Cover
Titel
Yearnings in the Meantime. 'Normal Lives' and the State in a Sarajevo Apartment Complex


Autor(en)
Jansen, Stef
Reihe
Dislocations 15
Erschienen
New York 2015: Berghahn Books
Anzahl Seiten
262 S., 17 Illus.
Preis
€ 88,04
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Jens Adam, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin

Stef Jansen führt seine Leser/innen nach Dobrinja – eine Siedlung am westlichen Ende von Sarajevo, die als letztes großflächiges Projekt der sozialistischen Stadterweiterung in den 1970er- und 1980er-Jahren entstanden ist und damals etwa 32.000 Menschen Quartier bot. Die Zukunftsversprechen der sozialistischen Moderne sind Dobrinja ebenso eingeschrieben wie die Spuren des letzten Krieges: So hat sich etwa die Bewohnerzahl deutlich reduziert und ihre demografische Zusammensetzung nachhaltig verändert; einige der Kriegsschäden an den Gebäuden sind bis heute nicht beseitigt und die Leben der „Dobrinjci“ sind von den ökonomischen, infrastrukturellen und bürokratischen Unzulänglichkeiten geprägt, die das im Zuge des Friedensschlusses von Dayton entstandene politische Konstrukt Bosnien-Herzegowina hervorruft. In den Jahren 2008–2010 realisierte Stef Jansen mehrere ethnografische Feldforschungen in Dobrinja, um in Alltagssituationen, Konfliktkonstellationen sowie in den Erzählungen und Schlussfolgerungen seiner Gesprächspartner/innen „dem Politischen nachzuspüren“.1 Als Ergebnis ist ein theoretisch unterlegtes, empirisch dichtes und analytisch scharfsichtiges Buch entstanden, das die „Beziehung zwischen der Sehnsucht nach ‚normalen Leben’ und den zeiträumlichen Ordnungsprozessen von Staatlichkeit (statecraft)“ (S. 8) ins Zentrum rückt. Das Buch stellt einen maßgeblichen konzeptionellen und methodologischen Beitrag zu einer Anthropologie des Politischen dar und führt zugleich Überlegungen zu der Analyse von Transformationsprozessen in postsozialistischen und post-Kriegs-Kontexten gewinnbringend zusammen (S. 34ff. und S. 84). Namentlich drei innovative Perspektiven erweisen sich als besonders anschlussfähig für die Weiterführung solcher Diskussionen und ähnlich gelagerter Forschungsvorhaben:

