte, die von 1938 bis 1945 andauerte und die zur Vorbedingung der Vertreibungen wurde, ohne die dieses Unrecht nicht zu erklaeren ist. Allerdings bleibt dieser kausale Zusammenhang, ohne den die Vertreibungen der Jahre 1945 bis 1947 nicht zu verstehen sind, deutlich unterbelichtet, was den analytischen Wert des Buches stark mindert und den Verdacht entstehen laesst, dass es sich um ein geschichtsrevisionistisches Werk handelt, das einen nur eindimensionalen Blickwinkel hat.
Die Schrecken der Vertreibungen mit all ihren grausamen Begleiterscheinungen wie Vergewaltigungen, Pluenderungen, Mord und Lagerhaft werden im Detail durch eine ueber Seiten reichende Aneinanderreihung von Augenzeugenberichten und reichhaltige Bebilderung durch Fotos veranschaulicht, ohne dem Leser dabei etwas von den Grausamkeiten der Ereignisse zu ersparen. Die Darstellung dieser Ereignisse basiert auf Dokumenten im Bundesarchiv in Koblenz bzw. in Freiburg (zu denen der Verfasser offensichtlich teilweise erst durch die Intervention des damaligen Bundesministers fuer innerdeutsche Beziehungen Heinrich Windelen Zugang erhielt) und auf Zeitzeugeninterviews, die der Verfasser Anfang der 90er Jahre selbst durchgefuehrt hat, u.a. mit Vertriebenen, die nach der Vertreibung in die USA auswanderten und dort eine neue Heimat fanden. In dieser alltagsgeschichtlichen Wendung der Arbeit liegt eine Staerke, aber zugleich auch eine der Schwaechen des Buches.
So waren die Uebergriffe der Soldaten der Roten Armee gegenueber der deutschen Zivilbevoelkerung, insbesondere die Vergewaltigung von Frauen ein in der west- und ostdeutschen Historiographie unterbelichtetes oder gar verschwiegenes Thema, das erst in den letzten Jahren durch juengere Historikerinnen an die Oeffentlichkeit gebracht wurde (aehnlich wie die Verbrechen der deutschen Wehrmacht gegenueber der Zivilbevoelkerung an der Ostfront). De Zayas vertut leider die Chance diese zum Teil bewegenden und beindruckenden Dokumente bzw. Interviews mit Aussagen von z.B. tschechischer, polnischer oder russischer Seite zu kontrastieren, um so das Spannungsgeflecht aufzuzeigen, in dem sich die Vertreibung der Deutschen ereignete und zu erklaeren, dass sich damit durchaus auch historiographische Debatten verbergen, die schon bei der Wortwahl fuer die Ereignisse (Umsiedlung, Bevoelkerungstransfer, Zwangsmigration, Vertreibung) anfangen und bis heute in den politischen Alltag ausstrahlen. Ausserdem kommt sowohl die Quellenkritik der zum Teil mit fast 50jaehrigem Abstand erhobenen Interviews als auch die Einordnung dieser indiviuellen Zeugnisse in ueberindividuelle Zusammenhaenge sehr kurz.
Anerkennung verdient, dass der Autor auf die Unterschiede zwischen deutschen Staatsbuergern des ehemaligen Deutschen Reichs und den deutschen Minderheiten in Ostmitteleuropa bzw. Osteuropa eingeht, also jener Bevoelkerung die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erst als "Auslandsdeutsche" und sodann als "Volksdeutsche" in den Blick des nationalisierenden deutschen Nationalstaats geriet, auf den sie sich insbesondere seit dem Untergang der Donaumonarchie politisch und kulturell mehr und mehr ausrichtete. Insbesondere am Beispiel der Sudentendeutschen (S. 85-94) und der Banater Schwaben (S. 5-6, und S. 95- 110) zeigt der Autor die besondere Problemlage dieser Minderheiten auf, die ueber Jahrhunderte zur ethnischen Pluralitaet Ostmittel- und Suedosteuropas beigetragen und ihre deutlichen Spuren hinterlassen hatten. Wuenschenswert waere allerdings gewesen, aufzuzeigen, dass gerade die deutschen Minderheiten in den ehemals habsburgischen Landen eine durchaus unterschiedliche Behandlung im Verlauf der Vertreibungen der Nachkriegszeit erfuhren. Waehrend sich Jugoslawien mit aller Rigiditaet und Brutalitaet seiner deutschen Minderheiten nahezu komplett entledigte, vertrieb Ungarn nur die nicht magyarisierten Deutschen, waehrend Rumaenien auf eine planmaessige Vertreibung der Siebenbuerger Sachsen und Banater Schwaben verzichtete, allerdings einen Teil der arbeitsfaehigen deutschen Bevoelkerung der Sowjetunion zu Zwangsarbeiten ueberliess, einen anderen Teil zu internen displaced persons machte. Haette der Autor hier differenziert, waere eine elegante Ueberleitung zum seit Ende der 70er Jahre aktuellen Thema der Zuwanderung von Aussiedlern (ethnic German immigrants) in die Bundesrepublik gelungen. Zwar spricht der Verfasser kurz die Tatsache an (S. 143-44), dass es seit 1950 eine Zuwanderung von ueber zwei Millionen Aussiedlern in die Bundesrepublik gegeben hat (S. 144; tatsaechlich waren es bis einschliesslich 1993 sogar drei Millionen), die er als delayed expellees bezeichnet (eine Bezeichnung ueber die sich streiten liesse), doch wird dem Leser nicht klar, wie es einem Teil der deutschen Minderheiten gelang, trotz Flucht und Vertreibung in ihren Siedlungsgebieten zu verbleiben, um hernach zu Aussiedlern zu werden.
