Titel
Heirat als Privileg. Obrigkeitliche Heiratsbeschraenkungen in Tirol und Vorarlberg 1820-1920


Autor(en)
Mantl, Elisabeth
Reihe
Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 23
Erschienen
München 1997: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
266 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helga Zoettlein, Kassel

Kirchliche und staatliche Heiratsbeschraenkungen regelten in regional unterschiedlicher Auspraegung teilweise bis in das 20. Jahrhundert die Moeglichkeiten von Frauen und Maennern, eine legitime Ehe zu schliessen. In der Forschung wurde dieses Thema bisher in Einzelstudien zum Thema Ehe oder Unzucht beruecksichtigt, aber kaum systematisch untersucht. Die Autorin hat damit fuer ihre Dissertation - die von Klaus Tenfelde (Bielefeld) betreut wurde - ein Forschungsgebiet gewaehlt, das bisher von der Geschichtswissenschaft vernachlaessigt wurde: die Zielsetzung und Wirkungsmoeglichkeit staatlicher Heiratsbeschraenkungen. Waehrend in protestantischen Territorien des Alten Reiches wie z. B. Hessen-Kassel bereits seit dem 18. Jahrhundert heiratswillige Paaren zahlreiche Voraussetzungen erfuellen mussten, bevor sie eine Ehe eingehen konnten, war in Oesterreich noch im Buergerlichen Gesetzbuch von 1812 die Eheschliessungsfreiheit festgelegt. Erst 1820 wurden auf Betreiben der Regionen Tirol und Vorarlberg partiell staatliche Heiratsbeschraenkungen in Oesterreich eingefuehrt. Heiratswillige Personengruppen wie Dienstboten, Gesellen, Tageloehner und Inwohner benoetigten nun einen gemeindlichen Ehekonsens. Eine Verschaerfung der Heiratsbeschraenkungen 30 Jahre spaeter (1850) ermoeglichte es der Gemeindeobrigkeit, einen Ehekonsens von allen heiratswilligen Personen zu verlangen, deren Einkommen nicht dauerhaft gesichert schien. Diese Heiratsbeschraenkungen galten bis 1921.

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Praxis der gemeindlichen Dispensvergabe. Anliegen der Verfasserin ist es, die Multikausalitaet der Heiratsbeschraenkungen in den Blick zu nehmen. Sie ordnet sie dem Heiratsverhalten zu, dass sie mit Hilfe demographischer Methoden ermittelt und setzt dies in bezug zur regionalen Arbeitsorganisation und Sozialverfassung sowie den Familien- und Haushaltsstrukturen. Quellengrundlage fuer diesen Teil der Arbeit bilden bevoelkerungsgeographische Untersuchungen und zeitgenoessische amtliche Statistiken. Die so ermittelten Heiratsmuster bilden die Folie fuer die Analyse der Ehekonsensfaelle. Hierfuer werden die Gemeinderatsprotokolle der Tiroler Gemeinden Kitzbuehl, Brixen und Hall fuer den Zeitraum 1860-1869 vollstaendig erfasst und exemplarisch ausgewertet, fuer den weiteren Zeitraum Zehnjahresstichproben vorgenommen. Beruecksichtigt werden weiterhin die oertlichen Pfarrmatrikel sowie die Berufungsverfahren. Ziel der Untersuchung ist es, den Ehekonsens "im gleichermassen strukturbedingten wie strukturpraegenden Ungleichheitssystem Eheschliessung sowohl in seiner Verursachung als auch in seiner Wirkung" (S. 24) zu verorten. Dabei werden die realen Verhaeltnisse des 'Ungleichheitssystems Eheschliessung' mit der zeitgenoessischen Debatte um Massenarmut und Bevoelkerungsanstieg kontrastiert. Leitpraemisse ist der Zusammenhang zwischen traditionellem Heiratsverhalten, Verehelichungsbeschraenkungen und wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Wandel ('Modernisierung').

