G. Camfield: Among Russian Sects and Revolutionists

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Title
Among Russian Sects and Revolutionists. The Extraordinary Life of Prince D. A. Khilkov


Author(s)
Camfield, Graham
Published
Extent
VII, 290 S.
Price
€ 57,80
Reviewed for H-Soz-Kult by
Alexa von Winning, Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

Graham Camfield, langjähriger Mitarbeiter der Bibliothek der London School of Economics and Political Science, möchte mit seiner Biografie des Adligen Dmitrij Aleksandrowitsch Chilkow (1857–1914) das „außergewöhnliche Leben“ dieses russischen Fürsten „aus den Fußnoten der Geschichte auf einen gerechtfertigten eigenen Platz“ heben und einer neuen Leserschaft nahe bringen (S. 275). Außergewöhnlich scheint dem Autor das Leben des Protagonisten vor allem aufgrund seiner intellektuellen und spirituellen Transformationen. Chilkow wurde im Laufe seines Erwachsenenlebens vom Pazifisten zum Unterstützer des revolutionären Terrors, vom abtrünnigen Tolstojaner zum loyalen Anhänger der Russisch-Orthodoxen Kirche. Es gelingt Camfield, diese Konversionen lebendig nachzuzeichnen. Vor allem die Interaktionen Chilkows mit seinem intellektuellen Umfeld werden gut deutlich. Allerdings leidet das Buch an zwei Schwächen, die seine Aussagekraft über das Individuum Chilkow hinaus in Frage stellen. Zum einen bleibt die Bedeutung Chilkows in seiner Zeit ungeklärt: War der Adlige mit seiner lebhaften intellektuellen Entwicklung wirklich so außergewöhnlich? Zum anderen stützt sich das Buch vor allem auf publizierte zeitgenössische Quellen. Archivquellen und wissenschaftliche Sekundärliteratur kommen zu kurz, was Einseitigkeiten mit sich bringt.

In fünfzehn kurzen und durchweg angenehm lesbaren Kapiteln erzählt Camfield das Leben Chilkows in chronologischer Ordnung. Über die Kindheit des Protagonisten ist Camfield wenig bekannt; das Bild wird erst mit seiner Teilnahme am russisch-türkischen Krieg 1877–1878 schärfer. Chilkow war im Kaukasus stationiert und kam dort erstmals mit den Duchoborzen, einer pazifistischen Abspaltung von der Orthodoxie, in Kontakt. Nach der Rückkehr auf das Familiengut Pawlowki im Gouvernement Charkow verkaufte Chilkow große Teile seines Landbesitzes zu einem niedrigen Preis an die Bauern, die es zuvor gepachtet hatten. Dieser Schritt, seine Unterstützung für sektiererische Gruppen unter den Bauern der Gegend, sowie seine engen Kontakte mit Anhängern Tolstojs und schließlich mit Tolstoj selbst brachten Chilkow in den Fokus der kirchlichen Obrigkeit. Er verbrachte sechs Jahre im Exil im Kaukasus und in Estland, bevor er Russland 1898 schließlich ganz verlassen musste und nach England reiste. Zunächst half er bei der Umsiedlung der Duchoborzen nach Kanada; bis zur Revolution von 1905 lebte er mit seiner Familie unter russischen Emigranten in der Schweiz. 1905 zog Chilkow zurück auf das Gut Pawlowki, bis der Ausbruch des 1. Weltkriegs ihn dazu bewog, erneut in die Armee einzutreten. Er starb im Oktober 1914 an der galizischen Front.

Der Fokus Camfields liegt auf den intellektuellen Interessen und moralischen Überzeugungen Chilkows, die um Fragen von Gewalt und Gewaltlosigkeit sowie um sein Verhältnis zur Russisch-Orthodoxen Kirche und ihrem Anspruch auf christliche Wahrheit kreisten. Besonders hervorgehoben wird Chilkows Beziehung zu Tolstoj und dessen Ideen, sowie seine lebenslange Sympathie für verschiedene Sektierergruppen. Chilkow und Tolstoj verband zunächst eine enge Freundschaft und ideelle Einigkeit, die Camfield anhand von Briefen überzeugend herausarbeitet. Über Tolstojs unbedingtes Beharren auf Gewaltlosigkeit und Passivität kam es in den 1890er-Jahren zum Bruch, da Chilkow staatliche und kirchliche Angriffe auf Sektierergruppen nicht akzeptieren wollte, sondern gewaltsamen Widerstand befürwortete. In den Schweizer Jahren Chilkows änderte sich seine Perspektive auf die religiösen Sektierer. Er begann, in ihnen potentielle Agenten des sozialen Wandels in Russland zu sehen. Dieser Perspektivwechsel spiegelt Chilkows Annäherung an sozialrevolutionäre und sozialdemokratische Emigrantengruppen; er wurde in Genf kurzzeitig Mitglied der Sozialrevolutionäre und vertrat die Ansicht, dass terroristische Gewalt auf dem Land im Kampf gegen die russische Autokratie unvermeidlich sei. Nach seiner Rückkehr auf das Gut Pawlowki wurde Chilkow durch den Kontakt mit einem lokalen Priester erneut zum loyalen Anhänger der Russisch-Orthodoxen Kirche.

