E. Ismailow: Bolschoj Terror

Titel
Istorija 'Bolschowo Terrora' w Azerbajdschane.


Autor(en)
Ismailow, Eldar
Reihe
Istorija Stalinisma
Erschienen
Moskwa 2015: Rosspen
Anzahl Seiten
239
Preis
€ 25,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lorenz Erren, Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte, Johannes Gutenberg Universität Mainz

Der „Große Terror“, also die von Stalin in den Jahren 1937–1938 initiierte Politik der Massenverhaftungen, Schauprozesse und heimlich vollstreckten Hinrichtungen, vollzog sich in Aserbaidschan nach etwa demselben Muster wie in anderen Regionen der Sowjetunion. Diesen Eindruck vermittelt die hier besprochene Monographie des 2014 verstorbenen aserbaidschanischen Historikers Eldar Ismailow. Die mit Namen, Zahlen und Fakten dicht gepackte Darstellung, die sich durchweg auf Archivbelege, Quelleneditionen oder ähnlich solide Forschungsarbeiten stützt, wirkt äußerst seriös und vertrauenerweckend. Obwohl auf die einschlägige westliche Literatur (u.a. J. Arch Getty, Marc Junge und Rolf Binner etc.)1 gar nicht und auf die russische (Oleg Chlewnjuk)2 nur ganz sporadisch Bezug genommen wird, so kommt Ismailow letztlich zu vergleichbaren Schlussfolgerungen: Stalin bzw. die Moskauer Parteispitze setzten den Terror in Gang und beendeten ihn wieder – zu keinem Zeitpunkt entglitt dem Zentrum die Kontrolle. Für den Kenner der jüngeren Historiographie hält dieses Buch also kaum Überraschungen bereit.

Die ausführlich beschriebenen besonderen Gegebenheiten Aserbaidschans können die bekannte Geschichte nur variieren, aber keine neuen Handlungsstränge einführen. Zu ihnen gehörte eine ungewöhnliche ethnische Konstellation, die Lage der kleinen Sowjetrepublik an einer gefährdeten Außengrenze, die hohe Zahl von Ausländern (Iranern), das unterdurchschnittliche Bildungsniveau und nicht zuletzt auch die geringe Zahl ethnischer Aserbaidschaner, die für eine Karriere als Parteifunktionär überhaupt in Frage kamen. Vor diesem Hintergrund wird auch die ungewöhnliche Karriere Mir Dschafar Bagirows verständlich, der vom Dorfschullehrer 1933 zum Parteichef der Republik aufstieg und dem es als einem von nur ganz wenigen gelang, den „Großen Terror“ in einem solchen Amt zu überleben. Ismailow legt die Vermutung nahe, dass Bagirow sein Glück der schützenden Hand seines alten Freundes und Patrons Lawrentij Berija verdankte. Erst nach Stalins Tod kam er (wie Berija) doch noch zu Fall und wurde ebenfalls 1953 hingerichtet. Im Kaukasus wird der Name Bagirows bis heute mit dem exzessiven Terror verbunden. Dem georgischen Regisseur Abuladze diente er als Vorbild für die sadistische Hauptfigur des Films „Die Reue“ (1984).

Welchen Reim macht sich Ismailow nun auf den Stalinschen Terror? Das ehrenwerte Hauptanliegen seiner Darstellung besteht darin, durch eine seriöse, empirisch untadelige Darstellung den in Aserbaidschan, Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken derzeit wild ins Kraut schießenden, mitunter national, imperial oder religiös verbrämten Geschichtsmythen prophylaktisch das Wasser abzugraben. Dies hindert den Autor aber auch nicht daran, im Terror eine der tieferen Ursachen der aserbaidschanischen Unabhängigkeit von 1991 zu erblicken. Das russisch-sowjetische Imperium, dem Aserbaidschan durchaus auch viel Gutes zu verdanken habe, hätte sich durch den Terror als Schutzmacht irreparabel diskreditiert (S. 197–198). In diesem Sinne ist auch die Einschätzung nicht banal, dass Bagirow eher ein zynischer „Trittbrettfahrer“, nicht aber der dämonische Urheber des Terrors war.

Weniger überzeugend wirkt der in der Schlussfolgerung unternommene Versuch, die Systemnotwendigkeit des Terrors nachzuweisen. Explizit wendet sich Ismailow etwa gegen die von Wolkogonow angestellte kontrafaktische Annahme, dass die Sowjetunion ihre Erfolge (etwa auf dem Gebiet der Industrialisierung) auch ohne Stalins Terror hätte erreichen können (S. 195).
Ismailows Deutung lässt sich hingegen so zusammenfassen: Der Terror verfolgte das Ziel, die Bevölkerung einzuschüchtern, zu bedingungslosem Gehorsam zu zwingen, somit das Regime politisch zu stabilisieren und generell die Effizienz von Diensten, Behörden und Betrieben zu steigern – und letztlich erreichte er es auch. (S. 69–70; 173–174; 195–199). Das Problematische an dieser Deutung ist, dass sie kaum empirisch belegt werden kann, während das Narrativ schnell im Strudel der Tautologien versinkt. So war Stalin laut Ismailow zwar einerseits von der Loyalität der Bevölkerungsmehrheit überzeugt, erfuhr andererseits aber auch von Äußerungen der Unzufriedenheit. Als Marxist hielt er den Sieg des Proletariats im Klassenkampf für unausweichlich, und als Inkarnation des Proletariats betrachtete er die Partei, deren Führungsgremien und letztlich also sich selbst (S. 69–70). Ismailow führt aus: „Diese Logik musste den Führer zwangsläufig auf den Gedanken einer großen Säuberung von Partei und Gesellschaft bringen, die sie von großen Problemen befreien, die Reihen der Partei schließen, die Gesellschaft um die Gestalt des Führers scharen würde. Dies ist zu allen Zeiten die Logik der autoritären Idee gewesen. Unter den Bedingungen des von Stalin geschaffenen Systems […] mochte das gleichförmige Denken (edinomyslie) als einziger Weg erscheinen, die Ziele […] der Gesellschaft zu verwirklichen. Alle mussten sich die Idee der Errichtung einer neuen Gesellschaft zu eigen machen, keinerlei Zweifel durften […] bestehen bleiben. Nur wer nicht zweifelte, sollte weiter existieren dürfen. […] Hierin lag der antidemokratische Charakter des […] Systems. Aber anders konnte das System nicht sein.“ (S. 70; Hervorhebungen L.E.).