Die quantifizierende Untersuchung des Heiratsverhaltens zeigt, dass fuer die Regionen Tirol und Vorarlberg spaete und wenige Heiraten charakteristisch sind. Das Heiratsverhalten war von ‘Ungleichheit’ gepraegt, da eine Eheschliessung ueberwiegend privilegierten Personengruppen wie Bauern, Besitzenden und Begueterten vorbehalten blieb. Der hier konstatierte enge Zusammenhang zwischen Besitz, sozialem Status und Eheschliessungsmoeglichkeiten erstaunt dabei nicht. Die jeweiligen Formen des Erbrechts und fehlende Alternativen zur Landwirtschaft erhoehten dabei die Ungleichheit der Heiratschancen. Sichtbar werden aber auch unterschiedliche Haushaltskonstellationen. In Gebieten mit geringer Wiederverheiratungsquote konnte z. B. der ledige Sohn oder die ledige Tochter an die Stelle des verstorbenen Elternteils treten. Eine weitere Form der Haushaltsbildung waren - insbesondere in Gebieten mit saisonaler Wanderarbeit - Geschwister- und Schwesternhaushalte, die am Ende des 19. Jahrhunderts in einzelnen Bezirken bis zu einem Drittel aller Haushalte ausmachten. Die demographische Analyse des Heiratsverhaltens nach Region, Erbrecht und Arbeitsorganisation (Viehwirtschaft, Wein- und Ackerbau, Kleingewerbe, Protoindustrie) zeigt, dass es weder zu massenhaften fruehen Heiraten kam, noch laesst sich ein hohes Bevoelkerungswachstum konstatieren. Ebenso konnte Elisabeth Mantl herausarbeiten, dass die von den Gemeinden beklagte ansteigende Belastung durch Arme aus heutiger Sicht nicht nachzuweisen ist. Vielmehr handelte es sich ueberwiegend um temporaere oder einmalige Leistungen, denn die meisten Beduerftigen wurden auch noch im 19. Jahrhundert von ihrer Familie und der Nachbarschaft unterstuetzt.

Diesem Ergebnis stehen die zeitgenoessischen Klagen der gemeindlichen Obrigkeit entgegen, die von einem eklatanten Ansteigen der Bevoelkerung und Massenarmut sprach, das sie darauf zurueckfuehrte, dass die industrielle Erwerbsarbeit Personengruppen eine Eheschliessung ermoeglichte, die bisher ledig geblieben waren. Die Einfuehrung des Ehekonsenses wurde als notwendige bevoelkerungspolitische Massnahme propagiert. Die Feststellung Elisabeth Mantls, dass dieses Argument Politik legitimierte und nicht deren Ziel war, ueberzeugt dabei. Nach Einschaetzung der Autorin zielte die Einfuehrung von Heiratsbeschraenkungen auf "die Verfestigung sozialer Ungleichheit und damit auf die Konservierung der tradierten Sozial- und Wirtschaftsordnung" (S. 93), da qualitative Veraenderungen, das "ueberlieferte Ungleichheitssystem [...] in seinen Grundfesten bedrohten." (S. 92).

Dabei wurde die Debatte um die Einfuehrung der Heiratsbeschraenkungen wesentlich von den Auseinandersetzungen um Kompetenz und Autonomie zwischen lokalen Obrigkeiten und Staat geleitet. Seit dem 18. Jahrhundert wehrten sich Regionen wie Tirol und Voralberg gegen den von der Zentralregierung eingeleiteten Verrechtlichungsprozess, mit dem regionale Zustaendigkeiten eingeschraenkt wurden. Dieser Kontext bestimmte die Interessen des Staates, der das Prinzip der Ehefreiheit foerderte, waehrend sich die Gemeinden mit ihrer Forderung nach eigenstaendiger Verwaltung der Eheschliessungen um die Wahrung ihrer Autonomie bemuehten. Diesen zentralen Punkt benennt Elisabeth Mantl zwar, fuehrt diesen Gedanken jedoch leider nicht konsequent weiter. Stattdessen betont sie mehrfach den restaurativen Charakter der lokalen und regionalen Eliten und verweist auf deren "Industrie- und Modernisierungsfeindlichkeit" (S. 140).

In der Praxis der Dispensvergabe zeigt sich, dass 50% der Antragsteller von der Gemeinde abgewiesen wurden. Die gemeindliche Konsensverweigerung wurde von den meisten Paaren akzeptiert, denn lediglich 10% der Heiratswilligen bemuehten sich erneut. Einzelne Paare beantragten jedoch bis zu acht Mal erfolglos einen Heiratskonsens.

Die Abgewiesenen konnten bei der zustaendigen regionalen Verwaltungsbehoerde (Statthalterei) Berufung einlegen. Paare, die den Instanzenweg gingen, hatten dabei grosse Aussicht auf Erfolg (90%). Dies galt insbesondere fuer die Unselbstaendigen, deren "von Besitz und Status emanzipierte Heiratsfaehigkeit" (S. 205) die Behoerden mit ihren positiven Entscheidungen gegen die Gemeinden stuetzten.

Aber auch unabhaengig von den Heiratsbeschraenkungen war es dem ueberwiegenden Teil der Maenner und Frauen im Untersuchungszeitraum nicht moeglich, sich zu verheiraten. So wurde von den meisten Gesindepersonen, Gesellen und Beduerftigen erst gar kein Ehekonsens beantragt. Die restriktive Ehekontrolle der Gemeindeobrigkeit, die Elisabeth Mantl konstatiert, bezog sich also nur auf einen bestimmten Personenkreis. Die Verfasserin geht davon aus, dass "der Konsens die Handlungsmoeglichkeiten jener Menschen einschraenkte, die aufgrund ihrer veraenderten Lebens- und Arbeitsbedingungen potentiell in der Lage waren, alternative Heiratsformen zu entwickeln" (S. 176). Diese "alternative Heiratslogik" (S. 94) zeichnete sich dadurch aus, dass sie nicht dem traditionellen Heiratsmuster entsprach, nach dem lediglich privilegierte Personengruppen eine Ehe eingingen.

