Cover
Titel
Die bessere Hälfte?. Frauenbewegungen und Frauenbestrebungen im Ungarn der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918


Autor(en)
Zimmermann, Susan
Erschienen
Anzahl Seiten
420 S.
Preis
€ 27,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Birgitta Bader-Zaar, Institut fuer Geschichte, Universität Wien

Integrationistinnen und Modernistinnen: Die ungarische Frauenbewegung im 19. Jahrhundert

Ein systematischer Überblick über die Frauenbewegungen der Habsburgermonarchie ist eines jener Projekte, die sich Historikerinnen und Historiker schon lange für den Bereich der Frauen- und Geschlechtergeschichte aber auch der österreichischen und ungarischen Geschichte im allgemeinen wünschen. Susan Zimmermann hat nun erfreulicherweise ein solches Unternehmen in ihrem Buch 'Die bessere Hälfte?' für die ungarische Reichshälfte in Angriff genommen. In ihrem "gerafften Nachschlagewerk" stellt sie die Aktivitäten, die Ziele und den Charakter der Frauenvereine sowie deren Verhältnis untereinander von 1848 bis 1918 vor, wobei das Buch nicht nur Grundwissen über die Geschichte der Frauenbewegungen in dieser Epoche anbietet, sondern auch als Ausgangspunkt für die Bearbeitung weiterer Themenfelder der Frauen- und Geschlechter- sowie vor allem der Sozialgeschichte dienen kann.

Ihre Untersuchung hat Susan Zimmermann strukturell in die sich entwickelnde Markt- und Industriegesellschaft und damit den als Kommodifizierung und Individualisierung erfahrenen sozialen Wandel gebettet. Frauen erlebten diese Entwicklungen als "Verlust hergebrachter Gewohnheiten und kultureller Gewissheiten, rechtlicher und sozioökonomischer Regelsysteme" und vor allem als Marginalisierung ihres Geschlechtes; sie fühlten sich als "Stiefkind der 'Modernisierung'".(S. 11) Als Reaktion entwickelten sie Visionen einer für Frauen und die Gesellschaft insgesamt besseren Zukunft - die Frauenbewegung entstand.

Zimmermann unterscheidet für die Frauenbewegung zwei Hauptströmungen, die die üblichen Kategorien "bürgerlich"/"proletarisch" bzw. "gemässigt"/"radikal" zu ergänzen und klarer zu gestalten suchen. Die eine Strömung sah in der Geschlechterdifferenz das geeignete Moment, Frauen einen eigenen Platz in der sich wandelnden gesellschaftlichen Arbeitsteilung zuzuordnen. Weibliche Werte und Tätigkeiten sollten die Modernisierung ergänzen. Die andere Strömung stand den progressiv-liberalen und sozialdemokratischen Lagern nahe und wollte mit ihrem Anspruch auf Gleichheit die männliche Sphäre und männliche Privilegien auch für Frauen erobern. Sie befürwortete also die modernen Entwicklungen der Individualisierung und Kommodifizierung. Tatsächlich verdecken Zuschreibungen wie "bürgerlich" bzw. "proletarisch" zuweilen ähnliche Ansätze, und die Charakterisierung "gemässigt" bzw. "radikal" läßt sich wohl eher auf Strategien beziehen.

Aber auch eine strenge Trennung nach im Sinne von Geschlechterdifferenz argumentierenden versus auf Gleichheit pochenden Frauengruppen läßt sich vor allem nach der Jahrhundertwende nicht so aufrecht erhalten. Beide Stränge konnten in einer Frau zusammenfliessen, wie z.B. Untersuchungen der Frauenwahlrechtsbewegungen zeigen. Zimmermann weist selbst darauf hin, daß die beiden Hauptströme bedeutende Gemeinsamkeiten aufwiesen und deren Verflechtungen nicht zuletzt in der feministischen Theorie (Joan Scott, Carole Pateman) aufgezeigt wurden. Sie argumentiert, daß nur der Blick auf "Unterschiede und Gemeinsamkeiten von handlungsleitenden Weltwahrnehmungen und Zielen" der beiden Richtungen Zusammenhänge deutlicher hervortreten lassen. Beiden ging es letztendlich immer um eine Antwort auf die "Frage nach dem Platz der Frau in der hocharbeitsteiligen 'modernen Industriegesellschaft'".(S. 394)

Konkret für den ungarischen Fall definiert Zimmermann drei Hauptgruppierungen in den "bürgerlich-adeligen" Frauenbewegungen: 1) die hierarchischen Integrationistinnen, die eine systematische gesellschaftliche Reform anstrebten und deren Tätigkeitsbereich soziale Arbeit sowie die seelische Betreuung von Frauen und Mädchen umfasste, den Objekten ihrer Reformabsichten jedoch in einem Gefühl der Überlegenheit gegenübertraten. Hierzu gehörte der gemässigte Reformflügel des Magyarorszagi Noegyesuletek Szovetsege (Bund der Frauenvereine Ungarns) und der Grossteil der katholischen Frauenbewegung; 2) die karitativ orientierten Frauenvereine; 3) die individualistischen Modernistinnen, die die unbedingte Gleichberechtigung forderten und denen Zimmermann die Vereine Notisztviselok Orszagos Egyesulete (Landesverein der Weiblichen Angestellten) sowie Feministak Egyesulete (Verein der Feministen) zuordnet. Zwar nicht zum bürgerlichen Lager gehörig, rechnet Zimmermann aber auch die Sozialdemokratinnen in diese Kategorie.

