H.G. Hockerts u.a. (Hrsg.): Der "Rheinische Kapitalismus"

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Titel
Der "Rheinische Kapitalismus" in der Ära Adenauer.


Herausgeber
Hockerts, Hans Günter; Schulz, Günther
Reihe
Rhöndorfer Gespräche 26
Erschienen
Paderborn 2016: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
211 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Erik Lommatzsch, Historisches Institut, Universität Mannheim

Seit 1969 ist eine lange Zeit vergangen. In jenem Jahr veranstaltete die Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus eine erste Konferenz mit Wissenschaftlern und Zeitzeugen. Dieses Format wurde als „Rhöndorfer Gespräche“ weitergeführt. Die Stiftung veröffentlichte Vorträge sowie Protokolle der Diskussionen, ein erster Band erschien 1978.1 In nicht ganz regelmäßigen Abständen, aber doch kontinuierlich wurden weitere Bände publiziert (zunächst im Belser-Verlag, dann bei Bouvier, ab 2016 jetzt bei Schöningh). Die Themen waren vor dem Hintergrund der ersten anderthalb Jahrzehnte der Bundesrepublik angesiedelt, jedoch sehr stark auf die Person des ersten Bundeskanzlers und sein engstes Umfeld gerichtet, die Titel folgten nicht selten dem Schema „Adenauer und…“.

Nunmehr liegt der 26. Band der „Rhöndorfer Gespräche“ vor. Mit „Der ‚Rheinische Kapitalismus‘ in der Ära Adenauer“ präsentiert die Stiftung gleich mehrere Neuerungen. Auffällig ist zunächst die im Vergleich zu den Vorgängerbänden deutlich ansprechendere äußere Form. Weiterhin erfährt man im Vorwort des Stiftungsvorstandes, dass sich die „Rhöndorfer Gespräche“ jetzt etwas anders orientieren: Relevante Zeitzeugen aus der unmittelbaren Umgebung des ersten Kanzlers haben mittlerweile Seltenheitswert; zudem gelten viele direkt mit Adenauer verbundene Fragen als „inzwischen größtenteils erforscht“ (S. 7). Folglich richten die Wissenschaftler den Blick nun zum einen auf die Epoche Adenauers insgesamt und versuchen zum anderen einen Brückenschlag bis hin zur heutigen Zeit, um die Bedeutung bzw. Wandlung der damals gelegten Fundamente für die Gegenwart aufzuzeigen. Dies allerdings ist – gerade hinsichtlich des Titels des ersten Bandes – auch eine verstärkte Wiederaufnahme ursprünglicher Intentionen. Die flankierende, nicht selten wortführende und atmosphärisch bereichernde Unterstützung respektive mitunter auch komplette Gestaltung eines „Rhöndorfer Gesprächs“ durch Zeitzeugen gehört – man kann getrost hinzufügen: leider – der Vergangenheit an.

Thematisch eingeleitet wird dieser Band durch die beiden Herausgeber Hans Günter Hockerts und Günther Schulz. Eine Annäherung an das Thema „Rheinischer Kapitalismus“ erfolgt zunächst von außen: Nachdem die „ordnungspolitischen […] Debatten nicht mehr im Bann der Systemkonkurrenz von ‚Kapitalismus und Kommunismus‘ geführt werden“ (S. 10), entstand eine neue Debatte über „Varieties of Capitalism“. Als einer der Auslöser gilt der französische Ökonom Michel Albert (1930–2015), der zwischen dem „Rheinischen“ und dem „neo-amerikanischen“ Kapitalismus unterschied.2 Das Zentrum des ersteren liege in Deutschland, erstrecke sich aber – der Form nach – auch auf die Schweiz, die Niederlande, Skandinavien und Japan. Merkmale seien „langfristige kooperative Beziehungen zwischen den relevanten ökonomischen Akteuren“, viel Wert werde gelegt auf „Verfahren des sozialen Ausgleichs“. Das „neo-amerikanische“ Modell hingegen setze auf Marktradikalismus, in dem es „vor allem auf schnellen Gewinn ankomme“ (S. 9). Die Gefahren des „Rheinischen Kapitalismus“ im Blick, etwa Unbeweglichkeit bis hin zur Verkrustung von Strukturen, erfuhr das Modell bis zur Gegenwart unterschiedliche Beurteilungen, wurde im Zuge der Globalisierung der Finanzwirtschaft zuweilen bereits abgeschrieben, erlebte aber angesichts der Krisenauswirkungen seit 2008, für deren Bewältigung Deutschland bessere Voraussetzungen als andere Staaten mitbrachte, wieder eine Art Renaissance, zumindest bezüglich der Wertschätzung „einige[r] Elemente“ (S. 12).