De Zayas hat den Anspruch, mit seinen Publikationen eine Forschungsluecke, insbesondere fuer den englischsprachigen Raum zu schliessen, die, so der Autor, durch Desinteresse oder gar bewusstes Verschweigen der Wahrheit bzw. politische Interessen entstanden sei (S. 33). Dieser Anspruch haelt einer kritischen Pruefung kaum stand. Die wissenschaftlichen und ausserwissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Flucht und Vertreibung sind mittlerweile Legion, fuellen ganze Bibliotheken und dicke Bibliographien. Verwiesen sei z.B. auf die von Gertrud Krallert-Sattler herausgegebene fast 1000seitige kommentierte Bibliographie zum Fluechtlings- und Vertriebenenproblem (5). Auch ist die wissenschaftliche Erforschung der Vertriebenenthematik in der alten Bundesrepublik bereits in den 50er Jahren mit staatlicher Unterstuetzung unter der Aegidie solch renommierter Historiker und Soziologen wie Theodor Schieder, Werner Conze oder Hans Rothfels (Vertreibung) bzw. Eugen Lemberg (Integration) etabliert worden (6). Die mehrbaendigen Ergebnisse der von Schieder bearbeiteten Forschungen sind u.a. als Documents on the Expulsion of the Germans from Eastern-Central Europe ins Englische uebersetzt worden. Das Forschungsinteresse haelt bis in die Gegenwart an wie juengere Publikationen u.a. von Bade (7), Benz (8), Frantzioch (9), Lehmann (10) oder Luettinger (11) zeigen, die allerdings hinsichtlich der erfolgreichen Integration der Vertriebenen in die bundesdeutsche Gesellschaft ein detaillierteres, differenzierteres und skeptischeres Bild zeigen als de Zayas, der seinen Lesern die gerade von Luettinger relativierte These der erfolgreichen Integration der ersten Generation von Vertriebenen anbietet.
Dass die beiden abgedruckten Interviews mit Kindern von Vertriebenen (S. 140-142) alles andere als repraesentativ fuer diese Generation sind, erwaehnt de Zayas nicht. Der Drang der heutigen jungen Deutschen nach Osten und der Bezug zur verlorenen Heimat der Eltern oder Grosseltern ist in der Regel weitaus weniger ausgepraegt als die Interviews glauben machen wollen. Eine Identitaet sozusagen von Vertriebenen zweiter oder dritter Generation ist doch eher die Ausnahme als die Regel im heutigen Deutschland. Dieses Konstrukt ist aber wohl noetig, um die politischen Aussichten, die der Autor im Epilog seiner Arbeit skizziert, schluessig erscheinen zu lassen. Er haelt friedliche territoriale Veraenderungen zugunsten Deutschlands und auf Kosten Polens bzw. Russlands durchaus fuer moeglich (und auch wuenschenswert), sofern Polen bzw. Russland dafuer oekonomisch kompensiert werden. Der Rezensent kann dazu die ironische Bemerkung nicht unterdruecken, dass zur Besiedlung der dann hinzu- bzw. wiedergewonnenen Territorien wohl eine zweite Zwangsmigration noetig waere, um Teile der bundesdeutschen Bevoelkerung dazu zu bewegen, die gewohnten sozialen und wirtschaftlichen Sicherheiten gegen eine neokoloniale Existenz in Pommern oder Ostpreussen einzutauschen. Schon die deutsch-deutsche Vereinigung des Jahres 1990 zeigte, dass das Migrationspotential sich in Ost-West-Richtung und nicht umgekehrt realisierte.
Zusammenfassend laesst sich sagen, dass das Buch zwar ueber die Betroffenenschilderungen landsmannschaftlicher Darstellungen hinausgeht, allerdings ist der Grundtenor des Buches aehnlich revisionistisch gestimmt wie bei Publikationen dieser Interessenvertreter. Es bringt seine Schwierigkeiten mit sich, wenn die Geschichte von Flucht und Vertreibung aus ihrem zeitgeschichtlichen Kontext, ihrer Vorgeschichte und ihrem Ursachengeflecht herausgeloest wird und dabei die Opferperspektive im Vordergrund steht. Dies mag einer legitimatorischen oder apologetischen ausserwissenschaftlichen Geschichtsschreibung zugestanden werden, ist aber gemessen am Standard der etablierten Profession nicht vertretbar.
