Gehörlosigkeit scheint ein naturgegebenes Phänomen zu sein. Manche Menschen hören, andere sind taub. Gehörlosigkeit ist aber alles andere als eine ahistorische Gegebenheit, sondern unterliegt historischen Bedingungen, die von diskursiven wie auch nicht-diskursiven Praktiken geprägt sind. Dies zeigt die 2015 erschienene Dissertation von Jonathan Kohlrausch, in der er an der Schnittstelle von Disability History, Wissensgeschichte und den Deaf Studies analysiert, wie Gehörlose in der französischen Spätaufklärung die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Öffentlichkeit auf sich zogen und wie dies in einem neuartigen pädagogischen Diskurs über die „sourds & muets“ (S. 23) resultierte. Angetrieben durch die Frage nach dem Ursprung der Menschheit respektive der Sprache und der Natur des Menschen richtete sich das Interesse von Gelehrten auf das Fremde wie etwa auf den „edlen Wilden“ oder die „wilden Kinder“ – und seit Mitte des 18. Jahrhunderts auch auf „taube Menschen“ und deren Spracherziehung. Der aufklärerische Diskurs drehte sich vor allem um die Frage nach der Sprachfähigkeit der Gehörlosen, die mithilfe von Methoden wie dem Vergleich, der Erfahrung und der Beobachtung beantwortet wurde. Verschiedene Gelehrte präsentierten den „sprechenden Gehörlosen“ (S. 11) zunächst an Wissenschaftsakademien, später auch einer breiteren Öffentlichkeit als Teil der Wissenschaft vom Menschen.
In Anlehnung an Norbert Elias’ Begriff der Figuration verfolgt der Autor einen akteursorientierten Ansatz, um die Subjektivität jener, die zum Objekt des Wissens erklärt wurden, sichtbar zu machen – und nicht, wie er ausführt, die wissenschaftlichen Narrative „zum Subjekt der Geschichte zu erklären“ (S. 41). Unter Figuration versteht Kohlrausch das Beziehungsgeflecht der an der Wissensproduktion beteiligten Akteure sowie ihre wissenschaftlichen Praktiken, Modelle und Argumentationsweisen. Neben wissenschaftlichen Journalen, die sich mit der Spracherziehung Gehörloser und der öffentlichen Inszenierung ihres Sprachvermögens beschäftigen, wertet er sowohl edierte Publikationen als auch unedierte Briefe der involvierten Akteure und deren Rezeption in den Akademien und Wissenschaftsjournalen aus.
Die Dissertation zählt neben Einleitung und Schluss sechs Kapitel. Unternimmt Kapitel zwei eine Einführung in die „Wissenschaft vom Menschen, ihrer Episteme, Praktiken und Akteure“ (S. 23), decken Kapitel drei bis sieben die zentralen historischen Akteure ab, wobei die Gliederung strikt dem chronologischen Verlauf der Ereignisse und den gelehrten Diskussionen über den Spracherwerb von Gehörlosen folgt.
Kapitel drei befasst sich mit der Produktion von Wissen über „taube Menschen“ und der Physiologie von Sprache. Jacob Pereire, ein aus Spanien emigrierter jüdischer Pädagoge, führte ab 1746 einem exklusiven gelehrten Publikum „sprechende Gehörlose“ vor, die ihre Fähigkeit demonstrierten, sich in der Lautsprache mitteilen zu können. Dies führte, so die These Kohlrauschs, den Wissenschaften vom Menschen einen neuen Gegenstand zu: den „sprechenden Gehörlosen“. Die als „scènes parlantes“ (S. 67) bezeichneten Sprachinszenierungen erhöhten die „gelehrte Autorität“ des Lehrers, da dieser seine Erfolge bei der Spracherziehung unter Beweis stellen und sich Zugang zu gelehrten Journalen verschaffen konnte. Die Schüler hingegen verfügten innerhalb dieser Formation über keinerlei Autorität, um für sich selbst zu sprechen.