Sich auf die Integrationistinnen und Modernistinnen konzentrierend, gibt Zimmermann zuerst einen Überblick über die Vereinsgründungen und definiert Perioden der Aktivitäten. Als besonders aktive und organisatorisch effiziente Gruppierung kristallisiert sich der Verein der Feministen heraus. Der Blickwinkel bleibt aber nicht nur auf die Organisation beschränkt. Anhand der Biographien von Edith Farkas, Gründungsvorsteherin der Socialis Missziotarsulat (Soziale Missionsgesellschaft), als Vertreterin der katholischen Frauenbewegung, der Sozialdemokratin Maria Gardos und der auch ausserhalb Ungarns als Rosika Schwimmer bekannten Feministin Roza Bedy-Schwimmer arbeitet Zimmermann die gesellschaftlichen Erfahrungen und persönlichen Beweggründe heraus, die diese drei sehr unterschiedlichen Frauen der Frauenbewegung zuführten.

Der Schwerpunkt des Buches behandelt dann die Aktivitäten der Frauenvereine in einem breiten Spektrum von Bereichen, wobei Zimmermann hier immer wieder die Einstellungen der Integrationistinnen und Modernistinnen zusammenführt und deren Verhältnis züinander hinsichtlich Gemeinsamkeiten und Differenzen sehr schön herausarbeitet:

1) Die Frauenbildung, die die höhere Mädchenbildung - 1896 wurde das erste Mädchengymnasium in Ungarn gegründet -, die berufsvorbereitende Ausbildung wie Lehrerinnen-, kaufmännische und gewerbliche Fachbildung, die Frage der Ködukation sowie den Zugang zu den Universitäten umfasst.

2) Die Frauenerwerbspolitik, die Zimmermann auch in ihrer Beziehung zur wirtschaftlichen Stellung Ungarns im Rahmen der Habsburgermonarchie untersucht. Hier stehen insbesondere die Schutzgesetze, die das Hauptkonfliktfeld zwischen Sozialdemokratinnen und den radikal an Geschlechtergleichheit orientierten Modernistinnen ausmachten (Stichwort Nachtarbeit), die erwerbsbezogene Sozialpolitik (Mutterschafts- und Altersversicherungen) und die Dienstbotinnenfrage im Mittelpunkt.

3) Gesellschaftsreform und soziale Arbeit, ein ausgezeichnetes Kapitel, in dem sich Susan Zimmermanns intensive Forschungsarbeiten zu diesem Bereich niederschlagen. Zimmermann kritisiert hier ältere Darstellungen der Geschichte der Frauenbewegungen, die eine zeitliche Abfolge von zuerst philanthropischer Arbeit und dann Kampf um allgemeine Rechte sehen oder soziale Arbeit nicht so sehr in den Mittelpunkt rücken und stattdessen den Kampf um Frauenrechte als das einzig Bedeutende an den Frauenbewegungen herausarbeiten. Tatsächlich setzten sich die Frauenbewegungen mit dem Verhältnis zwischen traditioneller Wohltätigkeit, zielbewusster moderner sozialer Arbeit und dem Kampf um Frauenrechte auseinander. Die Unterschiede, die hier in den Debatten zwischen Integrationistinnen und Modernistinnen auftraten, werden an den Überlegungen der Modernistinnen deutlich, die eine gründliche Untersuchung der Ursachen sozialer Missstände verlangten und die soziale Frage als eine von der Gesamtgesellschaft zu lösende ansahen. Integrationistinnen hingegen betrachteten soziale Arbeit als ein spezifisch weibliches Feld, das vor dem Kampf um Frauenrechte zu stehen hatte, und schufen im Fall der Sozialen Missionsgesellschaft auch erste Ansätze zur Ausbildung von Sozialarbeiterinnen. Diese unterschiedlichen Zugangsweisen zu gesellschaftlichen Reformfragen untersucht Zimmermann in den Bereichen Kinderschutz und Mütterfürsorge, Prostitution und Sexualreform sowie Hausarbeit und Haushaltsreform.

4) Die allgemeinen bürgerlichen Rechte der Frau, die vor allem kurz vor dem Ersten Weltkrieg anlässlich von Plänen zur Schaffung eines ungarischen Bürgerlichen Gesetzbuches diskutiert wurden. In einem Überblick über die Rechtsstellung der Frau im ungarischen Privatrecht frappiert besonders die infolge der Abschaffung des ABGB 1861 teilweise Besserstellung ungarischer gegenüber anderen europäischen Frauen, so in der Frage des Scheidungsrechts, des Fehlens einer Ausschlussbestimmung von politischen Vereinen und Versammlungen per se oder hinsichtlich der Geschäftsfähigkeit der Ehefrau. Die Rechtsstellung der Mutter gegenüber ihrem Kind war hingegen stark zuungunsten der Frauen geregelt.

