Die historische Forschung hat sich bei ihrer Beschäftigung mit der Geschichte von Lagern zunächst auf Orte der Repression konzentriert: Konzentrationslager, Kriegsgefangenenlager, Speziallager oder Zwangsarbeiterlager. Demgegenüber gerieten Flüchtlingslager erst in jüngster Zeit in den Fokus des Interesses, nicht selten in Verbindung mit der Einrichtung von Gedenkstätten an ehemaligen oder bis heute in Nutzung befindlichen Lagerstandorten. In diesen Trend reiht sich die Dissertation von Sascha Schießl ein, der sich mit dem Lager Friedland des wohl bekanntesten Flüchtlingslagers der Bundesrepublik angenommen hat.1 Das Lager wurde wenige Monate nach Kriegsende in der Nähe von Göttingen eingerichtet und diente zunächst als Durchgangslager für unterschiedlichste Personengruppen, die von der sowjetischen in die britische Zone sowie in die umgekehrte Richtung hinüberwechselten. Insgesamt wurden in Friedland bis heute über vier Millionen Menschen betreut.
Schießl nähert sich seinem Untersuchungsgegenstand aus zwei Hauptperspektiven: Zum einen geht es ihm um die Rolle Friedlands bei der Bewältigung von Kriegsfolgen, zum anderen um die „Bedeutung des Lagers für die bundesdeutsche Erinnerungskultur und Vergangenheitspolitik“. Im Zentrum steht dabei die Frage, wieso sich gerade das Lager Friedland zu einem so „ungebrochen positiv[]“ besetzten Erinnerungsort entwickeln konnte, wie er in dem schon Ende der 1940er-Jahre geläufigen Beinamen „Tor zur Freiheit“ zum Ausdruck kommt (S. 9). Schießl will dabei den Zusammenhang zwischen den „oft konkurrierenden erinnerungs- und vergangenheitspolitischen Diskursen einerseits und den komplexen, vielfach widersprüchlichen Prozessen der Aufnahme und gesellschaftlichen Integration von ‚Deutschen‘ im Nachgang des Zweiten Weltkriegs andererseits“ herausarbeiten (S. 16). Quellengrundlagen der Arbeit sind die archivalische Überlieferung staatlicher Institutionen auf lokaler, regionaler und Bundesebene sowie Unterlagen der im Lager tätigen Wohlfahrtsverbände und Kirchen. Einbezogen werden zudem Medienberichte über das Lager und die dort aufgenommenen Gruppen sowie in geringerem Maße zeitgenössische Selbstzeugnisse von den in Friedland betreuten Personen.
Die Arbeit gliedert sich neben Einleitung und Schluss in vier Großkapitel, von denen das erste hinführenden Charakter hat („Wege nach Friedland“). Der Autor skizziert hier auf der Grundlage der Forschungsliteratur die während des Zweiten Weltkriegs vom „Dritten Reich“ umgesetzten großen Bevölkerungsverschiebungen in Form von Deportationen und Umsiedlungen und die damit verbundenen Zuschreibungen von „Deutschtum“ zu einzelnen Bevölkerungsgruppen. Diese sich durchweg auf der Höhe des Forschungsstandes bewegenden Ausführungen sind – wenn auch nicht unbedingt in dieser Ausführlichkeit – Voraussetzung zum Verständnis der Aufnahme- und Integrationspolitik gegenüber den nach Kriegsende in Friedland Ankommenden.
Im Kapitel III („Flüchtlinge und Vertriebene“) zeichnet Schießl die Frühgeschichte des Lagers nach, das zu Beginn unterschiedlichste Personengruppen durchliefen – darunter Flüchtlinge aus der SBZ und aus Osteuropa, Displaced Persons, Evakuierte und Kriegsheimkehrer. Nach chaotisch-provisorischen Anfängen, die geprägt waren von unzulänglichen Unterkünften, unzuverlässigen Statistiken sowie zum Teil auch von Korruption, Unfähigkeit und Überforderung, gelang es relativ rasch, die Arbeit vor Ort zu stabilisieren und vor allem die Außenwahrnehmung zu verbessern. Dies war nicht zuletzt auf eine aktive Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowohl der Lagerleitung als auch der in Friedland tätigen Wohlfahrtsverbände und der Kirchen zurückzuführen. Eine positive Darstellung des Lagers in der Presse war auch deshalb wichtig, weil sie Voraussetzung für das Einwerben von Spenden war. Entsprechend energisch wehrte sich die Lagerleitung gegen negative Berichte. Insgesamt sieht Schießl bereits in der „Frühphase des Lagers die Grundlage für das Entstehen des Erinnerungsortes Friedland“ als Ort der Hoffnung und des Überwindens von Leid (S. 157) – obwohl das Lager für die in dieser Zeit betreuten Vertriebenen und Flüchtlinge gerade kein bedeutender persönlicher Erinnerungsort war, da sie sich dort nur sehr kurz aufhielten.
