W. Hölscher u.a. (Hrsg.): Die Grünen im Bundestag

Cover
Titel
Die Grünen im Bundestag. Sitzungsprotokolle und Anlagen 1987–1990


Herausgeber
Hölscher, Wolfgang; Kraatz, Paul
Reihe
Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, vierte Reihe, 14.2, erster Halbband (Januar 1987 bis Dezember 1988), zweiter Halbband (Januar 1989 bis November 1990, Tonbandtranskipte)
Erschienen
Düsseldorf 2015: Droste Verlag
Anzahl Seiten
1359 S. in 2 Bd., Beil. zu 2. Halbband: CD-Rom
Preis
€ 160,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephen Milder, Department of European Languages and Cultures, Rijksuniversiteit Groningen

Als sich die Mitglieder des deutschen Bundestages am Abend des 9. November 1989 spontan erhoben, um anlässlich des Mauerfalls die Nationalhymne zu singen, schauten sich die anwesenden Abgeordneten der Grünen, die zwischen den Fraktionen der SPD und der CDU/CSU saßen, verwirrt um. Einige verließen den Saal, während der grüne Abgeordnete Hubert Kleinert seinem Nachbarn zuflüsterte: „Um Gottes willen, jetzt auch das noch!”1 Der in der Reihe „Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien” veröffentlichte Band der Fraktionsprotokolle der Grünen im 11. Bundestag erlaubt einen tiefen Einblick in die politischen Praxis einer Fraktion, die Ende der 1980er-Jahre zwar mitten im Parlament saß, sich aber wie ein Außenseiter verstand und auch so gesehen wurde.

Die im Droste Verlag erschienene Ausgabe umfasst neben zwei Halbbänden, in denen die 131 Fraktionsprotokolle abgedruckt sind, auch eine CD-ROM. Auf dieser sind die 172 Fraktionsvorstandsprotokolle als 500-seitige PDF-Datei abrufbar. Zusätzlich zu den Protokollen der Fraktionssitzungen enthalten die Halbbände auch Dokumente wie die Schreiben einzelner Fraktionsmitglieder an die Fraktion, Positionspapiere, Pressemitteilungen, Beschlüsse und Ausschnitte aus Zeitungsartikeln. Die Fraktionsprotokolle (aber leider nicht die Fraktionsvorstandsprotokolle) sind ausführlich annotiert. Die zahlreichen Fußnoten verweisen klar auf die einschlägigen Anlagen und erklären auch die Kontexte einiger Aussagen.

Eine wertvolle Einführung von über 50 Seiten beschreibt den Stand der Forschung zu den Grünen. Zudem erklärt sie die Zusammensetzung der Fraktion in der 11. Wahlperiode, ihre politische Kultur und auch ihre politische Arbeit. Die Diskussion der Fraktionskultur enthält natürlich auch einiges zu den Konflikten, die die Grünen „während der gesamten 1980er Jahren [begleiteten]” (S. 12). Die verquere Haltung der Grünen und die endlosen internen Streitereien, die letztendlich zur Wahlniederlage der westdeutschen Grünen bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl beitrugen, lassen die Fraktionsgeschichte der 11. Wahlperiode als eine Art Niedergangsgeschichte erscheinen. Mit Blick auf die politische Arbeit der Grünen zeichnen die Herausgeber jedoch auch eine andere Geschichte der Bundestagspartei nach: Nämlich die einer sehr produktiven Fraktion, die in der 11. Wahlperiode für 50% der Großen Anfragen, 81,5% der Kleinen Anfragen und 71 Gesetzentwürfe (fünf mehr als die SPD, die auch in der Opposition saß) verantwortlich war (S. 38). Die Wirkung dieser parlamentarischen Arbeit lässt sich zwar „nur schwer qualitativ bemessen”, sie zeigt aber inwieweit die Grünen, die dem politischen Establishment äußerst kritisch gegenüberstanden, bereit waren, sich die Prozesse der etablierten Demokratie anzueignen (S 39). Beiden Lesarten der Geschichte der Grünen lassen sich in den Protokollen nachvollziehen.

Der herkömmlichen Erzählung nach befanden sich die Grünen, nachdem sie im Januar 1987 zum zweiten Mal in den Bundestag gewählt worden waren, schnell in einer existentiellen Krise. Die Euphorie, die 1983 den ersten Bundestagseinzug begleitete — und die noch in den Einschätzungen der Parteiarbeit am Ende der 10. Wahlperiode (S. 34) zu spüren war — wurde wegen der sich anhäufenden Probleme der Fraktion schnell vergessen. Zum Höhepunkt der Flügelkämpfe um die Jahreswende 1987/88 meinte die Abgeordnete Angelika Beer, die Partei sei bei mehreren Themen „nicht mehr politikfähig” (S. 278). Diese Unfähigkeit zeigte sich in unlösbaren Auseinandersetzungen zu Themen wie „NATO, Israel, Golf, AKW” und lässt sich auch in der fehlenden Teilnahme von Mitgliedern an Fraktionssitzungen und Plenardebatten festmachen. Der Frust, trotz parlamentarischer Teilhabe sogar bei wichtigen grünen Themen keine spürbaren Fortschritte machen zu können, ist in den Protokollen der Fraktionssitzungen deutlich zu erkennen.

