C. Tiersch (Hrsg.): Die Athenische Demokratie im 4. Jahrhundert

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Titel
Die Athenische Demokratie im 4. Jahrhundert. Zwischen Modernisierung und Tradition


Herausgeber
Tiersch, Claudia
Erschienen
Stuttgart 2016: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
394 S.
Preis
€ 63,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Günther, Institute for the History of Ancient Civilizations, Northeast Normal University Changchun, China

Wenn ein Buch mit gleichem Haupttitel wie ein 21 Jahre vorher erschienener Konferenzband erscheint1, sind die Bezüge und Erwartungen natürlich groß, zumal es um ein Thema geht, das gerade viel Aufmerksamkeit in der Forschung erregt: die Neubewertung der Strukturen in der Polis Athen nach dem verheerenden Peloponnesischen Krieg und des vorher oft als Zerfallszeit gedeuteten 4. Jahrhunderts v.Chr. an und für sich. Der zum Vorgängerband abweichende Untertitel „Zwischen Modernisierung und Tradition“ der 2012 abgehaltenen Tagung2 und des nunmehr (endlich) veröffentlichten Sammelbandes zeigt sogleich, dass sich die Fragestellung zur damaligen Tagung in Bellagio („Vollendung oder Verfall einer Verfassungsform?“) signifikant verschoben hat: Es geht heuer nicht mehr um die Diskussion der damals noch stärker zu bekämpfenden Niedergangstopik, sondern um neue Kategorisierungen, die durch die Einbettung politisch-staatsrechtlicher Sachverhalte in gesellschaftliche, wirtschaftliche, rechtliche, rhetorische und ähnliche Felder in den letzten Jahren in der Forschung mehr an Dynamik gewonnen haben. Geblieben ist allerdings der implizite Vergleich mit der Situation vor dem Peloponnesischen Krieg, weswegen die 20 Beiträge, so unterschiedlich ihre Ausrichtung und der Untersuchungsgegenstand auch sind, des Öfteren und immer wieder Rückgriffe auf die Zeit vor dem 4. Jahrhundert v.Chr. unternehmen.

Die Herausgeberin Claudia Tiersch präzisiert in ihrem einführenden Artikel (S. 7–32) das Verständnis des Untertitels, indem sie ausgehend von einem Überblick über Modernisierungstheorien deren Anwendbarkeit auf den Tagungsgegenstand überprüft. Dabei sieht sie großes Potential gerade bei der Applikation von Analysekategorien dieser Theoreme, beispielsweise den verschiedenen Reaktionen, Ausdifferenzierungsprozessen, individuell und gruppenspezifisch agierenden Akteuren und Neujustierungen bzw. Verharrungen in traditionellen Strukturen nach der Zäsur des Peloponnesischen Krieges und den weiteren Kriegsereignissen, die im 4. Jahrhundert v.Chr. noch folgen sollten. Tiersch ordnet sodann die einzelnen Beiträge in diese aufgeworfenen Fragenkomplexe ein, wobei sie (wie viele spätere Autoren) ganz im Zeichen aktueller Forschungstrends einen Schwerpunkt auf Transformationsprozesse legt.

Die einzelnen Beiträge, die hier ob der Anzahl und zahlreichen Detailergebnisse nicht alle en détail besprochen werden können, kreisen um verschiedene Themenschwerpunkte: Bezüglich der rechtlich-politischen Ordnung wird das komplexe Wechselspiel zwischen alten wie neuen Institutionen, demokratischen Entscheidungsprozessen und Einflussmöglichkeiten seitens Individuen und Gruppen vornehmlich in den Blick genommen. Insbesondere die rhetorische Ebene wird dabei als Schauplatz des Aufeinandertreffens von Ordnungssystemen und deren potentieller Beeinflussbarkeit herausgestellt. So betonen Lene Rubinstein (S. 55–72) wie Rosalind Thomas (S. 89–107), wie wichtig das Zusammenspiel von Redner und Auditorium in Volksversammlungen und Gerichtsverfahren gewesen ist. Dass einerseits Vergeltungsforderungen höherer Kategorie nicht einfach auf niedrigere Verfehlungsebenen übertragen wurden (Rubinstein), andererseits emotionale Agitationen wie Reaktionen an der Tagesordnung waren, zeigt, wie wenig Pauschalisierungen wie etwa „radikale Demokratie“ zur Beurteilung der konkreten Verfahrensabläufe geeignet sind. Dies lässt sich auch auf institutioneller Ebene zeigen, wo sich ebenfalls kein plumper Antagonismus zwischen freiheitlicher Entscheidungsgewalt demokratischer Institutionen und Implementation rechtsstaatlicher Verfahrenswege ausmachen lässt (Edward M. Harris, S. 73–87): Vielmehr sind die Ausdifferenzierungstendenzen in politischer Verwaltung und Justiz der vermehrten Komplexität wie Notwendigkeit der Rekrutierung von Befähigten geschuldet (Peter J. Rhodes, S. 109–119). Instruktiv scheint diesbezüglich auch die Betrachtungsweise unter dem Aspekt der vertrauensbildenden Maßnahmen in staatliches Handeln durch institutionalisiertes Misstrauen zu sein, was Jan Timmer zu Recht als Charakteristikum der athenischen Demokratie im 4. Jahrhundert v.Chr. hervorhebt (S. 33–53).