Das umfangreichste und spannendste Kapitel IV befasst sich mit derjenigen Gruppe, die in der kollektiven Erinnerung am stärksten mit dem Ort Friedland verbunden ist: den Kriegsheimkehrern. War Friedland ursprünglich das zentrale Durchgangslager der britischen Besatzungszone für entlassene Kriegsgefangene auf dem Weg von Ost nach West und von West nach Ost gewesen, kamen seit Anfang der 1950er-Jahre praktisch nur noch aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft Entlassene dort an. Schießl zeigt eindrücklich, wie die Frage der Kriegsheimkehrer und der justizielle Umgang mit Kriegs- und NS-Verbrechern in der deutschen Nachkriegsdebatte miteinander verknüpft waren – auch deshalb, weil die Sowjetunion die seit Anfang der 1950er-Jahre noch in Gefangenschaft befindlichen Deutschen als Kriegsverbrecher und nicht als reguläre Kriegsgefangene betrachtete. Er macht deutlich, dass sich die Frage der Kriegsgefangenen gut in den allgemeinen Viktimisierungsdiskurs der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft einfügte. Dabei seien jedoch die reinen Opfernarrative ab Mitte der 1950er-Jahre abgelöst worden vom Bild der Kriegsheimkehrer als Menschen, die „ihr Leid in erhabener Weise überwunden [hatten] und […] nun bereit […] waren, ihren Platz in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft und in den Familien einzunehmen“ (S. 183).
Besonders eingeprägt hat sich Friedland als Ort der „Heimkehr der Zehntausend“ ab Oktober 1955, der Rückkehr der letzten noch in sowjetischem Gewahrsam befindlichen Deutschen. Dabei handelte es sich keineswegs ausschließlich um entlassene Kriegsgefangene, sondern zu einem Drittel um Zivilinternierte und politische Nachkriegshäftlinge. Darunter fanden sich Kriegsverbrecher, die sich auch nach deutschem Recht strafbar gemacht hatten. In der öffentlichen Wahrnehmung und in der Presse wurde diese Differenzierung zumeist jedoch nicht vorgenommen. Hier dominierte die Freude über die Rückkehr der – in der großen Mehrheit männlichen – Heimkehrer, die sich mit antikommunistischen Ressentiments verband. Schießl zeichnet die politischen Debatten im Vorfeld der „Heimkehr der Zehntausend“ ausführlich nach. Die Frage der öffentlichkeitswirksamen Begrüßung der Heimkehrer durch Politiker wurde kontrovers diskutiert. Einerseits hätten diese sich hier innenpolitisch profilieren können, andererseits fürchtete man vor dem Hintergrund, dass sich unter den Heimkehrern eben auch Kriegsverbrecher befanden, negative Reaktionen aus dem Ausland, insbesondere aus der Sowjetunion. Letztlich ließ sich die öffentliche Aufmerksamkeit gar nicht mehr wirksam steuern: Den ab Anfang Oktober 1955 in Friedland eintreffenden ersten Transporten wurde ein euphorischer Empfang durch Vertreter von Behörden und Wohlfahrtsverbänden und durch zahlreiche Privatpersonen zuteil, der von einem überwältigenden, meist unkritischen Medienecho begleitet war.
Erst als die Sowjetunion die Rückführung der Heimkehrer zwischenzeitlich aussetzte, sah sich die Politik zu einem – primär taktisch motivierten – vorsichtigeren Handeln veranlasst. Insbesondere diejenigen Zurückgeführten, die von der Sowjetunion nicht amnestiert worden waren, wurden nun etwas distanzierter aufgenommen, auch um sie in der öffentlichen Wahrnehmung von den entlassenen Kriegsgefangenen abzukoppeln. Von Verhaftungen vor Ort wurde jedoch abgesehen, nicht zuletzt weil, wie Schießl überzeugend argumentiert, das Lager Friedland nur so „seinen Charakter als „Tor zur Freiheit‘“ bewahren konnte (S. 204).
