Der große Traum der kybernetischen Theoretiker lag darin, die Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften einzureißen und eine universelle Inter-Disziplin zu erschaffen. Ihr außergewöhnlicher Erfolg liegt in ihrer anhaltenden, wenn auch indirekten Prägekraft bis heute. Kognitionswissenschaftler, Molekularbiologen und andere Wissenschaftler konzipieren ihre Forschungsgegenstände in Form von Strömen, Rückkoppelungen und Informationsverarbeitung. Die der Kybernetik entlehnte Informationstheorie ist in der Technologie verbaut, die wir jeden Tag verwenden, von Festplatten über Smartphones bis hin zum Internet als der Infrastruktur des so genannten Informationszeitalters. Der US-amerikanische Wissenschafts- und Technikhistoriker Ronald Kline analysiert in seinem Buch die Ursprünge der Kybernetik; er fragt, wie ihre Protagonisten dem Narrativ zu einem so gewaltigen Aufschwung verhalfen, dass wir unsere Epoche heute ganz selbstverständlich als Informationszeitalter bezeichnen. Den Schwerpunkt seiner Erzählung legt er allerdings auf die weniger geraden Stränge eines kybernetischen Diskurses, der nach einer Hochphase in den 1950er-Jahren ausfaserte und verblasste, während seine Prinzipien weiterlebten.
Klines zentrales Argument wird schon an der Frage deutlich: Was überhaupt ist die Kybernetik? Selbst unter ihren Urvätern war das umstritten, so dass der Autor die Ambiguitäten des Begriffes betont: Norbert Wiener definierte sie 1948 als „the scientific study of control and communication in the animal and the machine“.1 Warren McCulloch, Neurophysiologe und ebenfalls Kybernetiker erster Stunde, konzipierte Kybernetik als empirische Epistemologie. Der Psychiater und Kybernetikpionier W. Ross Ashby wiederum verstand darunter das Studium informationsgebundener Systeme.
Dementsprechend sieht Kline den kybernetischen Diskurs als Ausdruck des Zeitgeistes vor allem der 1950er- und 1960er-Jahre. Ironischerweise kam genau an dessen Scheitelpunkt der Computer in der Gesellschaft an, und der Informationsbegriff setzte sich durch. Im Zuge seiner Popularisierung wurde aber auch der Bedeutungsgehalt von „Information“ und „Kybernetik“ entkernt und ausgehöhlt. Es war der Anfang des Niedergangs der Kybernetik, als sich im öffentlichen Diskurs das Präfix „cyber“ von der Bedeutung der Rückkoppelung löste und der Informationsbegriff nicht mehr als die gemessene Unsicherheit eines Kommunikationsvorgangs verstanden wurde, sondern nur noch als ein Mengenbegriff digitalisierter Daten.
Der historischen Entwicklung der Kybernetik geht Kline, ehemaliger Präsident der Society for the History of Technology, in neun Kapiteln nach, die von einer wechselhaften Geschichte erzählen. Widmet er sich im ersten Kapitel vor allem den Wurzeln der Informationstheorie aus dem Dualismus zwischen Norbert Wiener und Claude Shannon im Zuge des Zweiten Weltkrieges, geht er nachfolgend verstärkt auf die Entstehung ihrer zirkulären Ontologie ein, also der Annahme eines Erkenntnisgewinnes aus der Analogiebildung differenter Phänomene. Dabei weist er immer wieder auf seine zentrale These hin: Der Diskurs der Kybernetik war auch intern keineswegs so unbestritten und einheitlich, wie dies andere Wissenschaftler bisher dargestellt haben. Die öffentliche Begeisterung wie wissenschaftliche Skepsis in der Rezeption der Kybernetik in Auseinandersetzung mit der neuen Computertechnologie ist Inhalt des dritten Kapitels. Textkritisch wäre zu fragen, inwieweit die aktuellen Interdisziplinaritätsanforderungen, beispielsweise bei der Bewilligung von Drittmitteln oder deren enorme Herausforderung in der alltäglichen Forschungspraxis, Einfluss auf Klines Fragestellung hatten. Besonders seine Darstellung scheiternder Interdisziplinarität als Herausforderung für die Kybernetik in den nachfolgenden Kapiteln deutet in diese Richtung.