Grundlegend ist erstens die Entwicklung und Operationalisierung eines emischen Begriffs vom „normalen Leben“ (S. 1 und Kapitel 1): Denn die Vorstellung von einem abnormalen Zustand – von einer Art Zwischenzeit, die auch im Buchtitel Erwähnung findet –, in dem sich die Leben in Bosnien-Herzegowina aktuell ereignen, stellt ein Leitmotiv sowohl der Alltagsdiskussionen der Dobrijci zu unzureichenden infrastrukturellen Anbindungen (Kapitel 2) oder unzuverlässigen Hausverwaltern (Kapitel 4) als auch der Äußerungen seiner Interviewpartner/innen dar. Die allgegenwärtige Frage „Wo gibt es denn so was?“ (S. 16f.) führt regelmäßig zu Klagen über die gegenwärtige Staatlichkeit, die Jansens Gewährsleute durchgängig als „pathologisch“ wahrnehmen und diskutieren. Den beiden zentralen Symptomen, die in solchen Alltagsanalysen vorgebracht werden – das Fehlen eines Systems klarer politischer Zuständigkeiten sowie das Gefühl der kollektiven Stagnation – sind zwei Kapitel (4 und 5) gewidmet. Jansen arbeitet hierbei die zeitliche Dimension dieser Reflexionen überzeugend heraus: die Gegenfolien für die abnormale Gegenwart, die befriedigende Lebensläufe kaum möglich macht, bilden einerseits die Erinnerungen an eine funktionierende Staatlichkeit im sozialistischen Jugoslawien sowie andererseits eine in der Zukunft verortete Idealvorstellung (S. 37ff.), die 20 Jahre nach Kriegsende so weit in die Ferne gerückt ist, dass Jansen seinen ursprünglichen Begriff des „Hoffens“ durch „Sehnen“ – verstanden als eine zaghafte, aktuell kaum greifbare Erwartung von Menschen in einem politisch produzierten „Warteraum“, dass ein Hoffen auf „normale Leben“ zu einem späteren Zeitpunkt wieder möglich sein wird (S. 55ff.) – ersetzt hat. Bemerkenswert sind zwei Vorschläge, die Jansen zur Analyse dieser Beziehung zwischen „normalen Leben“, „Sehnen“ und „Staatlichkeit“ entwickelt: Zum einen führt er eine analytische Unterscheidung zwischen „statehood“ und „statecraft“ ein – der erste Begriff zielt dabei auf Diskussionen und strukturelle Arrangements, die um den ontologischen Status eines Staates kreisen; der zweite Terminus fokussiert hingegen die konkrete oder erwünschte Praxis staatlicher Instanzen und somit die Präsenzen staatlichen Handelns im Alltag (S. 12). Jansen konstatiert einen deutlichen Kontrast zwischen den Äußerungen und Erwartungen seiner Interviewpartner und den dominanten Diskussionen des politischen Feldes in Bosnien: Demnach interessieren sich die Dobrinjci weniger für den ontologischen Status eines Landes, in dem sich drei, weitgehend unvereinbare, ethnonationale Projekte kreuzen, sondern sehnen sich vielmehr nach funktionierenden, staatlich getragenen Infrastrukturen, sozialen Sicherungssystemen und bürokratischen Ordnungen. Jansen nimmt eine „Verlangsamung des interpretativen Prozesses“ (S. 14) vor, indem er eben dieser Perspektive folgt, die (reale, erwünschte oder fehlende) Präsenz staatlichen Handelns in menschlichen Alltagen ins Zentrum rückt und somit den üblichen Schritt in die Auseinandersetzungen über die ontologische Verfasstheit Bosniens hinauszögert. Zum anderen setzt sich Jansen kritisch mit dem innerhalb der Anthropologie dominanten „dichotomen Modell“ (S. 107) auseinander, das „Staatlichkeit“ primär als eine top-down Unternehmung konzipiert und die Widerständigkeit oder Opposition von Menschen und Gemeinschaften gegen hiermit verbundene Regulierungstechniken und Machtzumutungen ins Zentrum der Analyse rückt.2 In Dobrinja zeigen sich die Vorstellungen vom „normalen Leben“ so eng mit der Idee einer funktionierenden Staatlichkeit verbunden, dass eben die Abwesenheit und Auffächerung staatlicher Strukturen in der Nachkriegsordnung als Problem erlebt werden. Entsprechend beobachtet Jansen kaum Versuche, sich dem Staat zu entziehen, sondern vielmehr ein Sehnen nach einer stärkeren Präsenz sowie einer stärkeren Verwobenheit mit staatlich getragenen Netzwerken (S. 154). Auf dieser Basis positioniert Jansen seine Studie als Beitrag zu einer Anthropologie des Staates, welche das dichotome Modell relativiert, indem e die Hoffnungen von Menschen auf „statecraft“ sowie ihr Engagement für eine funktionierende Staatlichkeit fokussiert (S. 107).

