Im Rahmen der Notstandsgesetze wurde 1968 das Widerstandsrecht eingeführt – damit wurde „die Legalisierung von Rechtsbrüchen in extremen Situationen“ (S. 1) Bestandteil des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 4 GG). Doch zu einer Debatte über dieses Recht kam es in Westdeutschland nicht erst in der Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze. Bereits seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde „die Frage nach dem Verhältnis von Loyalität und Rebellion“ (S. 1) in verschiedensten Zusammenhängen immer wieder von Politikern, Juristen und Journalisten diskutiert.
Solchen Diskussionen nimmt sich David Johst in seinem Buch an, das als Dissertation an der Universität Halle-Wittenberg entstanden ist. In den Mittelpunkt stellt er die gesellschaftliche Debatte um die Grenzen des Rechtsgehorsams. Führte diese Debatte zu einer veränderten Wahrnehmung von Widerstand und Gehorsam? Kam es gar zu einer neuen gesellschaftlichen Bewertung von Widerstand gegen den Staat? Der forschungsleitenden Hypothese folgend, die Widerstandsfrage sei „nach 1945 nicht mehr allein als Bedrohung der staatlichen Ordnung und Gefährdung des Rechtsfriedens, sondern auch als politische Chance und staatsbürgerliche Tugend bewertet“ worden (S. 3), begrenzt Johst seine Untersuchung nicht auf den juristischen Diskurs, sondern bezieht moralische und politische Argumentationen ein. Er legt die erste zeithistorische Monographie zu diesem Thema vor.
Beim Abstecken politischer und rechtlicher Rahmenbedingungen, die er für die Debatte als strukturierend erachtet, schenkt Johst besonders der vergangenheitspolitischen Dimension Beachtung, da er im Umgang von Justiz, Politik und Presse mit der NS-Zeit ein zentrales Motiv für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Widerstand und Widerstandsrecht ausmacht.1 Nach dem Nationalsozialismus ließ sich diese Frage „nicht mehr ohne Weiteres mit dem Hinweis auf die Staatsräson oder die Garantien des Rechtsstaates beantworten“ (S. 7). Trotz der hohen personellen Kontinuität zur NS-Justiz sei es unter belasteten Juristen während der 1950er-Jahre zu einer „Distanzierung vom Nationalsozialismus“ (S. 31) gekommen. Erstens setzte dies eine „Bereitschaft zum Vergeben und Vergessen“ (S. 31) auf der anderen Seite voraus, zweitens bezogen sich die Juristen nun vor allem auf die Weimarer Zeit. Um sich in einer rechtsstaatlichen Traditionslinie zu verorten, versuchten sie sich und das Recht in einen entpolitisierten Kontext zu stellen und den Staat, in dem zwölf Jahre lang „Unrecht“ geschehen konnte, vom Weimarer „Rechtsstaat“ abzugrenzen.
Der Hauptteil des Buches ist nicht chronologisch aufgebaut, sondern systematisch nach „Themen der Debatte“ gegliedert. In der Gegenüberstellung von „Rechts- und Unrechtsstaat“ macht Johst einen zentralen Punkt der Unterscheidung von „rechtmäßigem und unrechtmäßigem Widerstand“ aus (S. 208). Die Frage nach der Legalität des Widerstands stand beim „Schlüsselereignis der Debatte“ (S. 71) im Fokus, nämlich 1952 im Prozess gegen Otto Ernst Remer. Der frühere Generalmajor war vor dem Braunschweiger Oberlandesgericht angeklagt, weil er die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 im Jahr 1951 öffentlich als Landesverräter bezeichnet hatte. Fritz Bauer, damals Generalstaatsanwalt in Braunschweig, hob in seinem Plädoyer auf das „unrechtmäßige“ Zustandekommen des „Dritten Reichs“ und die Menschenrechtsverletzungen während der NS-Zeit ab. Der Widerstand des 20. Juli sollte besonders unter strafrechtlichen Gesichtspunkten als legale Handlung eingestuft und der NS-Staat als „Unrechtsstaat“ beurteilt werden. Das Gericht übernahm beträchtliche Teile von Bauers Argumentation in sein Urteil und trug damit zu einer Rehabilitation des Widerstands bei.