Mit Ernaud1 betritt in Kapitel vier im Jahr 1752 ein weiterer hörender Gelehrter die Bühne, der durch die Schilderung seiner Experimente mit dem Gehörlosen Saboureux de Fontenay, einem ehemaligen Schüler Pereires, in Konkurrenz zu diesem trat. Neben der Abwertung anderer Gelehrter kam dem Zeugnis hörender Personen, aber auch der Deutung der Aussagen gehörloser Schüler als Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung erstmals eine tragende Rolle zu. Obwohl nun die Äußerungen Gehörloser in die „Ordnungen des Wissens“ miteinbezogen wurden, verfügten weiterhin die hörenden Gelehrten über die primäre Deutungsmacht.
Kapitel fünf behandelt die Teilnahme eines Gehörlosens am gelehrten Diskurs und der damit einhergehenden Veränderung der „epistemischen Figuration“. Kohlrausch geht hier auf Saboureux de Fontenay ein, der eine neue Perspektive auf das Wissen über Gehörlose eröffnete, indem er sich selbst als tauben Gelehrten präsentierte und in Kontakt mit verschiedenen hörenden Gelehrten trat. Die Schriften von de Fontenay dienten in der Rezeption durch die hörenden Gelehrten jedoch lediglich als Beweis für die „Erziehbarkeit Gehörloser“ (S. 175). Eine aktive Teilnahme am Diskurs blieb ihm verwehrt.
Mit dem jansenistischen Priester Charles Michel de l`Épée wird in Kapitel sechs (1771–1784) auf einen hörenden Gelehrten eingegangen, der für die Spracherziehung sowohl die Gebärden- als auch die Lautsprache unterrichtete. Die „Sprachinszenierungen“ blieben nicht mehr einem exklusiven gelehrten Publikum vorbehalten, sondern wurden einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Aus der vermeintlich „natürlichen Gebärdensprache“ (S. 191) seiner Schülerinnen und Schüler, der „langage de signes“, leitete l`Épée eine von ihm entwickelte „methodische“ Gebärdensprache ab, die „signes méthodiques“ (S. 179). Trotz der partiellen Anerkennung des Gebärdens seiner Lernenden sah er dieses nicht als elaborierte Sprachform an und schloss die Gehörlosen als „sprach-pädagogische Akteure“ von der Gemeinschaft der Sprachmächtigen aus. Mit der „signes méthodiques“ präsentierte er sich als alleiniger Urheber von Sprache wie auch wissenschaftlicher Erkenntnisse und klammerte die Bildungskontexte und den früheren Spracherwerb seiner Schülerinnen und Schüler aus.
Das letzte Kapitel befasst sich mit dem gehörlosen Pierre Desloges, der in seiner 1779 erschienenen Schrift „Observations d`un sourd et muèt sur un Cours élémentaire d`éducation des sourds et muèts“2 Überlegungen zur „natürlichen Gebärdensprache“ anstellte. Er adressierte nicht nur ein hörendes gelehrtes Publikum, sondern bediente sich der Diskurselemente hörender Gelehrter über das Wesen der Gehörlosen und deren Gebärdensprache. Im Gegensatz zu l`Épée sah Desloges die „langage des signes“ als elaborierte und damit vollwertige Sprache an. Damit unterlief er die epistemische Position der hörenden Gelehrten, indem er die Gehörlosen zu maßgeblichen Akteuren für den Spracherwerb Hörender bestimmte – wie etwa l`Épée, der die Gebärdensprache von den Gehörlosen gelernt hatte. Die hörenden Gelehrten sprachen ihm jedoch seine Autorenschaft ab. Sie verstanden seine Schrift lediglich als weiteren Nachweis für die „Erziehbarkeit“ Gehörloser durch hörende Gelehrte.
