Titel
Zeitschichten. Studien zur Historik


Autor(en)
Koselleck, Reinhart
Erschienen
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
DM 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Torsten Bathmann, HU-Berlin

Als der 1996 verstorbene Mediävist Georges Duby in einem Interview Ende der 1970er Jahre behauptete, die Geschichte sei im Grunde nur der kontrollierte Traum des Historikers1, zog er damit viel Kritik auf sich. Für ihn stand es außer Frage, daß die Geschichtswissenschaft ein rein subjektives Geschäft sei, allein durch die Methodik könne sie kritisiert und den Aussagen über die Vergangenheit die Willkürlichkeit genommen werden. Der Methodik komme eine korrigierende Funktion zu, sie mache deutlich, daß die Geschichte sich nicht selbst offenbare, sondern ein - sehr wohl von Selbstkritik und Ethik gespeistes - Handwerk des Historikers sei.

Es kommt nicht von ungefähr, daß zur selben Zeit Reinhart Koselleck sich ähnlich äußerte und vom Vetorecht der (methodisch bearbeiteten) Quellen sprach. Koselleck machte damals die deutschen Historiker auf Charakteristika der geschichtswissenschaftlichen Praxis aufmerksam, die den bundesdeutschen Forschern so deutlich nicht vor Augen gestanden zu haben schien: "Es geht in der geschichtlichen Erkenntnis", so schrieb er fast axiomatisch, "immer um mehr als um das, was in den Quellen steht. Eine Quelle kann vorliegen oder gefunden werden, aber sie kann auch fehlen. Und doch bin ich genötigt, Aussagen zu riskieren."2 Dieses Risiko sei unumgänglich, man könne es aber durch eine "Theorie möglicher Geschichten" in den Griff bekommen.

Als Duby und Koselleck sich so über die historische Methode äußerten steckte die Methodendebatte um die neue Kulturgeschichte noch in den Kinderschuhen. Lawrence Stone hatte gerade seine Thesen über die Rückkehr einer "Neuen Alten Geschichte" veröffentlicht, in Frankreich sprach man von der "Nouvelle Histoire", Jean-François Lyotard legte seinen Bericht über das "postmoderne Wissen" vor und Hans-Ulrich Wehler schrieb verbissen gegen die neohistoristischen Tendenzen à la Nipperdey und Koselleck an.3

In den letzten 20 Jahren hat sich jedoch die Perspektive auf eine Theorie möglicher Geschichten grundlegend geändert. Ob Historikerstreit, Goldhagen- und Mahnmal-Debatte, ob "Berliner Republik"-, "Normale Nation"- oder Walser-Bubis-Streit: Geschichte scheint eine neue breite Aufmerksamkeit und eine neue moralische Brisanz gewonnen zu haben. Und dazu kommen natürlich auch die politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen, der Umbruch von 1989 bis 1991, die Globalisierung und die Entstehung von Netzwerk-Gesellschaften. Neue Erfahrungen konnte man zuhauf machen, und Methodenwechsel bzw. -pluralisierung hat auch statt gefunden. Ist dies aber auch eine "neue Zeit" möglicher Geschichten, der wir entgegen gehen?

Diese Frage mag wohl der Antrieb des Suhrkamp-Verlag gewesen sein, an Reinhart Koselleck mit der Bitte heranzutreten, zahlreiche seiner Aufsätze zu bündeln, zu überarbeiten und in drei Bänden neu zu veröffentlichen. Das Projekt selber ist nicht allzu jung. Bereits 1996 hatte Koselleck in einem Interview angekündigt, er würde demnächst an die fünfzig Aufsätze zusammenfassen und neu veröffentlichen, "um mal wieder zu Wort zu kommen."4 Vier Jahre später nun liegt der erste Band vor. Mit dem Titel "Zeitschichten. Studien zur Historik" scheint sich das Buch in den Mainstream der Millenium-Literatur einzureihen, der Inhalt jedoch ist wesentlich reichhaltiger, als es ein Blick auf den Einband vermuten läßt. Während sich die beiden noch ausstehenden Bände mit begriffsgeschichtlichen und sozialhistorischen Themen befassen sollen, hat der vorliegende Band die "Zeit des Historikers" oder vielmehr die verschiedenen notwendigen Zeitebenen zum Gegenstand, die Geschichtswissenschaft möglich machen und die die Geschichtswissenschaft begrifflich zu fassen versucht.