Diese Tendenz war jedoch nicht eindeutig. „Zum einen bot der Widerstand die Möglichkeit, an eine vermeintlich unbelastete deutsche Tradition anzuknüpfen, zum anderen wirkte die moralische Anerkennung des 20. Juli auf viele Menschen provozierend.“ (S. 65f.) Johst kommt zu dem einleuchtenden Schluss, dass dieser „Doppelcharakter“ (S. 65), welcher der Widerstandsrezeption innegewohnt habe, die Debatte um den Widerstand fortlaufend dynamisiert und letztlich zu seiner moralischen und rechtlichen Anerkennung geführt habe.
Zunächst wurde hauptsächlich der bürgerlich-militärische Widerstand diskutiert und auf das Handeln einer als heldenhaft charakterisierten Elite reduziert. Andere Gruppen und Einzelpersonen rückten erst in das Blickfeld, als über das Bundesentschädigungsgesetz verhandelt wurde. Johst hebt hervor, dass neben der Frage, ob Angehörigen des Widerstands überhaupt Entschädigung zustehe, auch das „Widerstandsrecht des kleinen Mannes“ (S. 87) und der „kleinen“ Frau Einzug in die Debatte erhielt. Besonders der Bundesgerichtshof (BGH) sei in der Rechtsprechung maßgeblich gewesen, da viele andere Gerichte das Gesetz, vor allem den Begriff der „politischen Überzeugung“ (S. 93), kreativ ausgelegt hatten, um Entschädigungsansprüche abzuweisen. Letztlich habe der BGH die Ausweitung des Kreises der Entschädigungsberechtigten und damit die Einstufung ihres Widerstands als legitim vollzogen, indem er „die Gegnerschaft zum Nationalsozialismus zum entscheidenden Bewertungskriterium machte“ (S. 112). Auch wenn diese Ausführungen Johsts überzeugen, wäre eine Erweiterung des Blickwinkels auf das Verhältnis zwischen Anerkennung des Widerstands und der Rechtsprechung gegenüber NS-Richtern und NS-Staatsanwälten weiterführend gewesen. In welchem Umfang waren diese noch an zuständigen Gerichten vertreten? Wurden diejenigen zur Verantwortung gezogen, die Widerstandskämpfer verurteilt hatten? Diese Frage ist fast eine rhetorische; trotzdem muss man sie hier stellen.2
In einem besonderen Spannungsverhältnis stehen Presse- und Meinungsfreiheit mit dem Staatsschutz. Anhand verschiedener Themen – darunter die Spiegel-Affäre und der Prozess gegen Erich Lüth, der zum Boykott eines Veit-Harlan-Films aufgerufen hatte – vollzieht Johst zwei Deutungsweisen dieses Verhältnisses nach. Die Idee eines autoritären Legalismus führe zur Unterordnung von Presse- und Meinungsfreiheit unter die Anforderungen des Bestandsschutzes des Staates und seiner Institutionen, was zur Folge habe, dass sich die Kritik an diesen weitgehend einschränken lasse. Hingegen hebe das Konzept der „Staatsordnung als Wertordnung“ (S. 175) diesen Vorrang auf. Die Deutungen beruhten auf unterschiedlichen Bedrohungsszenarien. Die Befürchtung einer „kalten Revolution“, einer Unterwanderung des Staates „von unten“, die besonders für Ausbau und Legitimierung des politischen Strafrechts und die Rechtfertigung möglicher Grundrechtseinschränkungen herangezogen wurde, sei allerdings ab dem Ende der 1950er-Jahre stärker der Auffassung gewichen, dass ebenso die Gefahr eines Staatsstreiches „von oben“ bestehen könne.
Im KPD-Verbotsverfahren nahmen die Verfassungsrichter zur Möglichkeit des Widerstands in einem Rechtsstaat Stellung und „legten die Grundlage für die spätere Kodifizierung des Widerstandsrechtes“ (S. 205). Die KPD berief sich auf ein Recht zum Widerstand, da nach ihrer Ansicht die Wiederbewaffnungspolitik der Bundesregierung einen Verfassungsbruch darstellte. Die Richter urteilten 1956, dass ein Widerstandsrecht zwar anzuerkennen sei, allerdings nur im „konservativen Sinne“ (S. 208). Johst arbeitet schlüssig heraus, dass sie damit dessen Anwendung zur Wahrung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung meinten und das Recht nicht für den Versuch herhalten sollte, alternative Gesellschaftsentwürfe durchzusetzen. Nach dem Ultima-Ratio-Prinzip, so die herrschende Meinung, dürfe man sich erst auf das Widerstandsrecht berufen, wenn alle übrigen Mittel ausgeschöpft seien.
