Der vorliegende Band ist eine Festschrift zu Hans-Ulrich Wehlers 65. Geburtstag. Sein Titel "Nation und Gesellschaft in Deutschland" verdankt sich eher den leitenden Forschungsinteressen Wehlers als dass er die vorliegenden Beitraege treffend zusammenfasst. Wer die einzelnen Artikel auf ihren aeusseren Zusammenhang hin durchmustert, muss zu einem ernuechternden Ergebnis kommen. Mit ansteigender Seitenzahl nimmt die Kohaerenz eher ab. Stehen am Beginn noch Texte mit engem Bezug zur Nationalisierung der deutschen Gesellschaft (James Sheehan, Dieter Langewiesche), so untersucht Hans Mommsen die Ueberwindung der nationalstaatlichen Gliederung Europas im deutschen Widerstand der NS-Zeit, und Juergen Habermas argumentiert demokratietheoretisch gegen ein substantielles Nationsverstaendnis. Gleich zwei Beitraege wenden sich dem deutschen Staatsbuergerschaftsrecht zu (Wolfgang J. Mommsen, Henry A. Turner). Gegen Ende bietet der Band unter der allgemeinen Ueberschrift "Krisen und Konflikte der buergerlichen Gesellschaft" nur lose miteinander verkoppelte Problemanalysen, die nur sehr vermittelt mit der Nationsproblematik in Zusammenhang stehen. So beschaeftigt sich der herausragende und praezise Artikel von Klaus Tenfelde mit der Reproduktion und Konkurrenz der Sozialmilieus in Deutschland. Selbst der im Titel angekuendigte Bezug auf Deutschland ist nicht immer gewahrt. Dietrich Geyer geht dem Nationalismus in Russland nach, Wolfgang Schieder der Krise der italienischen Gesellschaft im Faschismus.
Dergleichen Maekeleien am aeusseren Zusammenhang treffen indessen auf die meisten Festschriften zu. Vielleicht sind sie sogar in gewissem Sinne unvermeidlich. Viel interessanter gestaltet sich die Lektuere, wenn man den Band auf den inneren Zusammenhang mit dem Werk Wehlers hin liest. Eine Festschrift fuer Hans-Ulrich Wehler zum Ende seiner aktiven Laufbahn als Hochschullehrer erlaubt daher auch eine Bilanz zur Breitenwirksamkeit und Rezeptionsgeschichte seiner Grundannahmen wie auch zur Kohaerenz dessen, was man die `Bielefelder Schule' genannt hat. Das Buch draengt geradezu die Frage nach dem bleibenden Einfluss Wehlers im Kollegenkreis genauso wie nach den Verbindlichkeiten linksliberaler Geschichtswissenschaft am Ende des 20. Jahrhunderts auf. Die Autoren duerfen alle dem engeren oder weiteren Umkreis der Bielefelder Schule zugerechnet werden. Laesst sich hier ein innerer Zusammenhang erkennen? Grob gesprochen verbinden zwei Anliegen die thematisch weit auseinanderliegenden Beitraege.