Der Band umfaßt insgesamt 17 Aufsätze, Reden und Vorträge aus dem Zeitraum von 1972 bis 1998. Lediglich drei der Beiträge stammen aus den 1990er Jahren ("Zeitschichten" [1995], "Wie neu ist die Neuzeit?" [1990], "Deutschland - eine verspätete Nation?" [1998]) und nur drei Beiträge sind Erstveröffentlichungen, alles überarbeitete Vorträge der 1980er Jahre ("Raum und Geschichte" [1986], "Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisation" [1985], "Die Zeiten der Geschichtsschreibung" [1982]). Diesen Aufsätzen ist eine Antwort von Hans-Georg Gadamer auf Kosellecks Festvortrag "Historik und Hermeneutik" [1987 veröffentlicht] anläßlich des 85. Geburtstags von Gadamer im Jahre 1985 beigefügt.

Der erste Blick in das Inhaltsverzeichnis macht damit deutlich: mit den hier versammelten Aufsätzen werden all jene Leser enttäuscht, die von Koselleck vor allem die Ergebnisse seiner Arbeit der 1990er Jahre erwartet hatten, zudem er in dem oben erwähnten Interview die Ergebnisse der letzten zehn Jahre angekündigt hatte. Daß dies nun nicht eingehalten wurde, mag nachdenklich stimmen. Ebenso darf gefragt werden, welchen Sinn überhaupt die Veröffentlichung von Aufsätzen hat, die bereits andernorts seit vielen Jahren bequem verfügbar sind (so sind etwa die Aufsätze"Erfahrungswandel und Methodenwechsel" [1988] und "Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtsschreibung" [1972] in der Reihe "Theorie der Geschichte" bei dtv erschienen, die Rede "Wie neu ist die Neuzeit?" ist ein Nachdruck aus der HZ 250 [1990]!). Dabei wiegt um so schwerer, daß mittlerweile auch die Geschichtswissenschaft zu einem erheblichen Maß kurzweiliger geworden ist. Auch die Ergebnisse der historischen Forschung können binnen weniger Jahre überholt sein.

Die hier vorgelegten Beiträge Kosellecks lesen sich dennoch hoch aktuell. Dies ist auch die Antwort auf die grundsätzlich berechtigte Skepsis gegenüber der Wiederveröffentlichungspraxis mancher Verlage. Was Koselleck hier in vier Kapiteln vorgelegt hat, schließt zum Teil an frühere Ausführungen in dem Band "Vergangene Zukunft" an, ist aber mehr als nur eine Variation des Themas "Historik" in Zeiten der kulturgeschichtlichen Herausforderung. Er präsentiert vielmehr Grundideen zu einer "Theorie historischer Zeiten", auf welche die Historiker immer wieder zurückgreifen müssen, weil "historische Zeiten" - so die zentrale These Kosellecks - die Arbeit des Historikers in zweifacher Weise bedingen: "historische Zeiten" formen oder rahmen den Gegenstandsbereich des Historikers, der sich eben mit "historischen Phänomenen" beschäftigt, und sie haben die "Geschichtswissenschaft" hervorgebracht, Die Geschichtswissenschaft ist selbst ein historisches Phänomen, ein Ergebnis der Zeit um 1800, als die Trennung zwischen "Geschichten" und "Historie", zwischen Geschehen und Bericht aufgehoben wurde in dem Kollektivsingular "Geschichte", in die "Geschichte schlechthin".5