Auffallend ist aus der Perspektive des Digitalhistorikers, der in seiner Forschung primär die sozio-ökonomischen Wechselwirkungen von Informationstechnologie und Gesellschaft in den Blick nimmt, dass der Computer in der Entwicklung der Kybernetik von Anfang an eine prominente Position innehatte. Ob er den Kybernetikern nun als das perfekte Werkzeug zur Umsetzung der eigenen Ideen diente, als analoges Modell zum besseren Verständnis des menschlichen Gehirns oder sie sich bereits explizit mit dessen Rolle in der Gesellschaft auseinandersetzten – die kybernetische Idee kann immer auch als eine Auseinandersetzung mit einer fremdartigen Technologie gelesen werden. Ebenso offenbart die gesellschaftliche Rezeption der Theorie, die oftmals überschwänglich begeistert oder ablehnend erfolgte, den Aushandlungsprozess mit informationstechnologischen Veränderungen der Nachkriegszeit. Die Kybernetiker präsentierten sich dabei als Avantgarde der Techniknutzung. Wieners Buch sei das erste überhaupt gewesen, das die neuen, digitalen Maschinen beschrieben und gleichzeitig eine erste kritisch-warnende Einordnung geboten habe. Kline hebt die Risse hervor, die in den Erzählungen anderer Historiker aus Liebe zur Stringenz geglättet worden seien und die viele Kybernetiker selbst zu vergessen begonnen hätten.
In den von ihm präsentierten Fällen erscheint das plausibel. Im deutschen Forschungskontext haben allerdings Medienwissenschaftler wie Claus Pias und Jens Schröter oder die Germanistin Simone Loleit etwa für das Begriffspaar „digital“ und „analog“ bereits aufzeigen können, wie umstritten dessen Bedeutung unter den Kybernetikern anfangs war.2 Das prominenteste Gegenbeispiel für die Annahme einer kybernetischen Universaldisziplin ist vielleicht Fred Turner, dessen Buch „From Counterculture to Cyberculture“3 auf den ersten Blick einer unkritischen Verwendung des Präfixes „cyber“ verdächtig erscheint. Allerdings zeigt er in seiner Analyse, dem Wissenschaftshistoriker Peter Galison folgend, vielmehr auf, wie die Kybernetik sich zu einer Kontaktsprache der Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen entwickelte, nicht zu einer neuen Metadisziplin. Kline wendet demgegenüber ein, dass dies höchstens die Attraktivität der Kybernetik für die verschiedenen Gruppen erkläre, dass dabei aber ignoriert werde, wie umstritten die Methoden, Begriffe und Denkweisen der Kybernetik anfangs waren.
