Alex Aßmann hat eine Biografie über Klaus Mollenhauer, den wohl wichtigsten Theoretiker einer kritischen Erziehungswissenschaft in der Bundesrepublik, vorgelegt. Das Buch, zu dem Michael Winkler ein Nachwort verfasst hat, ist in sechs Kapitel gegliedert, die Mollenhauers Lebensweg chronologisch verfolgen. Die Relevanz der Arbeit ergibt sich einerseits aus der Bedeutung Mollenhauers für die kritische Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik, andererseits aus dem Einfluss der Schriften und der politischen und pädagogischen Person Mollenhauers auf die Achtundsechziger. Die Motivation für diese Biografie entsprang Aßmanns persönlichem Interesse an Mollenhauer und dieser persönliche Zugang dient ihm als Narrativ. Diese Erzählweise macht die Person Mollenhauers zwar lebendig – die vielen Tagebucheinträge und von Mollenhauer selbst festgehaltenen Erinnerungen sind wertvolle Quellen, die Aßmann gekonnt sprechen lässt –, die kritische Distanz des Biografen zu seinem Forschungsgegenstand wird dadurch aber verringert, auch wenn Aßmann Mollenhauers Äußerungen mit denen anderer Zeitgenossen abgleicht.
Aßmann möchte die Konstitution des wissenschaftlichen Subjekts Mollenhauer, dessen Diskussionspraxis und die Stellung des von ihm produzierten Wissens analysieren und führt zu diesem Zweck die Ansätze Thomas S. Kuhns und Jean Piagets ins Feld. Die Pädagogik zeichne sich durch eine die zeitgenössischen gesellschaftlichen Bedingungen reflektierende Resonanz aus, eine pädagogische Position sei nur beweiskräftig und durchsetzungsfähig, „wenn sie sich auch in der Gesellschaft realisieren lässt bzw. wenn sie ein gewisses Maß an Kommunikabilität zwischen Theorie und Praxis erfüllt“ (S. 24). Wie sich also die Pädagogik in den 1960er- und 1970er-Jahren gewandelt hat und welche Rolle Mollenhauer dabei spielte, sind die Grundfragen des Buchs. Die methodischen Zugänge Kuhns und Piagets werden im Laufe der Biografie allerdings nicht analytisch gewinnbringend angewendet, gleiches gilt für Karl Mannheims Generationentheorie, von der Aßmann hin und wieder Gebrauch macht.
Diesen methodischen Schwächen zum Trotz hat Aßmann eine ausgesprochen gut lesbare Biografie über eine zentrale Figur der kritischen Erziehungswissenschaft in der Bundesrepublik geschrieben. Er wird damit sowohl der Person Mollenhauers als auch der wichtigen Stellung der Erziehungswissenschaft für die Demokratisierung Westdeutschlands gerecht. Mollenhauer gehörte zu einem Intellektuellentypus, der die Ansätze der kritischen Theorie der „Frankfurter Schule“ produktiv aufgenommen und für die Reformierung der Erziehungswissenschaft verwendet hat. In der Vergangenheit wurde die These aufgestellt, dass sich das Label „Frankfurter Schule“ für die Intellektuellen im Umkreis des Instituts für Sozialforschung vor allem durch die pädagogische Rezeption gesellschaftskritischen Denkens etablierte.1 Aßmanns Buch ist ein wichtiger Beitrag zu diesem Thema.
Mollenhauer gehörte der sogenannten Flakhelfergeneration an. 1928 in Berlin geboren, zog er als Fünfzehnjähriger noch in den Krieg. Weitere, für die bundesrepublikanische Intellektuellenlandschaft wichtige Figuren, die dieser Generation angehören, sind Niklas Luhmann und Jürgen Habermas. Zentraler Orientierungspunkt dieser Generation war die NS-Herrschaft, einerseits im Hinblick auf ihre eigene Erfahrung in Hitlerjungend oder Wehrmacht, andererseits hinsichtlich ihrer Eltern, die den Nationalsozialismus aktiv miterlebt hatten und nach 1945 über die NS-Vergangenheit schwiegen. Mollenhauer wuchs in einer relativ gut situierten Familie auf, der Vater war Staatsangestellter in der Gefangenenfürsorge, die Mutter hatte bis zur Geburt ihres Sohnes als Jugendfürsorgerin gearbeitet. Die Eltern hatten sich im Wandervogel kennengelernt. Mollenhauers Sozialisation in diesem lebensreformerisch-jugendbewegten Umfeld war für seine spätere Denkweise und politische Haltung zentral.
1948 schrieb sich Mollenhauer an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen ein, um eine Ausbildung zum Volksschullehrer zu absolvieren. Später studierte er Erziehungswissenschaft in Hamburg, bevor er 1958 schließlich bei Erich Weniger in Göttingen promovierte. Gleichzeitig machte er erste Erfahrungen in praktischer Sozialpädagogik, indem er sich in „Heimen der offenen Tür“ engagierte. Beeinflusst von der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners markierte die Dissertation eine wichtige Differenz zwischen Mollenhauer und seinem Doktorvater; Mollenhauer setzte sich gegen die ältere, geisteswissenschaftliche Erziehungswissenschaft ab und wandte sich einer sozialwissenschaftlichen Sozialpädagogik zu. Der Einzug sozialwissenschaftlicher Ansätze in die Erziehungswissenschaft zeigte sich im Falle Mollenhauers an der Einführung des Rollenbegriffs: Die ältere Vorstellung von der Ganzheit des Individuums und der Persönlichkeit wurde zugunsten verschiedener Rollen einer Person in einzelnen Funktions- und Teilbereichen der Gesellschaft aufgelöst.