Der Begriffswandel ist jedoch nicht Gegenstand des Bandes, es geht vielmehr um die Vielschichtigkeit von Zeit und Zeitwahrnehmung, die mit diesem Wandel einher geht und in jedem historischen Phänomen zusammentreffen. Im 18. Jahrhundert habe ein Prozeß der Verzeitlichung von Naturgeschichte und Humangeschichte begonnen: "Was ehedem in Schöpfungsmythen und Kosmognonien aufgehoben war, gewinnt jetzt geschichtliche Strukturen." (S. 12) Koselleck geht der (Auf)Schichtung dieser Strukturen nach. Historische Phänomene weisen eine Verschachtelung von grundsätzlich drei Zeitqualitäten auf: die Einmaligkeit, eine Wiederholungsstruktur, und beide eingebettet in lange Kontinuitäten. Die Fragestellung unterschiedlicher Zeitschichten läßt an Fernand Braudels analytische Unterscheidung zwischen historischen Phänomenen langer, mittel- und kurzfristiger Dauer denken. Bei Koselleck jedoch wird diese Parallelschaltung von Zeitebenen "herausgedreht und auf ein gemeinsames anthropologisches Grundmuster zurückgeführt, das zugleich verschiedene Zeitschichten in sich birgt." (S. 14) Ein (triviales) Beispiel Kosellecks verdeutlicht dies: der Brief vom Tod eines Verwandten ist ein einschneidendes und einmaliges Erlebnis, es teilt den persönlichen Lebenslauf, hinterher ist nicht mehr wie vorher; aber der Erhalt des Briefes ist nur möglich, wenn jeden Morgen der Briefträger seine Arbeit erfüllt und die Post austrägt, die Einmaligkeit des Trauer-Briefes und die alltägliche Wiederholung des Postaustragens sind Teil einer Geschichte. Dazu sind Einmaligkeit und Wiederholung der Postzustellung angebunden an die Institution "Post", die ihrerseits nicht mehr an die Person des Briefträgers gebunden ist, also eine übergenerationelle Zeitstruktur besitzt. Die Institution "Post" verweist auf lange Dauer, die ebenfalls eine Zeitschicht des einmaligen Trauer-Briefes und des wiederholten Postaustragens ist (S. 21).

Koselleck versucht in den hier versammelten Aufsätzen, die Variationen dieser zeitlichen Tiefenstrukturen in verschiedenen historischen Phänomenen aufzudecken: etwa anhand der Geschichtswissenschaft, die sich mit einmaligen, aber potentiell wiederholbaren Erfahrungen methodisch auseinandersetzt (S. 66); anhand der Treffsicherheit der "Kunst der Prognose", die seit der Französischen Revolution stark abgenommen habe, weil "ehedem langwährende Konstanten, die den Bedingungsrahmen mittelfristiger Verläufe und kurzfristiger Handlungszusammenhänge stabil hielten, selber unter erhöhten Wandlungsdruck geraten sind." (S. 221); anhand der Rechtsgeschichte, die als Teil der allgemeinen Geschichte ebenfalls dem zeitlichen Dreisatz unterworfen sei: "Der Fall des Müllers Arnold ist nicht als Einzelgeschichte spannend - das ist der Fall natürlich auch -, sondern innerhalb der Rechtsgeschichte spannend als Symptom für einen Strukturwandel, der die Wiederholbarkeit von Machtsprüchen ausschließt, um die neue Regelhaftigkeit unabhängiger Justizverfahren in Gang zu setzen und rechtlich festzuschreiben." (S. 353)

Es kommt jedoch nicht von ungefähr, daß die obigen Beispiele Kosellecks chronologisch parallel, nämlich um das Jahr 1800 angesiedelt sind. Die anthropologischen Dimensionen von Zeit unterliegen nämlich ihrerseits zeitbedingten Veränderungen - Koselleck spricht vom Wandel und den Verschränkungen der Zeitdimensionen -, sie sind nicht ahistorische, überzeitliche, konstante Bedingungen historischer Phänomene, sondern eingebettet in Zeitstrukturen der Veränderung: bei Koselleck in Strukturen exponentieller Beschleunigung. Diese Beschleunigung ist einerseits ein Erfahrungsbegriff, Beschleunigung wird von Menschen erlebt, jedoch in unterschiedlicher Intensität, je nachdem ob es sich um die Geschwindigkeit von Umweltveränderungen ("Raum und Geschichte"), Industrie, Transport- und Verkehrsmitteln ("Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte?"), politische Umwälzungen ("Wie neu ist die Neuzeit?") oder Kriegsverläufe ("Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten. Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein") handelt.

