L. Dean-Jones u.a. (Hrsg.): Ancient Concepts of the Hippocratic

Cover
Titel
Ancient Concepts of the Hippocratic. Papers Presented at the XIIIth International Hippocrates Colloquium, Austin, Texas, August 2008


Herausgeber
Dean-Jones, Lesley; Ralph M. Rosen
Reihe
Studies in Ancient Medicine 46
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 474 S.
Preis
€ 178,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lutz Alexander Graumann, Universitätsklinikum Giessen und Marburg GmbH

Kurz nach Erscheinen des Kongressbandes zum vorletzten „Internationalen Hippokrates-Kolloquium“ (CIH)1 ist nun, etwas verspätet, der Band zum 13. CIH erschienen. Thema der 2008 in Austin veranstalteten medizinhistorischen Tagung war die grundsätzliche Frage, was in der Antike selbst überhaupt als „hippokratisch“ gegolten haben mag. Nach einer kurzen Einführung in den Topos „Antike Konzepte des Hippokratischen“ durch die Herausgeberin Lesley Dean-Jones (S. 1–14) folgen 20 Einzelbeiträge, aufgeteilt in vier thematische Untergruppen.

Die erste Gruppe mit dem Thema „Entstehung des Corpus Hippocraticum“ umfasst sechs Beiträge und beginnt mit einer sehr differenzierten Darstellung des Kenntnisstandes über „hippokratische und nicht-hippokratische medizinische Schriften“ von Philipp van der Eijk (S. 17–47). Er präsentiert eine aktuelle Übersicht der bekannten medizinischen Schriftsteller des 5. bis 3. Jahrhunderts v.Chr. inklusive ihrer Werktitel (S. 27–32). Dabei seien die Grenzen zwischen „medizinischen“ und „naturphilosophischen“ Schriften fließend zu verstehen. Die heute allgemein akzeptierte Charakterisierung des ‚Corpus Hippocraticum‘ (CH) als thematisch sehr breit gestreute medizinische Textsammlung sollte nach van der Eijk berechtigterweise erneut Anlass geben, jede einzelne Schrift dieser historischen Sammlung neu zu kontextualisieren und damit das moderne CH komplett neu zu organisieren. Ann Ellis Hanson reflektiert die Popularität der hippokratischen Aphorismen in hellenistischer und römischer Zeit (S. 48–60). Gerade die Aphorismen waren für antike Exegeten deswegen so interessant, weil sie inhaltlich zu weiten Teilen für die damaligen Zeitgenossen bereits unverständlich geworden waren (S. 52). Paul Demont befasst sich ausführlich mit dem altbekannten Thema ‚Medizin und Hippokrates bei Platon‘ (S. 61–82) und wiederholt die Aussage von van der Eijk, dass die medizinischen Themen beim Nichtmediziner Platon inhaltlich wesentlich mehr als das im CH Überlieferte widerspiegeln (S. 65). Insgesamt betrachtet widerspricht Platons Darstellung aber keineswegs dem CH und präsentiert gerade den Arzt Hippokrates als Prototyp und Autorität in der Medizin seiner Zeit (S. 78). Pilar Pérez Cañizares beschäftigt sich mit der nicht-hippokratischen, laienmedizinischen Kompilationsschrift ‚De affectionibus’, die aus weiterhin unbekannten Gründen kurz vor dem 2. Jahrhundert in das CH eingefügt wurde (S. 83–98). Susan Prince analysiert den aristotelischen Hippokrates im sogenannten ‚Anonymus Londiniensis‘ (S. 99–116) und kommt zum Schluss, dass der hier dargestellte „historische“ Hippokrates dem Autoren der Schrift ‚De natura hominis‘ (Die Natur des Menschen) am nächsten kommt (S. 114).2 In einem weitläufigen, sehr gewitzten Artikel benutzt Eric Nelson ausgerechnet die antiken Hippokrates-Legenden zur Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des CH im hellenistischen Alexandria (S. 117–142).3 Er bezeichnet das Corpus als „dynamisches soziales Kunstprodukt“ (S. 121) und beleuchtet den antiken historischen Diskurs um Hippokrates und die hippokratische Medizin. Schließlich zieht er den provokativen Vergleich zur medizinischen Neubewertung des menschlichen Wurmfortsatzes (Appendix vermiformis) zu seiner eigenen Neubewertung der Funktion der verpönten Hippokrates-Legenden im Hinblick auf das CH (S. 137).

