F. Traniello: Katholizismus und politische Kultur

Cover
Titel
Katholizismus und politische Kultur in Italien.


Autor(en)
Traniello, Francesco
Erschienen
Münster 2016: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
318 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Bock, Katholisch-Theologische Fakultät, Eberhard Karls Universität Tübingen

„Wenn man Italien verstehen will, sollte man den Baedeker weglegen und Theologie studieren“, so wird der Journalist und Schriftsteller Beppe Severgnini auf dem Buchrücken des hier zu besprechenden Werks zitiert. Und in der Tat: Bei gegenwärtig 226 Bistümern und circa 80 Prozent Katholiken unter der italienischen Bevölkerung scheint die Religion immer noch ein, wenn nicht der Schlüssel zur Sozial- und Kulturgeschichte des „Belpaese“ zu sein. Genau dieser Umstand dürfte auch den Münsteraner Aschendorff-Verlag dazu bewogen haben, einige der Aufsätze des Turiner Historikers Francesco Traniello übersetzen zu lassen und unter dem Titel „Katholizismus und politische Kultur in Italien“ zu publizieren. Zweifellos ein Anliegen, das lohnt. Denn viel zu wenig wird diesseits und jenseits der Alpen eine transnationale Perspektive eingenommen, worauf Martin Baumeister (DHI Rom) bereits im Vorwort des Bandes aufmerksam macht. Eine shared history hingegen verspricht, die Konturen der Katholizismusgeschichte beider Länder zu schärfen. Was etwa während des „langen“ 19. Jahrhunderts in Deutschland als Reaktion auf die Herausforderungen der Moderne aufkeimt, gemeint ist die geschlossene Sozialform des katholischen Milieus, ähnelt in vielen Aspekten der Formation der „mondo cattolico“ in Italien, um nur ein Beispiel für eine ländervergleichende Analyse zu nennen.

Traniello nun spannt in seinen Aufsätzen den Bogen vom italienischen Risorgimento des 19. Jahrhunderts über die Azione Cattolica1 bis zum Referendum zugunsten des Ehescheidungsgesetzes 1974, welches geradezu ein Trauma für die „katholische Nation“ darstellte. In seinen Blick rücken öffentlich ausgehandelte, religiöse und politische Diskurse, „was Italien sei und sein sollte“ (S. 23) ebenso wie unterschiedliche Organisationen des Katholischen (unter anderem liberaler Risorgimento-Katholizismus versus „Cattolicesimo intransigente“) und Strukturen (beispielsweise katholisch orientierte Verfassungsmodelle um 1848, die Lateranverträge von 1929). Den Abschluss bilden vier biographische Porträts von das Land prägenden katholischen Intellektuellen (Don Giovanni Bosco, Luigi Sturzo, Arturo Carlo Jemolo, Alcide De Gasperi). Die Schilderung ihres Wirkens dient jedoch nicht einer Glorifizierung im Sinne einer „Geschichte großer Männer“, vielmehr geht es dem Autor darum, anhand der Lebensläufe jener vier Persönlichkeiten das Amalgam von Religions- und Kulturpolitik, die „ultra montes“ kaum voneinander zu trennen sind, darzulegen.

Es versteht sich von selbst, dass an dieser Stelle nicht alle der zwölf publizierten Beiträge Traniellos en détail besprochen werden können, vielmehr Akzente gesetzt werden müssen. Als wichtigste, weil für die künftige transnationale Forschung grundsätzliche Einsicht dürfte sich der evidente Paradigmenwechsel der italienischen Religionsgeschichte im 20. Jahrhundert erweisen, den Traniello im achten Beitrag beschreibt. Auf nur sechs Seiten führt er aus, warum in Italien – ausgerechnet (!) – seit einigen Jahrzehnten eine allzu engmaschige, institutionengebundene Kirchengeschichte passé ist: Nach 1945 habe es in Italien ein gesellschaftliches Revival der Religion aufgrund der ideologischen, moralischen und geopolitischen Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges gegeben, getragen von einer neuen Sensibilität etwa im Hinblick auf die Ökumene und die Sehnsucht nach Frieden. Diese Entwicklung blieb nicht ohne Auswirkung auf die historische Katholizismusforschung, die nun als storia religiosa im Sinne einer kulturwissenschaftlichen Erforschung religiös geprägter Anschauungen und Lebensentwürfe reüssieren konnte. Als Geschichte religiös inspirierter oder „religionsanaloger“ Diskurse und Praktiken kann, muss sie aber nicht (nur) Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte umfassen (S. 230). Darin trifft sich die storia religiosa mit dem hierzulande vorgelegten Ansatz einer „Geschichte des geglaubten Gottes“;2 nur dass der erste Ansatz einer so verstandenen Christentumsgeschichte in Deutschland erst in den 2000er-Jahren aufkam, in Italien diese Fragen aber bereits den Historikertag 1967 in Perugia bestimmten.

