A. Pelinka u.a. (Hrsg.): Geschichtsbuch Mitteleuropa

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Titel
Geschichtsbuch Mitteleuropa. Vom Fin de Siècle bis zur Gegenwart


Herausgeber
Pelinka, Anton; Bischof, Karin; Fend, Walter; Stögner, Karin; Köhler, Thomas
Erschienen
Anzahl Seiten
398 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Surman, Visiting Fellow, Leibniz Graduate School for Cultures of Knowledge in Central European Transnational Contexts, Marburg

Das vom österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft initiierte und vom Institut für Konfliktforschung getragene Projekt einer Geschichte Mitteleuropas, das in dem Geschichtsbuch Mitteleuropa seinen Abschluss fand, zielt auf eine komparative Geschichte dieser post-Habsburgischen Region ab. Die Leiter des Projektes versuchen dabei dieses Konstrukt als eine mögliche Identifikation für das 21. Jahrhundert vorzuschlagen und es dem sowjetischen Blockdenken, aber auch den nationalen Narrativen, entgegenzustellen. Um den von den Herausgebern monierten Wien-Zentrismus bisheriger Versuche entgegenzusteuern beinhaltet der Band eine Reihe vergleichender Studien sowie sieben Länderstudien, die sich vor allem den Wandlungen nationaler Narrative widmen.

Der erste Teil verfolgt die politische und kulturelle Entwicklung und Ausdifferenzierung der Region vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis zum Zerfall der Sowjetunion. Der Politologe Anton Pelinka thematisiert in seinem Beitrag die Entwicklungen um das Fin de Siècle und konstatiert dabei die zunehmende Bedeutung des Gedankens kulturell-nationaler Autonomien in Österreich-Ungarn. Dabei hebt er hervor, dass eines der Kernprobleme der staatlich angeordneter Zentrismus war (Budapest bzw. Wien), der zunehmend national konnotiert war. Dass dieser scheiterte, sieht es er als eine Lehre für die EU, die derzeit versuche „ein analoges föderales Friedenskonzept [wie Österreich-Ungarn nach 1867] in einem Bottom-Up-Verfahren umzusetzen“ (S. 36). Das Scheitern Mitteleuropas sieht Pelinka nicht nur in der politischen Desintegration, aber sondern auch im Fehlen einer kollektiven mitteleuropäischen Identität (S. 38–40). Ähnliche Rückschlüsse bietet Katrin Stöger in ihrem Beitrag zu der Zwischenkriegszeit, die als Zeit des Erstarkens nationsorientierter kollektiver Identitäten gilt. Dabei hebt die Autorin hervor, dass der mitteleuropäische Nationalismus nicht staats- sondern ethnozentrisch war, was aus imperialen Erfahrungen und Staatsmisstrauen resultierte (S. 44). Die Schwäche des Bürgertums erlaubte auch es dem Adel, die wichtige Rolle in dem Nationalisierungsprozess zu übernehmen und nahm dem Nationalismus teils das modernisierende Element weg, den er, in Form des Staatsnationalismus, in Westeuropa hatte (S. 50). Bis auf die Tschechoslowakei, die sie mit István Bibó als eine „Oase der Demokratie“ bezeichnet (S. 45) und die eine starke bürgerliche Schicht hatte, resultierte dies auch im Entstehen autoritärer Regime ab den 1930er-Jahren.

Der Zweite Weltkrieg und die darauffolgende Vertreibungen und Emigrationen bewirkten eine „‘reale‘ Homogenisierung der Bevölkerung“, die der „Homogenisierung des Geschichtsbildes“ vorausging, wie Walter Fend in seinem Beitrag zu der Periode 1945–1989 konstatiert (S. 63). Er unterscheidet dabei mehrere Perioden der Machtkonsolidierung und Blockbildung, die in jedem Staat leicht variierten: so folgte dem „antifaschistischen ‚Honeymoon‘“ ab spätestens 1948 der Stalinismus, mit dessen Freund-Feind Schemata und antibourgeoiser Propaganda die alten Helden an den Pranger gestellt und auf ethnische und ideologische Homogenisierung abgezielt wurde. Auch nach dem Ende des Stalinismus änderte sich wenig in der dieser Hinsicht und antisemitische Kampagnen, die von innerparteilichen Konflikten ausgingen und ein „Ventil für sozioökonomische Krisen“ waren (S. 84), konnten leicht initiiert werden. Das erklärt Fend auch dadurch, dass die Erinnerung an die Shoah entweder tabuisiert (etwa in Ungarn) oder in das nationale Narrativ in einer ent-ethnisierter Art und Weise eingeschrieben wurde (z.B. in Polen) (S. 85). Das Scheitern des Ostblocks war für Fend auch ein Scheitern einer transnationalen Gemeinschaft, wobei diese klar unter der Hegemonie eines Landes stand (S. 88).