1. "Die Nation ist ein Konstrukt der Nationalisten." Dieser methodische Ansatz findet sich in allen neueren Beitraegen Wehlers zum Thema Nation und Nationalismus. Er durchzieht geradezu wie ein cantus firmus seine Arbeiten zur Nation. "Nicht die Nation ist es, die den Nationalismus hervorbringt. Vielmehr besitzt der Nationalismus die Prioritaet, denn ihm eignet die Faehigkeit, sich die Nation zu schaffen." (Hans-Ulrich Wehler, Der deutsche Nationalismus bis 1871, in: ders. [Hg.], Scheidewege der deutschen Geschichte, Muenchen 1995, 116-29, 116). Zwei Autoren nehmen diesen Ansatz explizit auf: James Sheehan interpretiert Deutschland als eine imagined community, getreu dem Klassiker der Nationalismusforschung von Benedict Anderson "Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism" (London Revised Edition 1991). Sheehan zeichnet eingangs eindruecklich die Rolle der Intellektuellen bei der Entstehung des Nationsgedankens im 18. und fruehen 19. Jahrhundert nach. Die Grenzen ihrer Konstruktionsleistung zeigt Sheehan anhand des Verhaeltnisses der Nation zum modernen Staat nach. Die Form- und Manipulierbarkeit des deutschen Nationsbegriffes begruendete - so seine zentrale These - eine durchaus ambivalente Haltung der Nation zum Staat: Die Nation konnte sowohl zur Legitimation des Staates als auch zu seiner Subversion eingesetzt werden. Sheehans Ueberlegungen fuehren ueber den konstruktivistischen Ansatz hinaus. Dessen Bedeutung sieht er in der Ausbildung eines fruehen deutschen Nationsverstaendnisses, nicht jedoch in der Definition eines Nationalstaates. Staat und Nation waren aber auch nach der Nationalstaatsgruendung von 1871 nicht deckungsgleich. "Gesetze und staatsbuergerliche Institutionen vermoegen nur selten jenes maechtige, aber fluechtige Gefuehl der Zusammengehoerigkeit zu vermitteln, das imaginierte Gemeinschaften versprechen. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft verschwindet nach der Schaffung eines Nationalstaates keineswegs; sie mag vergessen oder ersetzt werden, aber nie ganz erfuellt" (S. 43). Die fatalen Auswirkungen der verschiedenen Inhalte und Ausdehnungen von deutschem Staat und Nation im 20. Jahrhundert verweisen aus dieser Sicht auf die Diskrepanz zwischen den Gemeinschaften, die Nationalisten sich vorstellen koennen, und den Staatsgebilden, in denen sie leben muessen.
Dieter Langewiesche wendet sich den populaeren Geschichtsbildern zu, die dem Prozess der kulturellen Nationsbildung in Deutschland zugrunde lagen. Auch hier ist die Nation eine vorgestellte Gemeinschaft, vorzugsweise vermittelst der Geschichtskaempfe des 19. Jahrhunderts. Langewiesche ist in erster Linie an den Geschichtsbildern interessiert, die den foederativen Aspekt in der deutschen Nationalbewegung betonten. Ihm ist es darum zu tun, den nicht-unitarischen Charakter der deutschen Nationalbewegung bis in das Reichsgruendungsjahrzehnt hinein nachzuzeichnen: Dies unternimmt er anhand der Schillerfeiern und Schuetzenfeste. "Die buergerliche Fest-Nation verherrlichte sich als maechtige Geschichtskraft, aber sie gab sich nicht republikanisch und nicht zentralistisch" (S. 52). Ihre soziale und regionale Breite wird in mehreren Aspekten ausgefaltet: Die feiernde Nation kam zusammen unter dem Motto "Das ganze Deutschland soll es sein" und suchte doch den Schulterschluss mit den Fuersten. "Die Schuetzen-Nation war maennlich, aber sie feierte mit der Familie. ... Das nationale Fest wurde in fest umgrenztem Raum begangen, aber es bezog die Stadt mit ein" (S. 58). Erst nach der Reichsgruendung trat dieser antizentralistische Zug der Nationalbewegung zurueck. Noch 1872 brachte das Denkmal Friedrich Ludwig Jahns, das sich die buergerliche Nationalbewegung auf der Berliner Hasenheide setzte, ihre Ueberzeugungen plastisch in Erinnerung. Die Repraesentanten des neuen Nationalstaates, Kaiser und Kronprinz, verweigerten indessen die Teilnahme an den Einweihungsfeierlichkeiten. Die preussische Monarchie brueskierte die buergerliche Nationalfeier und errichtete im Jahr danach ihr eigenes Nationaldenkmal, die Siegessaeule. Das Ergebnis Langewiesches deutet in die Richtung Sheehans: Die Ambivalenz des deutschen Nationsgedankens bewirkte, dass sich bis 1914 massen- und breitenwirksam weder ein monarchisches noch ein buergerlich-liberales Geschichtsbild noch ein entsprechender Nationskult durchsetzen konnte. Erst die voelkische Nation erwies sich als Integrationsklammer ueber alle Graeben. Beide Beitraege nehmen die Einsicht in den konstruktiven Charakter nationaler Identitaet auf, legen den Akzent jedoch eher auf die Grenzen der Konstruktionsleistungen, sobald sie auf den Staat trifft beziehungsweise im etablierten Nationalstaat agiert. Die Konstruktion nationaler Identitaet fand - je laenger je mehr - politische Rahmenbedingungen vor.