Ein Zirkelschluss: Stalins Handeln war seinem Denken entsprungen – und wer wie Stalin dachte, musste auch so handeln. Weiter heißt es: „Möglicherweise gaben die Ergebnisse der ersten beiden Fünfjahrpläne den Ausschlag. Natürlich hatte die Industrialisierung […] in zehn Jahren große Fortschritte gemacht. Doch auf vielen Gebieten nicht so große […] wie erhofft. Es war schwierig, allein durch den Enthusiasmus der Menschen, durch […] Propagandakampagnen zum Ziel zu kommen.“ (ebd.). Allzu deutlich zeugten Produktionsausfälle und Havarien vom fehlenden Eifer des Personals. Darum, so Ismailow weiter, mochte Stalin in der Drohung mit Strafverfolgung aufgrund angeblicher politischer Verbrechen ein effektives Mittel zur Steigerung der Arbeitsmotivation erblicken. Und so werden hier nacheinander verschiedene Vermutungen ausprobiert: Wenn das zuvor erwähnte, obsessiv-marxistische Verlangen des Regimes nach Ausmerzung jeglichen ideologischen Zweifels kein hinreichendes Motiv für den Terror war, dann vielleicht doch in Kombination mit dem Wunsch nach Steigerung der Disziplin bei gleichzeitiger Reduzierung von Ausschussproduktion und Arbeitsunfällen.

Doch werden in einem solchen Narrativ nicht Mutmaßungen über Motive des Terrors mit ebenso schlecht fundierten Mutmaßungen über seine Wirkungen unzulässig vermischt? Diese Frage könnte freilich nicht nur an dieses Buch, sondern an einen beträchtlichen Teil der Stalinismusforschung gestellt werden. Sagen solche Interpretationen des „Großen Terrors“ nicht mehr über das Menschen- und Weltbild von Historikern aus als über die sowjetische Realität? Beruhen sie nicht allzu naiv auf dem Glauben an einen Zusammenhang zwischen grenzenloser Willkür und maximaler Effizienz? Oder wären Historiker auch in nichtsowjetischen Kontexten dazu bereit, das Brachliegen von Effizienzpotentialen jeweils der Liberalität von Regimen zuzuschreiben anstatt deren selbstverschuldeter Inkompetenz? Würden sie es für möglich halten, die Leistungsfähigkeit heutiger politischer Gemeinwesen und betrieblicher Organisationen (Parteien, Großbetriebe, Behörden, Hochschulen, etc.) durch Terrorkampagnen nachhaltig zu steigern? Setzen sie wirklich voraus, dass Menschen gerade unter permanenter Todesangst ihr Leistungsmaximum erreichen? Sind es also nur moralische Skrupel (nebst rechtlicher Hürden), die heutige Entscheider davon abhalten, auf ähnlichem Wege Wachstumspotentiale zu erschließen?

Es mag provokativ wirken, solche Fragen explizit zu stellen – aber ihnen gegenüber sollte sich die Forschung deutlicher positionieren, um zu erklären, worin ihre künftigen Erkenntnisse letztlich noch bestehen sollen. Jedenfalls schulden Historiker ihren Lesern Auskunft darüber, ob sie auch selbst an den Zusammenhang zwischen totalem Terror und totaler Machteffizienz glauben oder ob es nur Stalins Regime war, das ihrer Ansicht nach an einen solchen Zusammenhang geglaubt haben soll. Im ersteren Fall müssten sie Auskunft geben, worauf sich ihre Überzeugung gründet – auf empirisch überprüfbaren Argumenten oder nur auf illiberalen Gemeinplätzen, wie sie zur Entstehungszeit der Totalitarismustheorie auch im Westen weit verbreitet gewesen sein mögen? Wer letzteres annimmt, könnte endlich auch Wolkogonows Frage (S. 195) zulassen, ob das stalinistische Regime ohne die Massenverhaftungen des Jahres 1937 nicht womöglich ebenso stabil hätte bleiben und in jeder anderen Hinsicht größere Erfolge erzielen können – und ob der „Große Terror“ folglich eine akzidentielle Begleiterscheinung, eine Ausgeburt von Stalins kranker Psyche gewesen ist, nicht aber eine notwendige Komponente der von ihm mitbegründeten Herrschaftsform.

Anmerkungen:
1 J. Arch Getty, The Road to Terror. Stalin and the Self-Destruction of the Bolsheviks, 1932–1939, New Haven 1999; Rolf Binner / Marc Junge u.a. (Hrsg.), Massenmord und Lagerhaft. Die andere Geschichte des Großen Terrors, Berlin 2009.
2 Oleg V. Chlevnjuk, 1937-j. Stalin, NKVD i sovetskoe obščestvo, Moskau 1992.

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