Die zweite Gruppe mit dem Thema „Hippokratische Konzepte“ umfasst ebenfalls sechs Beiträge: Joel E. Mann untersucht anhand mehrerer, als polemisch charakterisierter Schriften aus dem CH bestimmte theoretische Trends der damaligen medizinisch-theoretischen Gemeinschaft (S.143–162).4 Entgegen der bisherigen Meinung kommt er zum Ergebnis, dass gerade der Autor der Schrift „Über die Heilkunst“ (‚De arte‘) die originellste hippokratische Medizin zeigt. Roberto Lo Presti stellt die Frage nach einer typisch „hippokratischen“ Sicht auf Sinneswahrnehmung und -verarbeitung (S. 163–194). Trotz der im Detail sehr unterschiedlichen diesbezüglichen Theorien im ganzen CH kann man nach Lo Presti zumindest von einer geteilten Perspektive einiger medizinischer Autoren des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr. sprechen: Mit ihnen setzte erstmalig im intellektuellen Umfeld der altgriechischen Naturphilosophie eine Systematisierung und Etablierung der Medizin als anerkannter Literaturgattung ein (S. 189–190). Elizabeth Craik bespricht die ihrer Meinung nach bedeutsame, wohl aus dem 4. Jahrhundert v.Chr. stammende, pseudo-hippokratische Schrift „Über die Drüsen” (‚De glandulis‘; S. 195–208). Wenngleich sie selbst die Diskussion über den sicher nicht-hippokratischen Autor als höchst spekulativ charakterisiert, spielt sie gerade in diesem Diskurs munter mit.5 Jacques Jouanna befasst sich sehr ausführlich mit dem Thema Diätetik im CH (S. 209–241). Die (medizinische) Diätetik in Form der überlieferten Schrift ‚De victu‘ umfasste die Lehre von ausgewogener Ernährung („foodstuffs, drinks“) und Gymnastik („exercise“). Jouanna resümiert, dass die Schrift in ihrer Ausrichtung an eine Zweiklassenmedizin (Verhalten normaler Leute, explizite Empfehlungen für elitäre Kreise) am wenigsten modern, mit ihrem Lernziel einer richtigen Balance zwischen Ernährung und Bewegung aber in der Tat sehr modern daherkommt (S. 239). Der Mitherausgeber Ralph M. Rosen beleuchtet die Facetten einer „hippokratischen Kulturanthropologie“ anhand der rhetorischen Schrift „Über die alte Medizin“ (‚De vetere medicina‘; S. 242–257).6 Maithe Hulskamp behandelt die medizinische Traumdeutung im gesamten CH (S. 258–270). Sie zeigt, dass die Besonderheit des auch als „Traumbuch“ (‚De insomniis‘) bekannten vierten Buches der Schrift ‚De victu‘ in Hinblick auf die ebenso in anderen Schriften wiederkehrenden medizinischen, „hippokratischen“ Ideen zu Träumen relativiert werden sollte (S. 269).

Die dritte Gruppe mit dem Thema „Hippokratische Themen im kulturellen Kontext“ umfasst 3 Beiträge. Der sehr ansprechende Titel „Zähne im Hippokratischen Korpus“ von Patrick Macfarlane (S. 273–291) liefert Einblicke in das kleine Thema der antiken Zahnheilkunde.7 Laurence Totelin präsentiert eine Vergleichsstudie hippokratischer und aristophanischer „Rezepte“ (S. 292–307), wobei der Begriff des Rezeptes von ihr sehr weit interpretiert wird. Leanna McNamara überblickt (S. 308–327) hippokratische und nicht-hippokratische Interpretationen der „Liebeskrankheit“ (eros). Ihr spekulatives Resultat lautet, dass dieses Phänomen im CH keineswegs aus rationalen Gründen nicht als „Krankheit“ bezeichnet wird, sondern weil sich die hippokratischen Autoren gerade von anderer zeitgenössischer ärztlichen Praxis abheben wollten (S. 325).

Die vierte und letzte Gruppe mit dem Thema „Der Hippokratismus Galens“ enthält fünf Beiträge beginnend mit Amneris Rosellis Artikel zur Präsentation Hippokrates‘ als „Zeuge der Wahrheit“ in den antiken medizinischen Kommentaren von Apollonios von Kition bis Galen (S. 331–344). Robert Alessi bespricht ausführlich die „Einteilung von Individuen in Gruppen anhand von körperlichen Eigenschaften im Corpus Hippocraticum“ (S. 345–377) mittels zweier kryptischer, sogenannter physiognomischer Kapitel im 2. Buch der ‚Epidemien‘ (Epid. 2,5 und 6) sowie des umfangreichen galenischen Textkommentars, welcher gerade bei der Rekonstruktion dieser eigenartigen „hippokratischen“ physiognomischen Methode hilft. Véronique Boudon-Millots lexigraphische Untersuchung zur Verwendung von „hippokratisch“ (hippokrateios) bei Galen (S. 378–398) kommt zum Schluss, dass Galen den Terminus ideologisch verwendet: einerseits bezeichnet er hiermit seine „medizinischen Feinde“, die „Methodiker“ (sogenannte „Hippokratiker“), andererseits inszeniert er sich selbst als den einzig wahren, authentischen Erben Hippokrates‘. Todd Curtis liefert eine ausführliche Analyse von Galens Kommentar zur hippokratischen Schrift ‚De natura hominis‘ (S. 399–420) und arbeitet sehr schön heraus, dass Galens Exegese die ursprüngliche Argumentation der Schrift in die zeitgenössische, nämlich Galens eigene Medizintheorie in gänzlich ahistorischer Weise projiziert (S. 410 und 417). Direkt hieran knüpft der abschließende Beitrag von R.J. Hankinson zum Thema „Galen über hippokratische Physik“ (S. 421–443). Galens Interesse an der Naturwissenschaft der Physik beschränkte sich auf ihren praktischen medizinischen Nutzen, heute würde man sagen, die medizinische Physik. Galen meinte nun, gerade in der Schrift ‚De natura hominis‘ den echten Hippokrates mit seiner hippokratischen Elementen-Lehre zu finden (S. 423). Hankinson zeigt aber, dass in Wahrheit Galen und dieser „Hippokrates“ eher differierende Ansichten vertraten und Galen selbst die hippokratische Vorlage erheblich weiterentwickelte, obgleich er dies rhetorisch geschickt kaschierte (S. 432). Galens Hippokrates sollte dennoch wieder positiver als ein legitimes Interpretationskonstrukt und nicht als bloßes anachronistisches Phantasieprodukt gesehen werden (S. 441).