2. "Politics matter." In ihrer Zielrichtung ist den meisten in diesem Band versammelten Beitraegen ein Interesse an der politischen Dimension der Geschichte eigen. Wenn Dieter Langewiesche sich der "kulturellen Nationsbildung" zuwendet, so liegt die Sinnspitze seines Beitrages in der politischen Vielfalt und im Wandel des deutschen Nationsbegriffes. Die Mehrzahl der Beitraege zu "Nation und Staat", "Inklusion und Exklusion" sowie "Krisen und Konflikten der buergerlichen Gesellschaft" hat einen politischen Ausgangspunkt oder Gegenstand. Deutlich ist dies in den Beitraegen von Hans Mommsen ueber den deutschen Widerstand, von Wolfgang J. Mommsen zum Staatsangehoerigkeitsgesetz vom 22. Januar 1913 und von Helmut Berding ueber den Antisemitismus. Ganz explizit steht die Politik im Mittelpunkt der Ueberlegungen von Gerald Feldman zu politischen Kultur in der Weimarer Republik, von Heinrich A. Winkler zur sozialdemokratischen Politik der Buergerkriegsvermeidung vor 1933, sowie bei Hans-Juergen Puhle (Zukunft der Volksparteien) und Hartmut Zwahr (Demonstrationen in der DDR 1989). Diese Beitraege beziehen zwar vor allem oekonomische und teilweise kulturelle Faktoren mit ein, allerdings nur insofern als sie fuer politische Institutionen und Entscheidungen relevant wurden. Das gesellschaftsorganisierende Zentrum bleibt in diesen Beitraegen die Politik.
Gerade wenn man den Band als Ganzes nimmt und eine gewisse Naehe zum Wehlerschen Projekt der Gesellschaftsgeschichte unterstellt, faellt auf, wie wenig sich hier - bis auf Ausnahmen bei Langewiesche und Tenfelde - von der vieldiskutierten kulturgeschichtlichen Erweiterung der Sozialgeschichte findet. Nur sehr vermittelt und in keinem einzigen Beitrag durchgaengig wird dem neuen sozialwissenschaftlichen Verstaendnis von Kultur Rechnung getragen, wie es in "Geschichte und Gesellschaft" seit Jahren und juengst wieder im Sonderheft "Kulturgeschichte heute" (Hg. Wolfgang Hardtwig u. Hans-Ulrich Wehler, Goettingen 1996) herausgestellt wurde. Kultur - so wurde von Ute Daniel eindringlich in der von Hans-Ulrich Wehler herausgegebenen "Geschichte und Gesellschaft" gefordert - sollte naemlich nicht mehr nach dem ancilla-Modell die Wassertraegerin einer verfeinerten politischen Sozialgeschichte sein. Kultur uebernimmt vielmehr die Rolle eines "Korrektiv(s) sozialwissenschaftlicher Praxis, die `dazu neigt, Menschen wie Maeuse zu behandeln'". Sie steht fuer "`das System kollektiver Sinnkonstruktion, mit denen die Menschen Wirklichkeit konstruieren'", "d.h. jenen Komplex von allgemeinen Vorstellungen, mit denen sie zwischen wichtig und unwichtig, wahr und falsch, gut und boese sowie schoen und haesslich unterscheiden." (so Friedhelm Neidhardt zit. in: Ute Daniel, 'Kultur' und 'Gesellschaft'. Ueberlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), 69-99, 72). Den so oft der Teleologie, der Politiklastigkeit und des Strukturfunktionalismus gescholtenen Vertretern der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte haette sich an diesem sinnfaelligen Ort die Chance geboten, dem entgegenzutreten. Gerade wer der Rekonstruktionsfaehigkeit des Programms Gesellschaftsgeschichte und des Anliegens kritischer Geschichtswissenschaft sympathisch gegenueber steht, wird diese vertane Chance bedauern. Mission impossible?