Zum anderen sei "Beschleunigung" ihrerseits Ergebnis einer Schichtung exponentieller Zeitkurven: von den ersten Spuren menschenähnlichen Lebens bis zur neolithischen Revolution hat es hunderte Millionen von Jahren gebraucht, von der Seßhaftwerdung und dem Ackerbau bis zur Industriellen Revolution nur mehr Zehntausend Jahre, seit 1800 nun befänden wir uns in einer weiteren Phase der Beschleunigung - und nun mit einem neuen Dokumentator, nämlich der Geschichtswissenschaft.

Selbst wenn man die letzten Beobachtungen nicht mit Koselleck teilt, lassen sich viele neue Inspirationen aus dem Band gewinnen: da ist die Frage der Periodisierung, die neuerdings von Charles S. Maier aufgeworfen wurde, ob denn Jahrhundert-Begriffe wie das "lange 19. Jahrhundert" oder das "kurze 20. Jahrhundert" überhaupt eine Aussagekraft hätten6; da sind die Überlegungen zur "Wiederkehr" des Raumes, dem Koselleck einige Gedanken widmet, und womit sich an die heutigen Debatten der politischen Geographie anschließen ließe7; andere Anregungen ließen sich zuhauf finden.

Und darunter ist auch die erkenntnistheoretische Frage, was als mögliche Geschichte durch Sprache reflektiert werden kann, wie wir Geschichte verstehen können, ob nicht auch noch in dem abstraktesten Strukturbegriff Reste von sprachlich vermittelter und historischer Erfahrung stecken. Und daran anschließend findet sich wohl die stärkste Provokation dieses Bandes: die These, daß Geschichte nicht die Frage stellt, was geschehen muß, sondern was geschehen kann. "Kein Ereignis ist deshalb mehr eingetreten, weil es als notwendig definiert wird." (S. 89) Kosellecks Historik zielt auf die Frage, was dem Menschen möglich ist, im Guten wie im Schlechten, und wie diese Möglichkeiten sich zeitlich brechen, wie Zeit Geschichte möglich macht. Das sich dahinter ein moralisches Programm verbirgt, ähnlich dem Programm von Georges Duby ist nicht unschwer zu erkennen. Man sollte die Provokation ernst nehmen.

Anmerkungen:

1 Duby, Georges/Lardreau, Guy: Geschichte und Geschichtswissenschaft. Dialoge, Frankfurt/Main 1982, S. 37-50, besonders S. 48. (das frz. Original erschien 1980 bei Flammarion Paris)

2 Koselleck, Reinhart: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/Main 1979, S. 176-207, hier: S. 204.

3 Stone, Lawrence: The Revival of Narrative: Reflections on a New Old History, in: History and Theory 85 (1979), S. 3-24; LeGoff, Jacques (Hg.): La Nouvelle Histoire, Paris 1978; Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979; Wehler, Hans-Ulrich: Geschichtswissenschaft heute, in: Habermas, Jürgen (Hg.): Stichworte zur 'Geistigen Situation der Zeit', Bd. 2: Politik und Kultur, Frankfurt/Main 1979, S. 709-753.

4 Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Christof Dipper, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 187-205, hier: S. 202.

5 Auf diesen Aspekten liegt noch der Schwerpunkt in dem Band "Vergangene Zukunft".

6 Maier, Charles S.: Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105 (2000), S. 808-831.

7 Vgl. etwa Osterhammel, Jürgen: Die Wiederkehr des Raumes: Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 374-397.

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