Den Band beschließen ein allgemeiner Index sowie ein hilfreicher Index locorum. Jeder der sehr umfangreichen Beiträge endet praktischerweise mit eigenem Literaturverzeichnis. Inhaltlich spiegeln sich im wirklich gut konzipierten Band aktuelle und neue Aspekte der antiken Medizingeschichte, wie auch altbekannte Thesen wieder kontrovers aufgegriffen werden. Auch dieser (obgleich sehr Philologie-lastige) Kongressband ist für jeden, der sich auf dem Gebiet der antiken Medizin betätigt, ein Muss und gerade aufgrund seiner thematischen Diversität und editorischen Qualität dringend zu empfehlen. Bei dem für Brill typischen hohen Anschaffungspreis sind die trotzdem aufgefallenen Mängel etwas betrüblich.8

Anmerkungen:
1 Jacques Jouanna, Michel Zink (Hrsg.), Hippocrate et les hippocratismes: médicine, religion, société (XIVe Colloque International Hippocratique 2012), Paris 2014 ; siehe: Lutz Alexander Graumann: Rezension zu: Jouanna, Jacques; Zink, Michel (Hrsg.): Hippocrate et les hippocratismes. médecine, religion, société. Paris 2015 , in: H-Soz-Kult, 23.11.2015, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-24768> (18.04.2016).
2 Daniela Manetti (Hrsg.), Anonymus Londiniensis De Medicina, Berlin 2011; Jacques Jouanna (Hrsg.), Hippocrate: La Nature de l’Homme (Corpus Medicorum Graecorum, I, 1,3), Berlin 2002.
3 Jody Rubin Pinault, Hippocratic Lives and Legends, Leiden 1992; Wesley D. Smith, Hippocrates: Pseudepigraphic Writings. Letters-Embassy-Speech from the Altar-Decree, Leiden 1990.
4 Es sind dies: ‚De arte‘, ‚De vetere medicina‘, ‚De victu acutorum‘ sowie ‚De natura hominis‘.
5 Elizabeth M. Craik, The Hippocratic Treatise ‘On Glands’, Leiden 2009; siehe auch ihre Darstellung in: The ‚Hippocratic‘ Corpus: Content and Context, London 2015, S. 119–124. Die Diskussion um den dubiosen Arzt Menekrates von Syrakus (S. 204f.) ist zu ergänzen durch Giuseppe Squillace, Menecrate di Siracusa. Un medico del IV secolo a.C. tra Sicilia, Grecia e Macedonia (Spudasmata 141), Hildesheim 2012.
6 Rosen stellt mehrfach die Darstellung des Menschen in dieser Schrift als „Mängelwesen“ heraus (S. 252–254), interessanterweise fehlt aber gerade hier der Hinweis auf Arnold Gehlen, Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940.
7 Vgl. auch Franck Collard / Evelyne Samama (Hrsg.), Dents, dentistes et arts dentaire: Histoire, pratiques et représentations. Antiquité, Moyen Âge, Ancient Régime, Paris 2012.
8 S. 97: Ilberg, J., Die Ärztschule von Knidos, S. 11: Demont, P., Humoural Medicine; S. 182: alle drei Fußnoten im Haupttext falsch nummeriert; S. 194: zwei Titel von van Eijk mit Jahr 2005, die bei Zitation nicht unterschieden werden; S. 427, Anm. 20: Hinweis auf Anmerkung 18 falsch (gemeint ist Anm.16); S. 462 (Index Locorum), vier Verweise bei Galen, Nat.Fac. auf „S. 346, n. 45“ falsch, da diese Verweisstelle nicht existiert.

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