Bei den Konsenssuchenden dominiert die Berufsgruppe der selbstaendigen Handwerksmeister gegenueber den unselbstaendigen Beschaeftigten im industriellen Bereich. Da diese Paare nur ueber geringen oder hochverschuldeten Besitz verfuegten, spricht die Autorin von einer "Proletarisierung der Selbstaendigenheirat" (S. 99). Im Zentrum der Heiratslogik stand die ergaenzende Lohnerwerbstaetigkeit der Eheleute. Ebenso versuchten die Unselbstaendigen (Gesellen, gelernte und angelernte Arbeiter, untere Angestellte und Beamte) eine Eheschliessung auf der Grundlage der beiderseitigen Erwerbstaetigkeit der Eheleute zu realisieren. Ein anderer Faktor der Heiratslogik war die spaete Heirat, denn der ueberwiegende Teil der Frauen, die Unselbstaendige heirateten, waren weit ueber 30 Jahre alt, daher war nur bedingt mit einer groesseren Zahl Kinder zu rechnen.

Nach Einschaetzung Elisabeth Mantls orientierten sich heiratswillige Frauen und Maenner ueberwiegend an den obrigkeitlichen Interessen, da sie wussten, dass die Ausuebung eines selbstaendigen Gewerbes, Besitz oder zu erwartendes Erbe die besten Voraussetzungen fuer den Erhalt eines Konsenses waren. Zahlreiche Paare bemuehten sich darum eine gemeindlichen Konsens zu erlangen, indem z. B. Handwerker ein oder zwei Jahre, bevor sie eine Heiratsbewilligung beantragten, ein selbstaendiges Gewerbe anmeldeten und versuchten Haus- und Grundbesitz nachzuweisen, manchmal auch vorzutaeuschen. Dieses Vorgehen begreift die Autorin als "kleine Widersetzlichkeiten" (S. 195), es kann jedoch m. E. ebenso als aktive Strategiebildung verstanden werden. Darueber hinaus stellt Elisabeth Mantl fest, dass die Angehoerigen der Unterschicht die selbstaendige, handwerkliche Arbeit der industriellen vorzogen, diskutiert jedoch nicht die Motive fuer diese Entscheidung. Fuer mich macht dieses Ergebnis deutlich, dass sowohl im Verstaendnis der potentiell Beschaeftigten als auch aus obrigkeitlicher Sicht die ‘modernen’ Erwerbsmoeglichkeiten im industriellen Bereich kein sicheres Auskommen garantierten. M. E. reicht es daher nicht aus, festzustellen, dass konsenssuchende Paare von der Obrigkeit auf das tradierte Heiratsverhalten verwiesen wurden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich die Betroffenen selbst an der ueblichen wirtschaftlichen Logik orientierten, da diese die Nahrungssicherung am ehesten zu gewaehrleisten schien. Die Verfasserin schraenkt ihre zentrale Aussage selbst an einer Stelle ein: "Es scheint plausibel, dass die Tiroler Bevoelkerung den Ehekonsens gerade deshalb in so hohem Masse akzeptierte, weil sich die obrigkeitlichen Vorgaben mit den familial und gemeinschaftlich gelebten Praxen deckten." (S. 219).

Elisabeth Mantls Untersuchung liegt das Forschungsparadigma 'Modernisierung' zugrunde. Entsprechend focussiert sie die Interpretation ihrer Ergebnisse im wesentlichen auf einen Punkt, den der Modernisierungsfeindlichkeit der oertlichen Eliten, die die Masse vom Privileg Heirat ausschloss und den Ehekonsens als "Bollwerk gegen jeglichen Wandel" (S. 233) institutionalisierte. Damit verengt die Verfasserin ihre hochinteressanten quantitativen und qualitativen Ergebnisse. Die vielschichtigen Motive einer Dispensverweigerung, die z. B. von verwandtschaftlichen oder nachbarschaftlichen Konflikten geleitet sein konnten, werden nicht systematisch untersucht, trotzdem sie in einzelnen Faellen aufscheinen. So benutzte ein Vater die gesetzlichen Vorgaben, um die Heirat seines Sohnes erfolgreich zu verhindern, indem er der Gemeinde mitteilte, dass sich dieser eine Eheschliessung nicht leisten koenne.

Dass diese detaillierte und klar strukturierte Studie zahlreiche Fragen aufwirft, die teilweise ueber den gewaehlten Rahmen hinausgehen, ist ein Zeichen dafuer, dass sie wichtige Anregungen bietet. Elisabeth Mantl hat deutlich gemacht, dass das Thema 'Heiratsbeschraenkungen' und hier besonders die Praxis der Dispensvergabe ein komplexes und ergiebiges Forschungsfeld darstellen.