Die Arbeit ueber das Wiener Buergerspital im 13.-15. Jh.verdient allgemeines Interesse, da sie zwar am lokal begrenzten Material erarbeitet ist, in Zugang und Ausblick aber nichts mit den gebraeuchlichen Produkten des Genus Lokalforschung gemein hat. Sozial- und Mentalitaeten-, Wirtschafts- und Religionsgeschichte gehen hier eine Verbindung mit Verwaltungsgeschichte und hilfswissenschaftlich-quellenkundlicher Arbeit ein, wenn man diese Kategorisierungen verwenden will. Die relative Kuerze des Buches garantiert, dass man hier nicht mit zahllosen Wiener Strassen- und Flurnamen, ausserhalb dieser Stadt unbekannten Personen und sonstigem von lokalem Interesse ueberhaeuft wird. Sicher kommen die reichen Quellen immer wieder zu Wort und wahren den konkreten Lokalbezug, aber der Blick geht auf das Grundsaetzliche. Im Mittelpunkt steht weniger die Geschichte des Spitals als die Untersuchung, wer einen solchen Wirtschaftskoerper mit religioes-karitativer Aufgabe betrieb, wie und warum man das tat, wer auf welche Weisen davon profitierte - all das in zeitlicher Differenzierung -, wie die grossen Entwicklungsbahnen liefen und wie man mit den Quellen in ihrer jeweiligen Eigenart umgehen kann. Von der einfachen Anschauung, dass etwas, das in einer Urkunde festgehalten ist, auch wirklich so gewesen sein muesste, hat man laengst Abschied genommen, und die Interpretation der Quellen aus ihren Entstehungs- und Ueberlieferungsbedingungen ist auch ein Grundzug dieser Arbeit.
Das Wiener Spital entstand im 13. Jh. im Umfeld der staedtischen Spitzengruppen und war ein Pfruendnerhaus wie viele andere auch. Ein von demselben Gruppe getragener Reformschub im fruehen 14. Jh. ist fuer die guenstige Quellenlage verantwortlich. Bis ins 15. Jh. war das Haus ein Wirtschafts- und Herrschaftsinstrument der Ratsbuerger, das sich sozialkaritativ legitimierte und neben Pfruendnern auch eine namhafte Zahl von Armen beherbergte. Stiftungen, v.a. aber eine kluge Anlagepolitik der wirtschaftlich erfahrenen Verantwortlichen, brachten ihm bzw. den Betreibern reichen Grund- und Rentenbesitz, der als Kapital, aber auch fuer die Naturalversorgung der Hausinsassen genutzt werden konnte. In 15. Jh., das wieder eine quellentraechtige Verwaltungsreform brachte, verlagerte sich der Charakter der Institution immer mehr zu einer kommunalen Fuersorgeanstalt mit viel Dienstpersonal und schliesslich auch mit regelmaessiger medizinischer Betreuung. Nachdem die vor der Stadtmauer gelegenen Gebaeude 1529 aus militaerischen Gruenden zerstoert wurden und das Spital dauernd in die Stadt uebersiedelte, wurde dieser Charakter in der ferdinandeischen Stadtordnung festgeschrieben. Der Posten des Spitalmeisters, urspruenglich eine Stufe im cursus honorum der Ratsbuergerfamilien, war schon zuvor zu einem lohnempfangenden Amt unter Kontrolle des Stadtrates geworden.
Die reichen und vielfaeltigen Quellen, die die Basis der Untersuchung bilden, haben sich vor allem im Wiener Stadt- und Landesarchiv erhalten. Originale Urkunden, Kopial-, Dienst- und Rechnungsbuechern, ein Verwaltungshandbuch mit Normtexten, Musterabrechnungen, Personallisten u. a. des 15. Jh. bilden die Hauptmasse. Ergaenzend sind die vor dem Stadtrat eroeffneten Testamente, in denen das Buergerspital bedacht wurde, wichtig.