Auch Traniello selbst grenzt sich in seinen Arbeiten von einem einseitigen Verständnis des Katholizismus als uniformer Papstkirche ab. Ihn interessieren die unterschiedlichen Katholizismen Italiens vor allem vor dem Hintergrund ihrer politischen Grundierung. Wie konnte sich der Katholizismus als gesellschaftliche Wirkungsmacht jeweils neu in den unterschiedlichen Phasen des „langen“ 19. und „kurzen“ 20. Jahrhunderts formieren und als mächtiges Kulturmuster auf das Land einwirken? Damit ist die zweite grundsätzliche Einsicht aus der Lektüre der Texte Traniellos angesprochen, die mal mehr, mal minder deutlich ausgesprochen alle Buchbeiträge tangiert: Italien ist einen Sonderweg gegangen.

Seine unter Rückgriff auf Arturo Carlo Jemolo formulierte Sonderwegsthese begründet Traniello etwas kurios anmutend, obwohl er ja gerade keine „Geschichte der Mächtigen“ schreiben will, vor allem mit der Präsenz des Papsttums, die die italienische Nation geradezu zur Teilhaberin seines Primats machte. „In jedem Falle schien der Nation die Katholizität als besondere, einzigartige Qualität des Italienischen innezuwohnen, und diese Überzeugung wirkte in Tiefenschichten des Glaubens und der religiösen Lebenspraxis hinein“ (S. 19). Und dies mit zuweilen seltsamen Folgen: Das Amalgam von Nationalismus und Katholizismus als DNA der italienischen Identität konnte selbst dann nicht gebrochen werden, als der Heilige Stuhl vor einer zu engen Verbindung beider Pole während der Zeit Mussolinis warnte (ebd.). Was zur Zeit des Faschismus noch nicht einmal dem Vatikan gelang, sollte dann das industrielle Wachstum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schaffen. Der von christlichen Politikern zunächst forcierte rasante ökonomische Wohlstand, die Verwandlung der „katholischen Nation“ in eine so genannte Konsumgesellschaft, sollte die christliche Gesellschaft aushöhlen. Der Neoliberalismus ließ Italien in eine „ethische Leere“ (Scoppola) fallen und fraß die kollektive Identität des Landes auf (S. 62). In der sich im Vergleich zu anderen Ländern ungeheuer schnell vollziehenden Säkularisierung im „Belpaese“ sieht Traniello schließlich einen Hinweis auf die de facto gegebene Zerbrechlichkeit des italienischen Katholizismus, der nach außen hin zwar über institutionelle Stärke verfügte, nach innen aber der von christdemokratischen Politikern immer wieder beschworenen Idee einer katholischen Nation anhing, die sich in der Wirklichkeit längst verflüssigt hatte.

Mit der Publikation der Aufsatzsammlung Francesco Traniellos werden wichtige Schneisen für künftige Arbeiten zur deutsch-italienischen Religionsgeschichte geschlagen. Das vorliegende Buch des Turiner Historikers führt nicht nur in die aus deutscher Seite weitgehend als „terra incognita“ zu bezeichnende neuere italienische Religionsgeschichte ein, sondern bildet gleichzeitig einen Stimulus für eine vielerorts angemahnte Forschungsagenda: „eine noch ausstehende europäische Katholizismusgeschichte, die mehr sein will als eine additive Zusammenschau unterschiedlicher nationaler Entwicklungen“ (Vorwort, S. 13).

Anmerkungen:
1 Den von Baumeister geforderten transnationalen Blickwinkel dürfte einnehmen die demnächst erscheinende Studie von Klaus Große Kracht, Die Stunde der Laien? Katholische Aktion in Deutschland im europäischen Kontext 1920–1960, Paderborn u.a.
2 Eine ähnliche Öffnung der Fachdisziplin hat hierzulande unter anderem Andreas Holzem vorgenommen. Vgl. Ders., Die Geschichte des „geglaubten Gottes“. Kirchengeschichte zwischen „Memoria“ und „Historie“, in: Andreas Leinhäupl-Wilke / Magnus Striet (Hrsg.), Katholische Theologie studieren. Themenfelder und Disziplinen, Münster 2000, S. 73–103.

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