Diese Überlegungen führen zu einer zweiten innovativen Perspektive: Jansen entwickelt den Begriff „gridding“, um das Sehnen nach „normalen Leben“ auf einer praxeologischen und prozessualen Ebene greifbar zu machen und mit der Frage nach Staatlichkeit zu verbinden. Unter „grids“ versteht Jansen „ordnende Rahmen“ – ob nun einen funktionierenden Nahverkehr, ein etabliertes Bildungssystem oder eine zuverlässige Verwaltung –, in denen sich „normale Leben“ entfalten können (S. 69). Jedenfalls erachten die Dobrinjci solche Netze als unerlässlich und erinnern entsprechend den Ausbruch des Krieges gerade auch als einen „sudden shock of ungridding“ (S. 114), da die Versorgung mit Wasser, Strom, Nahrung oder das Funktionieren öffentlicher Institutionen und Verwaltungen zusammenbrachen oder unzuverlässig wurden. Am Beispiel der Selbstorganisation eines improvisierten Schulsystems in dem belagerten und zugleich isolierten Stadtteil beschreibt Jansen „gridding“ als einen Prozess, der nicht von einem lokalen, zivilgesellschaftlichen Autonomiebestreben zeugt, sondern ganz im Gegenteil stark auf die Imitation einer vertrauten statecraft und auf die Verknüpfung mit den Restbeständen überlokaler Netze in dem kriegsdurchzogenen Land ausgerichtet war (Kapitel 3). In Dobrinja zeigt sich „gridding“ somit eng mit historisch unterlegten Visionen einer „normalen“ Staatlichkeit verbunden; Jansen betont aber zugleich, dass anders gelagerte Dynamiken denkbar sind: „gridding“ stellt somit ein anschlussfähiges Konzept für das anthropologische Interesse an der kollektiven Erarbeitung „ordnender Rahmen“ in den unterschiedlichsten zeiträumlichen Konstellationen dar.

Drittens entwickelt Jansen maßgebliche Perspektiven auf „Zeitlichkeit“ als einer ethnografisch-anthropologischen Zielgröße: So wendet er sich grundlegend gegen die wirkmächtige kulturalisierende Betrachtungsweise, die Bosnien-Herzegowina primär räumlich konzipiert und hier ein besonderes „übertragenes System von Bedeutungen“ sowie die Dominanz einer „identitären Matrix“ verortet (S. 21). In Abgrenzung hierzu betont er „Zeitgenossenschaft“ („coevality“): Demnach teilt er mit seinen Forschungspartner/innen die gleichen historischen Umstände und unterscheidet sich von ihnen weniger durch die „andere Kultur“, sondern vielmehr durch die andere zeiträumliche Positionierung als Anthropologe aus dem „Zentrum“ (S. 20). Von diesem Ausgangspunkt fragt Jansen nach den zeitlichen Dimensionen der Vorstellungen vom „normalen Leben“, nach der Unterbrechung etablierter biografischer Rhythmen und Bewegungsbahnen durch den Krieg sowie nach den geopolitischen Rahmenbedingungen, die „Orte“ erschaffen, in denen Leben „auf Eis gelegt werden“3 (S. 174; siehe das gesamte Kapitel 5). Entsprechend positioniert er sein Buch nicht als eine Studie zu einem abgrenzbaren (Kultur-)Raum „Bosnien“, sondern zu der geopolitsch produzierten „Dayton BiH Meantime“. Hervorzuheben bleibt noch seine Analyse der „temporal reasonings“ seiner Forschungspartner/innen, die er als Produkte eben dieser zeiträumlichen Konstellation untersucht – anders formuliert: die unterbrochenen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft, das Sehnen nach einer funktionierenden Staatlichkeit, das verbreitete Gefühl „auf der Stelle zu treten“ und die Kriegszeit noch nicht wirklich hinter sich gelassen zu haben sowie das Unvermögen, „normale Leben“ zu leben, verweisen in einem großen Maße auf die politisch-ökonomische Ordnung eines Landes, die im Zuge des international ausgehandelten Friedensschlusses „in the shrinking EU’s immediate outside“ erschaffen worden ist (S. 179).

Zusammenfassend bleibt das Erscheinen eines beeindruckenden, überaus klugen Buches anzuzeigen, das den anthropologischen Diskussionen zu den Bedingungen von „Hoffnung“, zu Staatlichkeit, zu den Transformationen des zeitgenössischen Europas sowie zu der grundlegenden Frage nach der Erforschbarkeit der Beziehungen zwischen „Alltagen“ und dem „Politischen“ eine Vielzahl von produktiven Anknüpfungspunkten bietet.

Anmerkungen:
1 Hier im Anschluss an: Yael Navaro-Yashin, „Life Is Dead Here“: Sensing the Political in No-Man’s Land“, in: Anthropological Theory 3 (2003), S. 107–125.
2 So etwa in den Studien von James Scott oder David Graeber.
3 Auch hier wieder im Anschluss an Yael Navaro-Yashin, wie in Anmerkung 1.