In einem eigenen Kapitel werden diese Quellen hinsichtlich ihrer Entstehung, ihrer Verbindungen untereinander, ihrer Ueberlieferung, ihrer Verwendung und Eigenart, aber auch ihrer anzunehmenden Realitaetsnaehe (oder -ferne) und ihres Wahrnehmungshorizonts analysiert. Die vielen Aenderungen und Differenzierungen ihrerseits werden nicht nur zur formalen Kategorisierung und direkten Auswertung herangezogen, sondern als Ausdruck der Interessen, Beduerfnisse und Moeglichkeiten der Akteure, aber indirekt auch der verwalteten Armen, aufgefasst und interpretiert.
Die Ausagen, die sich ueber das Angebot des Spitals, die Stifter und ihre Motive, die wenigen wohlversorgten Pfruendner beiderlei Geschlechts und die zeitweise wohl ueber 200 Armen und Kranken und deren Lebensbedingungen - in eigenen Appartements oder im Grossraum; mit eigenen Koechen und guter Verpflegung oder mit eintoeniger Standardversorgung, die gelegentlich durch Stiftungen aufgebessert wurde, welche manchmal auch die Moeglichkeit zum Baden eroeffneten; mit eigenen Pflegern oder, immerhin, einer im Lauf der Zeit zunehmenden Zahl an Hilfsdiensten vom Arzt ueber Ammen bis zu Abtritt-Entlehrern - machen lassen, fuellen ein eigenes Kapitel. Materielle und religioese Aspekte, Geld, Nahrung und Seelenheil, und, quasi dazwischen, die Stiftung an das Spital als soziales Kapital sind nicht zu trennen. Die Durchfuehrung der Jahrtage, Begraebnisse, und Prozessionen bietet plastische Einblicke in das religioese und soziale Leben, die vorgesehenen Kontrollen und die konkreten Abrechnungen zeigen ernuechternd die oft sehr kurze Laufzeit ewiger Stiftungen. Oft wurden sie nutzbringend in Liegenschaften angelegt. Das Spital betrieb auch Muehlen, eine Badstube in der Stadt, hatte grosse Ressourcen an Wein und Getreide und monopolisierte das Bier. Das Haus selbst und seine Ausstattung werden durch Bauausgaben, Inventare und Pfruendvertraege greifbar.
Die wirtschaftliche Taetigkeit bestand keineswegs im frommen Warten auf Zuwendungen. Das Spital war als Empfaenger, Kreditgeber und wohl auch Strohmann voll in die Finanzoperationen der Oberschicht integriert und wurde, nicht zu seinem Schaden, dafuer instrumentalisiert. Es liegt in der Natur der Sache, dass solche Vorgaenge nur mit einigem Aufwand zu entschleiern sind, wie aus einigen praesentierten Beispielen zur Wirtschaftsstrategie hervorgeht. Erwerbs-Chancen boten auch erfolgreich gefuehrte Prozesse um versessene Dienste, weiters Leibrentenvertraege, bei denen sich Buerger durch die Uebereignung von Besitz eine Alterspension bei der stabilen Institution sicherten, ohne dort Wohnung zu nehmen. Spirituelle Versorgung als Angebot, Erwerb von Ablaessen und kirchlichen Rechten und nicht quantifizierbares Prestige gehoeren zumindest zum Teil auch hierher.
Diese Verbindung der Aspekte zu einem ganzheitlichen Geflecht, ihre Rueckkoppelung an die Quellen und deren Genese wie an die verfolgbare Praxis ohne Scheu vor dem Ueberschreiten fachspezifischer Schrebergartenzaeune machen das Buch anregend und wertvoll. Wahrnehmungs- und Interessenshorizonte, Mentalitaeten, rechtliche und soziale Verhaeltnisse, Froemmigkeit und Seelenbeduerfnisse, Wirtschaftspraktiken, Alltagsleben und Realien, Quellengenese und Verwaltung als Spiegel der Lebenspraxis, die Anwendung bewaehrter quellenkritischer Methoden und mittlerweile auch schon bewaehrter rezenterer Ansaetze der internationalen Forschung (z. B. Memoria, soziales Kapital neben oekonomischem, die ohnehin anklingende comptabilite de l'au-dela Chiffoleaus) sollten dem vielfach innovativen Buch einen grossen Kreis an Leser/innen sichern. Die Anregungen sollten aufgenommen werden.