Der Erfolg der Buecher von de Zayas in Deutschland bedarf allerdings der Erklaerung. Er ist u.a. darauf zurueckzufuehren, dass der Autor ausspricht, was einem Teil der (west)deutschen Oeffentlichkeit in den Nachkriegsjahrzehnten zum (stillschweigenden) Grundkonsens wurde: naemlich, dass auch oder vielleicht sogar insbesondere die Deutschen zu Opfern des Nationalsozialismus geworden seien. Sei es als Fluechtlinge oder Vertriebene, sei es als Kriegsheimkehrer aus der deutschen Wehrmacht, sei es als Zivilist bombardierter und zerstoerter Staedte. Der Autor bedient damit ein Legitimationsbeduerfnis nach einer anderen, teilnehmenden, identifikationsstiftenden und nicht rein analytischen Historiographie. Statt der Bereitschaft, den analytischen, gewiss auch kalt-sezierenden Blick der Sozialwissenschaften zu wagen, wird vom Leser Empathie eingefordert. De Zayas stellt sich damit in das Lager der Geschichtsrevisonisten, die 1986 den Anlass fuer den bundesdeutschen Historikerstreit lieferten. Die zentrale Bedeutung, die einer der Protagonisten dieses Streits, der verstorbene Andreas Hillgruber, den Soldaten/Opfern der Ostfront als identifikatorisches Moment fuer die Deutschen beimass, liegt auf der gleichen Linie wie de Zayas Darstellung. Es ueberrascht daher nicht, dass de Zayas 1987 in der zweiten Auflage der deutschen Version des rezensierten Buches anerkennende Worte fuer die revisionistischen Wortfuehrer des Historikerstreits fand. Wenn diese Geschichtsschreibung aus der Perspektive der Opfer von der Mehrzahl der serioesen Historiker auch abgelehnt wird, so bleibt sie doch als soziales Phaenomen erklaerungsbeduerftig. Hier treffen sich wiederum Goldhagen und de Zayas, so unterschiedlich ihr Thema, so diametral entgegengesetzt ihre Sicht auf deutsche Taeter und Opfer auch sein mag. Beide naemlich operieren bewusst mit einer akzentuierten Taeter-Opfer-Dichotomie, die das Leid der Opfer bzw. die Grausamkeit der Taeter zum zentralen Moment der Narration erhebt. Mag dies auch eine ergreifende Form historischer Praesentation sein, so ist doch Skepsis angebracht, ob sie die Komplexitaet und Widerspruechlichekit historischer Entwicklungen und Erfahrungen zu erfassen vermag.
Anmerkungen:
1. Alfred-Maurice de Zayas, "Anmerkungen zur Vertreibung der Deutschen aus dem Osten" (Stuttgart: Kohlhammer, 1993).
2. Alfred-Maurice de Zayas, "Nemesis at Potsdam: The Anglo-Americans and the Expulsion of the Germans. Background, Execution, Consequences" (London: Routledge, 1977); German: "Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen. (Muenchen: Beck, 1977).
3. Frank Grube und Gerhard Richter, Eds., "Flucht und Vertreibung: Deutschland zwischen 1944 und 1947" (Hamburg: Hoffmann und Campe, 1980).
4. Rogers Brubaker, "National Minorities. Nationalizing States, and External Homelands in the New Europe," in Daedalus no. 124 (Spring 1995), pp. 107-32; jetzt auch in ueberarbeiteter und erweiterter Form als Bestandteil von "Nationalism Reframed. Nationhood and the National Question in the New Europe" (Cambridge/UK: Cambridge University Press, 1996).
5. Gertrud Krallert-Sattler, "Kommentierte Bibliographie zum Fluechtlings- und Vertriebenenproblem in der Bundesrepublik Deutschland, in Oesterreich und in der Schweiz" (Wien: Braumueller, 1989).
6. Bundesministerium fuer Vertriebene, Fluechtlinge und Kriegsgeschaedigte, Ed., Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa bearbeitet von Theodor Schieder 5 vols (Berlin: Bernard & Graefe, 1953- 1961) und Eugen Lemberg et. al., Eds.,: Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluss auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben. 3 vols. (Kiel: Ferdinand Hirtl, 1959).
7. Klaus J. Bade, Ed., "Neue Heimat im Westen: Vertriebene - Fluechtlinge -Aussiedler" (Muenster: Westfaelischer Heimatbund, 1990).
8. Wolfgang Benz, Ed., "Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten: Ursachen, Ereignisse, Folgen" (Frankfurt: Fischer, 1995).
9. Marion Frantzioch, "Die Vertriebenen: Hemmnisse, Antriebskraefte und Wege ihrer Integration in die Bundesrepublik Deutschland" (Berlin: Reimer, 1987).
10. Albrecht Lehmann, "Im Fremden ungewollt zuhaus: Fluechtlinge und Vertriebene in Westdeutschland 1945-1990" (Muenchen: Beck, 1991).
11. Paul Luettinger, "Integration der Vertriebenen: Eine empirische Analyse" (Frankfurt: Campus, 1989).