Wohl kaum. Der kritische Impetus des Nestors kritischer Geschichtswissenschaft und der hier versammelten Historikergeneration wurde von Anfang an politisiert. Wehler und seine Kollegen traten unter dem Eindruck an, dass die Demokratie in Deutschland staendig gefaehrdet war. Der Historiker hatte also Partei fuer Demokratisierungsprozesse zu ergreifen. Viele der Autoren wuerden denn auch im besten Sinne als politische Professoren zu bezeichnen sein, die am oeffentlichen politischen Diskurs teilnehmen. Einige fanden sich 1986 im Historikerstreit auf derselben Seite wieder. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie sich die Frage nach kultureller Sinnproduktion verboten sein lassen. Ihre kritische Auffassung von Geschichtswissenschaft musste sich in den 1960er und 1970er Jahren erst durchsetzen gegen ein Zuviel an Sinnbezuegen, gegen eine noch weithin geteilte Identitaet von Geschichtswissenschaft und nationaler Identitaet, kurz: gegen einen selbstgewissen und unkritischen Umgang mit Geschichte. Wo Sinnbehauptungen auftauchten, wurde daher nach den Konstrukteuren, nicht nach Inhalten gefragt.
Es ist kein Zufall, dass der einzige Nichthistoriker unter den Autoren Juergen Habermas ist, der im Historikerstreit die Rolle des Widerparts zu Ernst Nolte uebernahm. Anders als seine Historikerkollegen stellt sich der Sozialphilosoph Habermas der Identitaetsfrage, fasst sie jedoch prozedural und wendet sich unverdrossen gegen jedwedes substanzhafte Gemeinschaftsverstaendnis. Das Individuum darf zwar sinnhafte Identitaet suchen, bleibt aber auf einen sich diskursiv fortzeugenden Prozess verwiesen, der kein Innehalten erlaubt. Habermas entdeckt seinen Widerpart in Ernst-Wolfgang Boeckenfoerde, der wiederholt fuer die Beibehaltung eines "emotional bindungsfaehigen Wir-Bewusstseins" plaedierte, um die Staatsbuergerloyalitaet abzusichern. Seine Antwort auf die Frage nach sinnhafter Identitaet lautet anders: "differenzempfindliche Inklusion". Er steuert auf eine Nation von Staatsbuergern zu, die sich aus Personen zusammensetzt, "die infolge ihrer Sozialisationsprozesse zugleich die Lebensformen verkoerpern, in denen sich ihre Identitaet ausgebildet hat - auch dann noch, wenn sie sich als Erwachsene von der Tradition ihrer Herkunft geloest haben" (S. 125). Gegen gesellschaftliche Prozesse der Entsolidarisierung bietet Habermas die soziale Kohaerenz von etablierten Lebenswelten auf, die staatsbuergerlich zusammengehalten werden. Gesellschaftstheoretisch wird damit die Argumentationslast an die Lebenswelten weitergegeben, die Nation faellt als Produzent von Solidaritaet aus. Die harte Waehrung, die Solidaranstrengungen motiviert, wird nicht mehr an den Schreibtischen nationaler Identitaetskonstrukteure, sondern in der Gesellschaft gepraegt. In dieser differenzierenden Fassung des Verhaeltnisses Nation und Gesellschaft wird die Antithese zur lange Zeit vorherrschenden Identifizierung von Nation und Gesellschaft formuliert. Habermas bringt damit ein Grundanliegen Wehlers und seiner hier versammelten Kollegen praegnant auf den sozialphilosophischen Punkt.
Dennoch: Es muss die Frage erlaubt sein, ob dergleichen Dichotomien noch aktuell sind, ob sie sich nicht vielmehr der Entstehungszeit kritischer Geschichtswissenschaft verdanken und modifiziert werden sollten. Kritische Geschichtswissenschaft hat heute kaum mehr den verbohrten Historisten und nur noch vereinzelte Apologeten zum Gegenueber. Eine gar nicht mehr so neue Unuebersichtlichkeit und weitgehende Orientierungslosigkeit kennzeichnen nicht nur Politik und Gesellschaft, sondern auch die Geschichtswissenschaft. Die allzu lieb gewordenen Gegner sind abhanden gekommen. Wie aber versichert sich kritische Geschichtswissenschaft am Ausgang des 20. Jahrhunderts ihrer Werturteile ohne Sinnrekonstruktion? Kann kritische Geschichtswissenschaft ihrer begrifflichen Ausweispflicht genuegen, wenn sie Sinngehalte ausschliesslich unter dem Gesichtspunkt interessengeleiteter Definitionsmaechte behandelt?