In der Debatte der 1960er-Jahre um Widerstandsrecht und Notstandsgesetze nahm die Bedrohungsvorstellung eines Staatsstreichs „von oben“ größeren Raum ein. Die Ausspielung der unterschiedlichen Bedrohungsszenarien – dem Machtmissbrauch durch den Staat einerseits, der Unterwanderung des Staates andererseits – habe dazu beigetragen, dass die Vorstellung einer „Staatsordnung als Wertordnung“ der Idee einer Staatsräson gegenübergestellt wurde. Wenn auch beide Konzepte in einem ständigen Spannungsverhältnis zueinander standen und damit die Frage nach dem Schutz der Verfassung bzw. staatlichen Ordnung fortwährend diskutiert wurde, so wurde jedoch die Staatsordnung selbst nicht in Frage gestellt, konstatiert Johst. Plausibel arbeitet er als allgemeine Tendenz der Debatte heraus, dass zwar der Raum des legalen Widerstands erweitert wurde – allerdings stets mit dem Ziel, die Staatsordnung zu schützen. Er formuliert die These, dass die Erweiterung legaler Protestmöglichkeiten dazu beigetragen habe, die politische Ordnung zu stabilisieren. Widerstand sei zwar zugelassen bzw. nachträglich anerkannt worden, aber zugleich sei der als notwendig eingestufte Rechtsgehorsam immer deutlich betont worden.
Bei Johst kommen nicht nur besonders sichtbare Akteure aus Rechtswissenschaften, Politik und Medien zu Wort, wie der – so scheint es – nimmermüde SPD-Rechtsexperte Adolf Arndt. Der Autor berücksichtigt auch die Stimmen von Außenseitern, zum Beispiel von kommunistischen Abgeordneten und Mitgliedern der KPD-nahen Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN), deren Widerstand gegen das NS-Regime häufig als illegitim angesehen wurde. Johsts Verdienst ist es nicht nur, dass er die Debatte um Widerstand und Widerstandsrecht in Westdeutschland erstmalig strukturiert und die zentralen Deutungen analysiert; eine Stärke des Buches ist auch die Einordnung der Debattenbeiträge der Akteure in die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Seinem umfassenden Vorhaben, die allgemeine gesellschaftliche Debatte in den Blick zu nehmen, wird Johst nicht immer ganz gerecht, da sein Fokus doch meist auf juristischen und parlamentarischen Auseinandersetzungen liegt. Das spiegelt sich auch in der Quellenauswahl wider – darunter vor allem Berichte und Gesetzesentwürfe aus Bundestag, Bundesrat und Rechtsausschüssen sowie Urteile von Bundesgerichten und juristische Kommentare. Demgegenüber wird die Rolle der Medien etwas vernachlässigt.
Durch den Detailreichtum der Arbeit kann die Einordnung der Debatte in den übergreifenden historischen Zusammenhang bei der Lektüre zeitweilig aus dem Blick geraten. Vor diesem Hintergrund wäre auch eine abschließende Einordnung in bzw. Abgrenzung von gängigen Narrativen wie der „Liberalisierung als Lernprozess“3 hilfreich gewesen – was somit der eigenen Interpretation überlassen bleibt. David Johst ist dennoch eine facettenreiche, differenzierte Analyse der Debatte um Widerstand und Widerstandsrecht gelungen.
Anmerkungen:
1 Vgl. vor allem Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996. Siehe auch Joachim Perels, Der Umgang mit Tätern und Widerstandskämpfern nach 1945, in: Kritische Justiz 30 (1997), S. 357–374.
2 Joachim Perels weist nach, dass u.a. der ehemalige SS-Richter Otto Thorbeck, der wegen Beihilfe zum Mord an Dietrich Bonhoeffer, Wilhelm Canaris und weiteren Widerstandskämpfern angeklagt war, 1956 vor dem Bundesgerichtshof freigesprochen wurde. 1968 wurde Hans-Joachim Rehse, ein Beisitzer Roland Freislers am Volksgerichtshof, vom Landgericht Berlin freigesprochen (nach einer Revision vor dem BGH). Vgl. Perels, Umgang, S. 370.
3 Vgl. Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration und Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002. Gegensätzlich: Stephan Alexander Glienke / Volker Paulmann / Joachim Perels (Hrsg.), Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus, Göttingen 2008.