Das kurze Kapitel Katrin Bischofs thematisiert die Entwicklungen nach dem Zerfall des Ostblocks und vermerkt eine Gleichzeitigkeit von der „Rückkehr nach Europa“ und der Weiterführung alter Narrativen. So konnte in der Tschechoslowakei auch das Bestehen der sogenannten Beneš-Dekrete (hier: die ethnischen Vertreibungen der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei in den Jahren 1945–46) den Weg zur Präsidentschaft ebnen und blieb ein fester Bestandteil der Landesrhetorik (S. 94). In Ungarn dagegen hält das Trianon-Trauma an. In mehreren Ländern ist auch die Religion erstarkt in das nationale Narrativ gerückt, etwa in Polen, aber auch in Ländern, die nach dem Zerfall Jugoslawiens entstanden (S. 95). In Österreich dagegen bedeuteten die 1990er-Jahre die schrittweise Ablehnung der Opferthese, aber auch das Ende der Konsensdemokratie, die das Land in der Nachkriegszeit prägte (S. 95–6). Die Abrechnung mit der Vergangenheit – nicht nur in Österreich – fand, so Bischof, oft aufgrund des Drucks der EU statt und vor dem „Hintergrund des Maßstabs ‚Europeanness‘“ (S. 97). Auch Verschlechterungen aufgrund der Transformation sind zu verzeichnen, wie etwa der ökonomische, kulturelle und soziale Ausschluss der Romas (S. 101), wobei detaillierte Untersuchungen hierzu noch fehlen.

Dieter Hecht, Luise Hecht und Eleonore Lappin-Eppel widmen sich dem jüdischen Erbe Mitteleuropas. Dabei wird einerseits vergleichend die Entwicklung jüdischen Lebens in Mitteleuropa skizziert, andererseits dessen gegenwärtige Potentiale erörtert. Überschattet durch den Holocaust, aber auch durch Vertreibungen und Emigration, zeichnet sich die Erinnerung an das Judentum in allen Ländern durch einen Zwiespalt von Erinnern und Verdrängen aus, wobei das erste oft vom unabhängigen Vereinswesen gefördert wurde. Zudem konnte sich durch die Ablehnung religiöser Identifikationen im Ostblock weder ein kritischer Diskurs zur jüdischen Vergangenheit entwickeln, noch ein Vereinsleben etablieren, selbst in Ungarn wo vergleichsweise die meisten Juden Mitteleuropas nach 1945 lebten (S. 129).

Diesem Kapitel folgt eine knappe Darstellung Wiens als „historischem Genius Loci gelebter und erlebter Migration in Mitteleuropa“ (S. 142), wobei die Autoren, Thomas Köhler und Christian Mertens, vor allem die Bedeutung der Zuwanderer für die Wiener Kultur und Wissenschaft enzyklopädisch auflisten. Diese war, wie sie betonen, nicht nur für das imperiale Wien wichtig, sondern auch für die Zwischenkriegszeit, wobei hier meistens die Vertreter deutschsprachiger Minderheiten aus ehemaligen Kronländern nach Wien migrierten (S. 149). Leider geht das Kapitel so gut wie nicht über 1945 hinaus und vermerkt hierfür nur statistisches; die Konzentration auf bekannte Persönlichkeiten bedeutet auch, dass z.B. die Rolle der Gastarbeiter mit keinem Wort erwähnt wird.