Ab 1962 arbeitete Mollenhauer als Dozent an der Freien Universität Berlin, 1964 wird er auf einen Lehrstuhl an der Berliner Pädagogischen Hochschule berufen. Mollenhauer hatte ab Mitte der 1960er-Jahre Teil an der besonders in Westberlin vehement geführten Debatte um die „deutsche Bildungskatastrophe“ (Georg Picht), in deren Verlauf die Forderung nach einer Demokratisierung des Bildungssystems laut wurde. Für die Studentenbewegung, die sich in den späten 1960er-Jahren formierte, war Mollenhauer kein Feindbild: „Im Gegenteil nahm er deren Positionen schon um ein paar Jahre vorweg.“ (S. 144) Hierfür waren Mollenhauers herrschaftskritische Ansichten ausschlaggebend. 1966 verließ Mollenhauer Berlin und trat eine Professur in Kiel an. 1968 trat er an der Protestveranstaltung am Kieler Rathausplatz auf, die aufgrund der Verabschiedung der Notstandsgesetze im Deutschen Bundestag von studentischen Gruppen abgehalten wurde. Im selben Jahr erschien Mollenhauers für die westdeutsche Erziehungswissenschaft und darüber hinaus zentrales Buch „Erziehung und Emanzipation: polemische Skizzen“.2 Ähnlich wie die Arbeiten Jürgen Habermas‘ stellte dieses Buch den Rationalitätsbegriff ins Zentrum, der als Voraussetzung für die Emanzipation des Individuums von gesellschaftlichen Zwängen diente. Mollenhauer begründete damit nicht nur die geisteswissenschaftliche Pädagogik neu, sondern unterzog sie auch einer Ideologiekritik. Den Erfolg des Buchs erklärt Aßmann damit, dass Mollenhauer, im Gegensatz zu Adorno und Habermas, einen handlungsorientierten Praxisbegriff vertrat, was seine Beliebtheit unter den aktivistischen linken Studenten erhöhte, während diejenige für die Vertreter der Kritischen Theorie sank.
Begriffe wie ‚Rationalität‘, ‚Vernunft‘, ‚Diskurs‘ hätten von Aßmann allerdings kritischer hinterfragt werden können. Jüngere wissenschafts- und intellektuellenhistorische Arbeiten über die Denksysteme des Kalten Kriegs haben gezeigt, dass auch linke und kritische Intellektuelle im Westen keinesfalls frei von politischen Ideologemen waren: ‚Freiheit‘, ‚Emanzipation‘, ‚Demokratie‘ et cetera waren Teil eines den Westen kennzeichnenden technisch-wissenschaftlichen und politisch-wirtschaftlichen Komplexes im Kalten Krieg, der eine Überlegenheitsideologie gegenüber dem „totalitären“ Ostblock konstituierte. Dazu trugen keineswegs nur antikommunistische Vertreter der Modernisierungstheorie bei, denen eine „Cold War Rationality“ zugesprochen werden kann3, sondern auch Linksintellektuelle wie Adorno, Herbert Marcuse, Alexander Mitscherlich und eben auch Mollenhauer, die intellektuelle Offenheit und Kreativität vertraten.4 Gerade diese Offenheit und die Möglichkeit der Entfaltung linker Positionen konstituierten diese westliche Überlegenheitsideologie.
1969 erfolgte der Umzug Mollenhauers und seiner Familie nach Frankfurt am Main, wo Mollenhauer bis 1971 lehrte. Kurz nach seiner Ankunft kam er mit Mitgliedern der späteren RAF in Verbindung, denn die Wohnung der Mollenhauers diente vielen politisch Orientierungslosen als zeitweilige Unterkunft. Handlungsorientierte Erziehungskonzepte Mollenhauers vermengten sich mit politischem Aktivismus der Studentenbewegung. Mollenhauer diskutierte mit den revolutionären Studenten, was diese jedoch nicht davon abhielt, mit ihm zu brechen; an dem Unternehmen, verhaltensschwierige Jugendliche in „Quasi-Revolutionäre“ umzuwandeln, wollte sich Mollenhauer nicht beteiligen. Nach wenigen Jahren verließ er Frankfurt für eine besser ausgestattete Professur in Göttingen. Reserviertheit studentischen Interessen gegenüber und Distanz zu politischen Kontroversen kennzeichneten die Göttinger Jahre. In der Wahrnehmung der Zeitgenossen hatte sich Mollenhauer „von Begriff und Programm der Emanzipation“ sowie von der Kritischen Theorie abgewandt (S. 259). 1998 starb Klaus Mollenhauer – ausgiebiger Zigaretten-, Alkohol- und Kaffeegenuss werden sein Ableben befördert haben.
Auch wenn einige Redundanzen hätten umgangen werden können, der persönlich-essayistische Schreibstil an manchen Stellen etwas bemüht wirkt und ein klarer methodischer Rahmen für mehr Distanz gesorgt hätte, hat Alex Aßmann mit diesem Buch eine gut lesbare und wichtige Biografie über eine zentrale Figur der westdeutschen Intellektuellengeschichte geschrieben, deren Lektüre sehr zu empfehlen ist.
Anmerkungen:
1 Clemens Albrecht u.a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt am Main 1999.
2 Klaus Mollenhauer, Erziehung und Emanzipation. Polemische Skizzen, München 1968.
3 Paul Erickson u.a., How Reason Almost Lost Its Mind. The Strange Career of Cold War Rationality, Chicago 2013.
4 Jamie Cohen-Cole, The Open Mind. Cold War Politics and the Sciences of Human Nature, Chicago 2014.