Klines Perspektive ist von einem transatlantischen Blick geprägt, in dem höchstens noch die Sowjetunion immer wieder eine Rolle spielt. Dabei gelingt es ihm, in diesen Fällen eine gegenseitige Verflechtungsgeschichte zu schreiben, denn er schildert nicht nur eine Nachahmung westlicher Kybernetikkonzepte im Ostblock. Vielmehr zeigt er, wie die Sowjetunion die Kybernetik noch viel weiter fasste, als dies im Westen überhaupt der Fall gewesen war. Obwohl die Kybernetik in den 1960er-Jahren in den Vereinigten Staaten schon deutlich an Reputation verloren hatte, kam es durch die Furcht vor sowjetischer Kybernetisierung wieder zu einer verstärkten Beschäftigung mit der Kybernetik unter den Auspizien der CIA. Zwar erreichte diese keinesfalls die Ausmaße wie zuvor. Im Umfeld des aufsteigenden Paradigmas der Systemanalyse gab es allerdings eine Umformulierung und Ausweitung des kybernetischen Programmes. Leider berücksichtigt Kline dabei solche Studien nicht, die jenseits spektakulärer Fälle wie Chile oder der Sowjetunion für den kontinentaleuropäischen Bereich untersucht haben, wie es zu einer Implementierung der Kybernetik kam. Vor allem für die DDR liegen zahlreiche Befunde vor, die zeigen, wie die Kybernetik den Osten „ansteckte“.4
Besonders für die Nachkriegszeit überzeugt die feine Differenzierung, die Kline auf Basis einer akribischen Quellenarbeit vornimmt. Sie wird nicht nur im Abkürzungsverzeichnis deutlich, das vor allem die verschiedenen Institutionen, Zeitschriften und Schriftsammlungen entschlüsselt, die für den Aufstieg und Fall der Kybernetik relevant waren. Vielmehr offenbart das umfassende Endnotenverzeichnis die beeindruckende Textmenge, die Kline für sein in 15 Jahren erarbeitetes Werk rezipierte. Vor allem die Korrespondenzen der frühen Kybernetiker und ihre zahlreichen Nachlässe verknüpft der Autor zu einer stichfesten Argumentation. Auch seine saubere Begriffsarbeit zu den Termini „Information“, „Informationstechnologie“ und „Informationszeitalter“ leistet gute Dienste und war dringend notwendig für die wissenschaftliche Diskussion um die Computerisierung.
Erst in den letzten Kapiteln des Buches verlässt Kline diese Basis und setzt sich stärker mit der sozialwissenschaftlichen Rezeption der 1980er- und 1990er-Jahre auseinander. Ein dominierender Digitalutopismus erstickt seiner Meinung nach darin einen differenzierteren Blick auf die technologischen Veränderungen, die nur noch im Hinblick auf ein postuliertes Informationszeitalter gelesen werden. Die Kybernetik hingegen gerate bei deren Autoren in Vergessenheit. Das klingt manchmal zu sehr nach einer wehmütigen Reminiszenz auf die guten alten Tage und lässt zudem Klarheit vermissen. Wenn man Klines Erzählung der Kybernetik als Deutungsmuster der Gesellschaft für die neue Computertechnologie ernstnimmt, drängt sich vielmehr der Eindruck auf, dass andere Deutungsmuster wie beispielsweise dasjenige der Subjektivierung im Zuge der Adaption des Personal Computers den Gesellschaften seit den 1970er-Jahren bessere Dienste zur Erklärung einer nun ubiquitären Computertechnologie leisteten.
Zuletzt bleibt die Frage: Für wen ist das Buch gedacht? Es wendet sich in seiner Detailfülle bewusst an Experten, die bereits ein Vorwissen über die Kybernetik besitzen. Es ist nicht immer so stringent geschrieben wie die Bücher von Fred Turner oder Paul N. Edwards5, selbst wenn alle drei einer ganz ähnlichen Frage nachgehen: Wie kam die Kybernetik zu ihrer sozialen Geltung? Ronald R. Klines stellenweise abnehmende Kohärenz mag vor allem an einer Stärke des Buches liegen: Es ist die bisher umfassendste und detaillierteste Darstellung der Geschichte der Kybernetik. Besonders Forscher/innen der Digitalgeschichte und der Wissenschaftsgeschichte werden ihre Freude daran haben.
Anmerkungen:
1 Norbert Wiener, Cybernetics, or Control and Communication in the Animal and the Machine, Cambridge 1948.
2 Vgl. etwa Jens Schröter, Analog / Digital – Opposition oder Kontinuum?, in: Alexander Böhnke / Jens Schröter (Hrsg.), Analog / Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004, S. 7–30, <http://www.transcript-verlag.de/media/pdf/3684c7e57124a8be30d56f9b9b226bff.pdf> (23.01.2016).
3 Fred Turner, From Counterculture to Cyberculture. Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago 2006.
4 Frank Dittmann / Rudolf Seising (Hrsg.), Kybernetik steckt den Osten an. Aufstieg und Schwierigkeiten einer interdisziplinären Wissenschaft in der DDR, Berlin 2007.
5 Paul N. Edwards, The Closed World. Computers and the Politics of Discourse in Cold War America, Cambridge 1996.