Die den Überblicksdarstellungen nachfolgenden Detailstudien widmen sich der Entwicklung nationaler Narrative in den jeweiligen Ländern und bieten ein breites Panorama für Gedächtnis-Interessierte. Die AutorInnen aus den jeweiligen Länder konzentrieren sich dabei vor allem auf die Rolle der jeweiligen nationalen Historiographien und der Kontroversen einerseits zwischen unterschiedlichen Identitätsnarrativen, andererseits zwischen unterschiedlichen Akteuren – oft gerade für die Zeit nach 1945 beschrieben als zwischen den historisch wenig kompetenten Parteifunktionären und den Fachhistorikern (z.B. S. 218 über die Slowakei, S. 276 über Slowenien). Auch für den österreichischen Fall kann Heidemarie Uhl den Einfluss der Politik feststellen – die Konsensdemokratie, die nach kurzer Periode der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Landes die Idee der Opferrolle Österreichs stützte, die Affären um Taras Borodajkewycz (1965) und Kurt Waldheim (1986) und schließlich die für die FPÖ erfolgreiche Wahl (1999), die einerseits zur Verhärtung der Fronten führten, aber auch die kritische Aufarbeitung der Vergangenheit des Landes beförderten. Dabei werden auch die zentralen Mythen der jeweiligen Nationen kritisch durchforstet – z.B. im tschechischen Fall das Bestehen auf dem grundlegenden demokratischen Charakter der tschechischen Nation, das aber nicht dem Bestehen auf die Gültigkeit der Beneš-Dekrete widersprach, wie Muriel Blaive beschreibt (S. 174). Das Panorama der Historiographien erlaubt auch weniger bekannten HistorikerInnen, zu entdecken bzw. deren Ideen neu zu lesen, etwa den ungarischen Mediävisten Jenő Szűcs, den Gábor Gyáni als Pionier konstruktivistischer Nationalismustheorien schildert (S. 235–36).

Dass sich in einer derartigen Zusammenschau gelegentlich auch Fehler finden, verwundert natürlich wenig. Dass die Artikeln dabei mal Deutsch, mal Englisch, und mit unterschiedlichen Anmerkungsapparaten versehen sind, ist aber bei einem derart prominenten Projekt mehr als überraschend. Sichtbar ist allerdings die Sorgfalt der Herausgeber um die Edition wie auch die Vorbereitung der Anträge (explizit peer-reviewed) und deren sachgemäße Einleitung von etwa einer Seite, die kurz die Ideen der jeweiligen Artikeln skizziert. Allerdings kann die Aufnahme eines Beitrags von Bogdan Musiał, den die Herausgeber der „nationalstaatlichen Geschichtsschreibung“ zurechnen, und dem sie tendenziöse Ausblendungen (S. 315) zuschreiben, ein wenig verwundern. Tatsächlich entspricht der Artikel von Musiał nur in eingeschränktem Maß historiographischen Standards, er folgt einer Schwarz-Weiß-Logik, vor allem im Hinblick auf die Epoche nach 1945, und ganz besonders nach 1989, wo er teilweise in Verschwörungstheorien abdriftet. Die Darstellungen des Universitätslebens, wo Musiał eine weitgehend reibungslose Kontinuität der kommunistischen Universitäten und der Parteihistoriker nach 1989 konstatiert, die Darstellung des Jedwabne-Konflikts oder die Aussage zu Lech Wałęsa’s Vergangenheit als (angeblicher) „informeller Mitarbeiter“ der sozialistischen Sicherheitsdienste (S. 347) sind sehr einseitig und folgen einer Literatur, die für den Mainstream der polnischsprachigen bzw. polenbezogenen Historiographie nicht repräsentativ ist. Auch wenn Musiał durchaus für einen Teil der heutigen polnischsprachigen Historiographie repräsentativ sein mag, bleibt die Frage, ob dieser Artikel in einem Geschichtsbuch, das ein breiteres Publikum (wie Studenten) erreichen soll, gut platziert ist. Der Vorwurf, dass der Beitrag das Narrativ der jeweiligen kulturellen, ethnischen und religiösen Minderheiten ausblendet, trifft übrigens auf die Mehrheit der in dem Band enthaltenen Länderstudien zu.

Trotz dieser Kritik kann der Band insgesamt als durchaus gelungen bezeichnet werden, vor allem wegen der Sammlung von Länderstudien, die in dieser Form bislang noch nicht vorlagen. Auch die Überblicksdarstellungen, die eher aus politikwissenschaftlicher und soziologischer Perspektive verfasst worden sind, sind eine gute Ergänzung zu den derzeit verlaufenden Diskussionen, die vor allem auf Kultur fokussieren.

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