Vielfach werden ökonomisches Denken und Handeln analysiert. Bei fast allen diesbezüglichen Beiträgen rückt der Staat bzw. die politische Ebene als ökonomischer Akteur und Gestalter von Rahmenbedingungen in den Mittelpunkt. So kann Armin Eich (S. 233–252) deutlich erweisen, wie stark staatlicherseits Druck auf Preisbildungsmechanismen ausgeübt wurde, wobei insbesondere die ortsansässigen Klein- und Zwischenhändler belastet wurden, während die für die Massenversorgung wichtigen (fremden) Großhändler weitaus besser hofiert wurden. Zentrale Dokumente wie das Getreidegesetz von 374/73 v.Chr. (SEG XLVII 96) oder das Münzdekret von 375/74 v.Chr. (SEG XXVI 72*) kommen dabei ebenso in verschiedenen Beiträgen zur Sprache wie die rechtlichen Rahmenbedingungen, beispielsweise durch die Rücksicht auf Handelszeiten wie -dynamiken nehmenden dikai emporikai, die letztlich wirtschaftsstimulierend wirkten. Dass sich dieses staatlich forcierte ökonomische Handeln auch auf die wenigen erhaltenen wirtschaftsanalytischen Schriften und Passagen der antiken Autoren niederschlug, kann Raymond Descat (S. 195–206) veranschaulichen, indem er den Gleichklang von polis-orientierter Finanz- und oikos-praktizierter Wirtschaftsaktivität bis in sprachliche Ebenen hinein betont, wobei weitergehende Ausführungen etwa zum Verhältnis von Xenophons Poroi und dessen Oikonomikos leider keine Berücksichtigung finden.

Hinsichtlich der sozialen Interaktion innerhalb der Polis sind Analysen von Netzwerken und Interdependenzen zwischen „privat“ und „öffentlich“ vorherrschend: So lässt eine umfangreiche Auswertung der Vereinigungen im Athen des 4. Jahrhunderts v.Chr. (S. 121–162) unter Heranziehung auch späterer, hellenistischer Zeugnisse Vincent Gabrielsen zum wohlbegründeten Schluss kommen, dass sich im Gegensatz zum 5. Jahrhundert v.Chr. keine „staatliche“ Monopolisierung von Vereinigungen, vielmehr eine Rückeroberung dieser sozialen Institutionen und Räume durch das Private, obgleich mit Übernahme demokratisch-politischer Organisationsformen und -bezeichnungen, und zudem eine Vermengung von religiösen, privaten und öffentlichen Interessen zeige; dass dabei auch Nicht-Bürger zumindest teilweise integriert worden seien und sich ebenso fremde Ethnien als Vereinigungen hätten organisieren können, wertet er als soziale Modernisierung, die der athenischen Demokratie und Gesellschaft einen ganz anderen Charakter als vor dem Peloponnesischen Krieg verliehen habe. Hierzu passen die Beobachtung von Katarina Nebelin bezüglich des Vielfaltsbegriffs bei Aristoteles (S. 293–333), der das Ausgerichtetsein auf das Poliswohl als Ziel aller individuellen, gruppenspezifischen wie polisbasierten Handlungen definiert, weswegen eine Vielfalt für ihn nur für eine bestimmte kleine, relativ homogene Gruppe von Freien und Gleichen, etwa hinsichtlich Vermögen, Bildung und Tugenden, in Betracht kommt. Dass damit gerade eine große Masse an sozialen Gruppen von der Teilhabe an der Polis ausgeschlossen wird, deren Vielfalt laut Aristoteles schädlich für das Poliswohl wäre, erweist deutlich, wie sehr sich Aristoteles in Kontrast zur tatsächlichen athenischen Demokratie setzte.

Inhaltlich bieten somit die Aufsätze einiges, obschon die hier exemplarisch aufgezeigten Tendenzen durch bessere Abstimmung der einzelnen Beiträge untereinander in Form von Querverweisen oder Bezugnahmen deutlicher akzentuiert hätten werden können, zumal jegliche Register fehlen. Durch die Zusammenfassung der Beiträge im Einleitungskapitel von Claudia Tiersch (S. 23–29) sowie den abschließenden Beitrag von John Davies (S. 385–394), in dem er sich kritisch mit dem Modernisierungsbegriff der Tagung auseinandersetzt und stattdessen „change“ als anzuwendende Kategorie auf Wissens-, Wirtschafts- und politisch-sozialer Ebene vorschlägt, wird dieses Manko teilweise ausgeglichen. Anzumerken ist leider, dass die Präsentation des Bandes in formaler Hinsicht ungenügend bleibt: Weder sind einheitliche Standards für die Zitation verwendet worden, noch hat offensichtlich ein zuverlässiges Lektorat stattgefunden, wie nicht nur die zahlreichen orthographischen, sondern auch die Layoutfehler beweisen. Eine inhaltliche Lektüre wird dadurch deutlich erschwert, und es entsteht der Eindruck einer fast hektischen Fertigstellung des Bandes, was angesichts einer relativ langen Zeitspanne zwischen Tagung und Veröffentlichung doch verwundert. Den allesamt anregenden Beiträgen wurde damit leider ein Bärendienst erwiesen.

Anmerkungen:
1 Walter Eder (Hrsg.), Die athenische Demokratie im 4. Jahrhundert v. Chr.: Vollendung oder Verfall einer Verfassungsform? (Akten eines Symposiums 3.–7. August 1992, Bellagio), Stuttgart 1995.
2 Vgl. den Tagungsbericht der Herausgeberin Claudia Tiersch in H-Soz-Kult, 10.12.2012, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4512> (08.08.2016).

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