Leider gelingt es Camfield nicht ausreichend, dieses reiche und widersprüchliche Leben für die allgemeine Forschung fruchtbar zu machen. Es bleibt unbefriedigend, wie Camfield seinen Protagonisten in den Kontext einordnet. Auf der einen Seite stehen Beschreibungen Chilkows als „außergewöhnlich“ und als „bemerkenswerte Persönlichkeit“ (S. 3). Zugleich liest er den adligen Fürsten als Kind seiner Zeit, der die wichtigsten Strömungen einer „turbulenten Periode im religiösen und politischen Leben“ in Russland – nämlich orthodoxer Glaube, Tolstojs Ideen, Sektierertum und Revolution – durchlebte und in ihrem Namen handelte (S. 2). Chilkows Leben könne zentrale Aspekte dieser turbulenten Zeit „illustrieren und aufdecken“ (S. 2), so Camfield. Das ist zutreffend; leider bleibt diese Wechselwirkung zwischen Individuum und Zeit in dem Buch aber bei der Illustration und Bestätigung von Bekanntem stehen. Dabei enthält die Lebensgeschichte Chilkows – zusätzlich zu den geistigen Volten – durchaus Ansatzpunkte für weitergehende Fragen. So hätte man beispielsweise gerne mehr über das Landgut Pawlowki und seine Rolle als wiederkehrender Schauplatz der ideologischen Ambitionen in der Familie Chilkow erfahren.

Dass eine tiefergehende Analyse ausbleibt, liegt auch an dem Material, das Camfield heranzieht. Das Buch stützt sich in erster Linie auf eine beeindruckende Dichte an publizierten Quellen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem frühen 20. Jahrhundert. Hier kommt Camfields Tätigkeit als Bibliothekar voll zum Tragen, und das Buch profitiert davon: Die Interaktionen Chilkows mit seinen intellektuellen Weggefährten und seine Wirkung auf sie – darunter nicht nur Tolstoj, sondern auch Figuren wie W.D. Bontsch-Brujewitsch oder M.A. Nowoselow – werden materialreich porträtiert. Camfield gibt einen fundierten Einblick in die Medien, in denen religiöse wie säkulare Akteure ihre Ansichten debattierten. Allerdings fehlt das Gegengewicht in Form von Archivquellen und einer gründlichen Einbeziehung von wissenschaftlicher Forschungsliteratur. Zuweilen folgt Camfield den Interpretationen der historischen Akteure zu sehr. Das Argument, dass die Repressionen der staatlichen und kirchlichen Autoritäten die Sektierer nur interessanter gemacht hätten, trifft man zum Beispiel zunächst als Beobachtung Chilkows (S. 124), bevor es wenige Seiten später als Aussage des Autors selbst wieder auftaucht (S. 128). Auch finden sich retrospektive Selbststilisierungen Chilkows, die der Autor seinen „Notizen“ (Zapiski) entnimmt, unhinterfragt im Text (vor allem in den Kapiteln 1 und 15). Die große Nähe zwischen den publizierten Quellen und Camfields Buch zeigt sich schließlich in impliziten Gewichtungen, wenn beispielsweise die intellektuelle Auseinandersetzung als eine ausschließlich männliche Sphäre behandelt wird und Chilkows Frau vor allem dann eine Rolle spielt, wenn sie nach ihren von staatlichen Behörden entrissenen Kindern sucht.

So bleibt nach der Lektüre ein zwiespältiger Eindruck. Seinem Anspruch, das Leben des Fürsten ansprechend zu erzählen, wird Camfield gerecht. Eine wissenschaftliche Biografie ist das Buch jedoch nicht. Leser/innen, die sich mit den Themen des Buches beschäftigen, bietet es dennoch einen Mehrwert – dank seiner reichhaltigen Verweise auf zeitgenössische Publizistik und als Einführung in das Leben eines Mannes, dessen Potential in biografischer Hinsicht noch nicht ausgeschöpft ist.

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