5) Schliesslich das Frauenwahlrecht, für das insbesondere der Verein der Feministen eintrat und das in strategischer Hinsicht - sollte das Wahlrecht für Frauen unter den gleichen eingeschränkten Bedingungen wie für Männer oder als allgemeines Wahlrecht ohne Unterschied des Geschlechtes gefordert werden? - Konflikte unter den Frauenbewegungen schuf.

Als Anregungen mögen nun die folgenden Punkte verstanden werden: Das Buch ist an deutschsprachige Leserinnen und Leser gerichtet, die wohl besonders am Aspekt der Frauen- und Geschlechtergeschichte interessiert sein werden und nicht unbedingt Vorkenntnisse der ungarischen Geschichte mitbringen. Eine noch stärkere Einbettung in die in Ungarn laufenden zeitgenössischen Debatten, z.B. hinsichtlich des Diskurses über die sexülle Frage, wäre wünschenswert. Erstaunlich mag der deutschsprachigen Leserschaft die geringe Rolle, die die sozialdemokratische Frauenbewegung spielte, erscheinen. Zwar fand sich auch z.B. in Österreich und Belgien die Unterordnung der Sozialdemokratinnen unter die Vorgaben ihrer männlichen Parteigenossen in der Frage des Frauenwahlrechts. Hier wurde aber diese Politik zumindest unter den Frauen diskutiert, was in Ungarn augenscheinlich nicht vorkam. Der internationale Frauentag wurde in Ungarn überdies nicht - wie anderswo in Europa - erstmals 1911, sondern erst 1914 mit Versammlungen begangen. Zimmermann verweist zwar auf die starken Tendenzen zur Unterordnung der Interessen der Arbeiterinnen unter jene der männlichen Arbeiter innerhalb der Partei und auf die allgemeine massive Ausgrenzung der Sozialdemokratie "aus dem Spektrum der salonfähigen politischen Kräfte", die Politik der Geschlechterverhältnisse in der Sozialdemokratie erscheint aber weiterhin erklärungsbedürftig.

Einzuwenden ist weiters, daß die Revolution von 1848 hauptsächlich als bürgerliche Revolution dargestellt wird, der nationale Charakter des ungarischen Aufstandes jedoch kaum Erwähnung findet und damit auch die Einstellung der Frauen um 1848, aber auch der späteren Frauenbewegungen, zur nationalen Frage zu kurz kommt. Wir erfahren, daß der Landesverein der Weiblichen Angestellten Zweigvereinsgründungen mit Nationalitäten-Charakter ablehnte, auf Frauenbewegungen nationaler Minderheiten wird aber nicht eingegangen. Schliesslich hätte ein Personenregister die Suche nach Querverweisen zu einzelnen Frauen erleichtert.

Hingegen ist der Anhang, der die wichtigsten Vereine kurz charakterisiert und ein Nachschlagen während des Lesens ermöglicht, sehr hilfreich. Die ausführliche Bibliographie verweist auch auf Archivalien in Budapester Archiven sowie den in der New York Public Library aufbewahrten Nachlass Roza Schwimmers.

Die genannten Anregungspunkte machen selbstverständlich darauf aufmerksam, daß wesentliche historische Vorarbeiten noch nicht vorliegen. Zimmermann geht in ihrem Schlusskapitel auf die Problematik fehlender historischer Untersuchungen vor dem Hintergrund der ungarischen Wissenschaftsgeschichte ein. Angesichts dieses Defizits und nicht zuletzt angesichts der Tatsache, daß ein entsprechendes Überblickswerk für die österreichische Reichshälfte, ja auch nur für die deutsch- oder tschechischsprachigen Frauenbewegungen noch immer fehlt1, ist die Leistung Susan Zimmermanns gar nicht genug hervorzuheben.

Zimmermann endet ihr Buch bescheiden mit der Hoffnung auf eine weitere systematische Forschungstätigkeit, die schliesslich Ungarn in die internationale Frauenbewegung und das dichte Netzwerk nationaler Frauenbewegungen einbetten und damit einen internationalen Vergleich ermöglichen soll. Das ist sicher wünschenswert, aber den Grossteil dieser Arbeit hat Susan Zimmermann mit ihrem ausgezeichneten Band bereits geleistet.

Endnoten
1. Harriet Anderson hat mit ihrem Buch Utopian Feminism: Women's Movements in fin-de-siecle Vienna (New Haven/London: Yale University Press, 1992), deutsche Übersetzung Vision und Leidenschaf: Die Frauenbewegung im Fin de Siecle Wiens (Wien: Deuticke, 1994) allerdings einen ersten Ansatz in diese Richtung unternommen.

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