Das letzte Hauptkapitel befasst sich mit der Geschichte des Lagers von Mitte der 1950er- bis Ende der 1960er-Jahre, das nun in erster Linie der Aufnahme als „volksdeutsch“ definierter Aussiedler aus Osteuropa diente, vorwiegend aus Polen. Hier wird auf das hinführende zweite Kapitel der Arbeit Bezug genommen, denn bei der Frage der Anerkennung dieser Menschen spielten die vor 1945 im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik geschaffenen Kategorien eine wichtige Rolle – etwa die Eintragung in die „Deutsche Volksliste“. Schießl lichtet hier den Dschungel aus gesetzlichen Bestimmungen, juristischen Begriffen und in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangenen Bezeichnungen für die verschiedenen Personengruppen. So fielen etwa die landläufig als „Aussiedler“ bezeichneten Deutschstämmigen aus Polen ebenfalls unter das Heimkehrergesetz von 1950. Außerdem arbeitet er die ambivalente Haltung der Politik gegenüber den Aussiedlern heraus: Vor dem Hintergrund des Festhaltens am „Recht auf Heimat“ der Vertriebenen wurde deren Aufnahme, die als humanitärer Akt der „Familienzusammenführung“ galt, mitunter kritisch gesehen, insbesondere von Seiten der Vertriebenenverbände. Auch das war ein Grund, warum dieser Gruppe – trotz deutlich größerer Zahl – nicht annähernd so hohe Aufmerksamkeit zuteilwurde wie den Kriegsheimkehrern. Daraus resultierte ein Bedeutungsverlust des Lagers Friedland insgesamt: An der Einweihung der „Friedland-Gedächtnisstätte“ für die Heimatvertriebenen und Heimkehrer im Jahr 1967 etwa nahmen keine Vertreter des Bundestages oder der Bundesregierung teil. Hier zeige sich auch der Anfang der 1960er-Jahre einsetzende gesellschaftliche Wandel im Umgang mit der Vergangenheit: Ein Denkmal, „das vor allem an die so verstandenen deutschen Opfer des Zweiten Weltkrieges erinnerte“, hatte, so der Autor, „abseits bestimmter Interessengruppen und Gedächtnisgemeinschaften keine Funktion mehr“ (S. 420).
Sascha Schießl, der seine Ergebnisse in einer erfreulich prägnanten Schlussbetrachtung noch einmal zusammenfasst, hat mit der Studie zum Lager Friedland eine ausgezeichnete Arbeit vorgelegt. Er verbindet die eigentliche Geschichte des Lagers produktiv mit zeitgenössischen erinnerungspolitischen Debatten und knüpft an zahlreiche aktuelle Forschungsdiskussionen an. Seine Interpretation Friedlands als ein Ort, dessen „symbolische[] und (erinnerungs-)politische[] Zuschreibungen“ seine „eigentlichen Funktionen und Aufgaben […] oftmals überlagerten“ (S. 432), überzeugt. Vor dem Hintergrund der öffentlichen Wahrnehmung Friedlands als „Tor zur Freiheit“ wäre indes ein vergleichender Blick auf andere Einrichtungen wünschenswert gewesen, die diesen Beinamen ebenfalls für sich in Anspruch nehmen, wie etwa das 1953 eröffnete Notaufnahmelager für DDR-Flüchtlinge in Berlin-Marienfelde. Trotzdem ist diese Arbeit, die auf einer breiten Quellengrundlage und einem bemerkenswerten Spektrum an Forschungsliteratur basiert, darüber hinaus flüssig geschrieben und sorgfältig lektoriert ist, uneingeschränkt zu empfehlen.
Anmerkung:
1 Im März 2016 wurde das neue Museum Friedland (http://www.museum-friedland.de [09.11.2016]) mit seiner ersten Dauerausstellung eröffnet; siehe dazu die Rezension von Yvonne Kalinna, in: H-Soz-Kult, 12.11.2016, http://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-240 (12.11.2016).