Kohlrausch zeichnet nach, wie Gehörlose durch die Sprachinszenierungen an den Akademien zum Objekt wissenschaftlicher Diskurse wurden, wobei die Subjektposition den Hörenden vorbehalten blieb. Diese legten nicht nur fest, was Sprache sein sollte, sondern erhöhten durch die Sprachinszenierungen ihre eigene Autorität und ihren Status als Gelehrte. Die Sprachfähigkeit der Gehörlosen wurde zwar durch die Anerkennung ihrer Fähigkeit zur Laut-, Schrift- oder Gebärdensprache partiell anerkannt, nicht so aber deren Sprachmächtigkeit, die den hörenden Gelehrten vorbehalten blieb. So wandelte sich das Sprechen über Gehörlose während der französischen Spätaufklärung zum Sprechen für Gehörlose.
Insgesamt historisiert Kohlrausch die Wissensordnungen überzeugend, indem er verdeutlicht, wie ab den 1740er-Jahren aus der Präsentation von zur Sprache erzogenen Gehörlosen ein neuartiger pädagogischer Diskurs über die Sprachfähigkeit „tauber Menschen“ hervorging, der die Voraussetzung für die später einsetzende Institutionalisierung der Gehörlosenbildung schuf. Zudem zeigt er auf, wie Gehörlose sowohl zu Objekten der Wissenschaft als auch zu Repräsentanten von Wissen erklärt wurden. Dadurch erschließt sich nicht nur, wie etwas als Wissen qualifiziert wurde, sondern deckt auch die Bedeutung der Akteure für die gesellschaftliche Produktion und Zirkulation von Wissen auf. Leider suggeriert die chronologische Strukturierung des Buches mit ihrer Aneinanderreihung der Gelehrten und ihrer Texte teilweise eine teleologische Entwicklung vom „tauben Menschen“ als Objekt zum Subjekt des Wissens. So schenkt der Autor den Brüchen, Diskontinuitäten und Anachronismen in der Konzeptualisierung von Gehörlosigkeit und deren Sprachfähigkeit zu wenig Beachtung. Zudem ist der zuweilen umständlich formulierten Argumentation schwer zu folgen, was auch auf die vielen Namen und Jahreszahlen zurückzuführen ist. Eine stärkere Fokussierung auf die „figurationsimmanenten übersubjektive[n] Gesetzmäßigkeiten“3 der Wissensordnungen wie etwa auf bestehende Machtverhältnisse oder strukturellen Bedingungen hätte der Argumentation sicherlich gut getan. Insbesondere geht Kohlrausch kaum auf die Strukturen und Funktionszusammenhänge innerhalb der jeweiligen Figurationen ein, weshalb die Verflechtungen und die Zirkulation des Wissens über Gehörlose unscharf bleiben.
Alles in allem ist Kohlrauschs wissensgeschichtliche Rekonstruktion von Gehörlosigkeit jedoch durchaus produktiv. Der Autor deckt auf, wie Gehörlose durch eine (partielle) Anerkennung als „Subjekt von Sprache und Wissen“ (S. 14) zwar erstmals am gelehrten Diskurs zu partizipieren vermochten, die Degradierung der „langage de signes“ jedoch in einer Naturalisierung von Gehörlosigkeit mündete, die im 19. Jahrhundert wiederum den harten administrativen Umgang mit Gehörlosen wie auch ihre institutionelle Diskriminierung rechtfertigen sollte.
Anmerkungen:
1 Der Vorname von Ernaud ist nicht bekannt.
2 Pierre Desloges, Observations d`un sourd et muèt sur un Cours élémentaire d`éducation des sourds et muèts, publié en 1779 par M. l`abbé Deschamps, chapelain de l`église d`Orléans, Amsterdam 1779.
3 Claus Dahlmanns, Die Geschichte des modernen Subjekts. Michel Foucault und Norbert Elias im Vergleich, in: Kersten Reich / Stefan Neubert (Hrsg.), Interaktionistischer Konstruktivismus, Band 6, Münster 2008, S. 208.