Interne Auseinandersetzungen waren nicht das einzige Problem. Von Anfang an fühlten sich die Grünen von ihren Kollegen im Parlament nicht ernstgenommen. Die Situation hatte sich gegenüber der 10. Wahlperiode zwar verbessert, aber die Grünen mussten immer noch für ihre parlamentarische Inklusion kämpfen. Es wurden zum Beispiel keine Mitglieder der Fraktion zu Treffen im Bundeskanzleramt eingeladen, wo Vertreter der anderen Fraktionen den Rücktritt von Bundestagspräsident Jenninger oder den Mauerfall diskutierten (S. 437 CD).

Trotz ihrer internen Zerrissenheit und ihrer Ausgrenzung durch andere Bundestagsparteien, „habe die Fraktion”, wie es Petra Kelly im Januar 1988 zum Höhepunkt des Flügelkampfes ausdrückte, „auch Gutes gemacht” (S. 374). Die Protokolle und Unterlagen zeigen deutlich, dass die Fraktion aktuelle Themen nicht nur eifrig diskutierte, sondern sie auch bearbeitete. Durch Dienstreisen ins Ausland, durch das Organisieren von Anhörungen und Pressekonferenzen oder durch die Teilnahme an Demonstrationen nutzten die Fraktionsmitglieder die Ressourcen des Bundestages auch außerhalb des Parlaments und oftmals außerhalb Deutschlands, um neue Themen in die Öffentlichkeit zu bringen oder kritische Positionen zu unterstützen. Diese Vorgehensweise passte gut zu der gespaltenen Fraktion, da einzelne Fraktionsmitglieder somit Politik machen konnten – oft auch ohne Konsens der Fraktion. Als Wolfgang Daniels am Ende der 11. Wahlperiode zum Beispiel versuchte, der bundesdeutschen Öffentlichkeit einen Gesetzentwurf zur Stromeinspeisung zu präsentieren, kritisierte die Fraktion seine einsame Arbeitsweise. Einen Tag vor der von Daniels anberaumten Pressekonferenz traf sich die Fraktion, um über den Gesetzesentwurf und Daniels Vorgehensweise zu entscheiden. Letztlich konnte die Pressekonferenz stattfinden, da sich die Fraktion einig war, dass eine Absage am Tag vorher „öffentlichkeitsschädigend wäre” (S. 926). Nur so kam es dann zur Diskussion dieses Gesetzentwurfs, der der Politik der Energiewende vorausging.

Darüber hinaus spiegelt sich in den Protokollen auch der Druck der Öffentlichkeit auf die Arbeit der Grünen wider. Obwohl die Fraktion transparent sein wollte und die Presse in der Regel zu ihren Sitzungen einlud, war die Diskussion zu „Offene Fragen und politische Lehren aus dem ‚Deutschen Herbst’“, eine der wenigen Veranstaltungen der Fraktion, die auf Tonband aufgenommen wurde (die andere Fraktionen ließen schon seit den 1960er-Jahren alle ihre Fraktionssitzungen per Tonband aufnehmen). Zu diesem Anlass beschwerte sich sogar die Galionsfigur der Grünen, Petra Kelly, dass man in der Öffentlichkeit schließlich „ein bisschen anders [diskutiert] und die Priorität [verschiebt]“ (S. 1062).

Im Gegensatz zu den chaotisch abgeschriebenen Protokollen der öffentlichen Fraktionssitzungen, die des Öfteren nicht mal eine Anwesenheitsliste enthielten (S. 17), deuten die Protokolle des Fraktionsvorstands auf eine ordentliche, standardisierte, und sogar professionalisierte Arbeitsweise hin. Hier zeigt sich die Fähigkeit der Parteimitglieder, trotz der internen Streitereien und des Drucks von außen, Probleme zu lösen. Allein diese Diskrepanz zwischen den beiden Protokollsammlungen verdeutlicht die missliche Lage der Grünen im Parlament und ihre schizophrene Haltung zu den etablierten politischen Strukturen und Vorgehensweisen.

Auch aufgrund dieses eindeutigen Kontrasts von heftigen, öffentlich geführten Diskussionen und dem klaren Willen der Fraktionsmitglieder ihre Themen fleißig zu bearbeiten ermöglicht der von Wolfgang Hölscher und Paul Kraatz herausgegebene Band einen vertieften Einblick in die bundesdeutschen Demokratie in den späten 1980er-Jahren. Als kleinste Bundestagsfraktion und als die einzige Partei, die die Wiedervereinigung nicht selbstverständlich anstrebte, waren die Grünen klare Außenseiter in der 11. Wahlperiode. Ihre Position mitten im Bundestag und ihr Streben, sich als Bundestagsfraktion zu etablieren, erlaubte es der Fraktion jedoch, die Prozesse des Bundestags zu beeinflussen. Der Band stellt somit nicht nur für Historiker, die die Geschichte der Grünen erforschen, eine wertvolle Quelle dar. Er dürfte auch für Leser von Interesse sein, die mehr über die Demokratisierung Deutschlands und die Parteipolitik zur Zeit der Wiedervereinigung erfahren möchten.

Anmerkung:
1 Jule Lutteroth, Zeitsprung – 9. November 1989: „Wir kommen jetzt öfter“, in: Spiegel Online, <http://www.spiegel.de/panorama/zeitgeschichte/zeitsprung-9-november-1989-wir-kommen-jetzt-oefter-a-326184.html> (03.06.2016).

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