Zusammengefasst werden in der Einleitung fünf Merkmale des „Rheinischen Kapitalismus“, unter Bezugnahme auf Arbeiten von Friederike Sattler und Sigurt Vitols (S. 12f.):
1. Sichtbar ist ein Netzwerk aus Kapitalbeteiligung und Personalverflechtung zwischen industriellen Großunternehmen, Banken und Versicherungen („Deutschland AG“).3
2. Die kreditgebende Hausbank dominiert bei der Unternehmensfinanzierung.
3. Es gibt kooperative Beziehungen zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften mit einem hohen Grad an Kompromissfähigkeit.
4. Es erfolgt eine „tripartistische“ Zusammenarbeit von Staat, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften; der Staat moderiert dabei die sozialpartnerschaftlichen Beziehungen.
5. Es herrscht ein exportorientiertes Produktionsregime vor, welches stärker auf Qualitätsprodukte als auf Massenproduktion setzt.
Als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal zum neo-amerikanischen bzw. liberalen, angelsächsischen Modell wird die Institutionalisierung verschiedener Interessen mit dem Ziel der Kooperation angesehen (laut Sattler, vgl. S. 13).

Nach der Abgrenzung des „Rheinischen Kapitalismus“ von seinem marktradikalen Gegenüber – immer unter Betonung der vielfältigen Ausdifferenzierungen – wird in der Einleitung verdeutlicht, dass auch innerhalb dieser Variante mehrere Spielarten, Ansichten und mitunter fließende Übergänge zu konkurrierenden Modellen vorhanden sind. Schon die Begrifflichkeiten seien nicht immer ganz eindeutig: „Rheinischer Kapitalismus“, korporative Marktwirtschaft oder Soziale Marktwirtschaft? Im Großen und Ganzen handle es sich um Synonyme, je nach politischer Disposition zu gebrauchen. Unklar sei aber beispielsweise das „Soziale“ bei der Sozialen Marktwirtschaft. Alfred Müller-Armack selbst sagte, das Ziel sei es, „das Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“ (hier zit. S. 16); alles Weitere blieb offen. Der Ordoliberalismus gilt als Ursprung der Idee der Sozialen Marktwirtschaft, mithin des „Rheinischen Kapitalismus“ nach 1945. Dennoch seien in der frühen Bundesrepublik besonders drei weitere Einflüsse mitprägend gewesen: die amerikanischen Besatzer, der Sozialkatholizismus sowie die „Macht der Tradition“ (S. 16).

Vor dieser in der Einleitung gezeichneten Folie widmen sich sieben der acht weiteren Beiträge des Bandes ausgewählten wirtschaftshistorischen Komplexen und ihren Verknüpfungen der Ära Adenauer in Bezug auf Ausprägung und Fortwirkung des „Rheinischen Kapitalismus“. Besonders im Fokus steht dabei die Frage nach Kontinuitäten. Thesenartige Überlegungen, welche sich bis in die Gegenwart spannen, finden sich in den meisten Beiträgen.

Jan-Otmar Hesse vertritt in seinem Aufsatz über die Kartellgesetzgebung die These, dass die Aushöhlung des „Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ von 1957 nicht in erster Linie als Restauration des „klassische[n] Land[es] der Kartelle“ (Franz Böhm, hier zit. S. 29) zu verstehen sei, sondern als Wandel der Gegebenheiten: Statt nationaler Kartelle hätten auf dem zunehmend internationalen Markt Fusionen eine wesentlich bedeutendere Rolle gespielt.

Die Industrie- und Handelskammern, „nach wie vor Standesorganisationen und Interessenvertretungen der Unternehmer“, waren zu Beginn der Ära Adenauer „im Vergleich mit früheren oder späteren Phasen überproportional bedeutend“ (S. 73), wie Boris Gehlen ausführt. Bezüglich der Berufsbildung konnten die Kammern gegenüber den Gewerkschaften ihre Gestaltungshoheit behaupten. Gehlen argumentiert, dass durch das Wiedererstarken der Kammern eine stärker liberale oder sozialistische Ausrichtung des Institutionengefüges verhindert worden sei. In der Bundeshandwerksordnung von 1953, mit der sich Christoph Boyer beschäftigt, lebten ebenfalls ständische Traditionen wieder auf; an der Meisterprüfung als Voraussetzung zur Gründung eines Handwerksbetriebs wurde festgehalten. Andererseits zeigte sich, dass das Handwerk seit den 1950er-Jahren mehr und mehr verschwand – zugunsten kleiner Industriebetriebe.

In der Gewerkschaftsentwicklung macht Wolfgang Schroeder drei Phasen aus, wobei er die Zeit von 1949 bis 1959 als „Erprobungsphase“ bezeichnet. Hier bildete sich die auch später dominierende Einheitsgewerkschaft heraus. Die Betrachtung führt Schroeder fort über das „Goldene Zeitalter“ (1960–1989) mit Mitgliederexpansion, exportorientierter Tarifpolitik – wodurch Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung möglich waren –, bis hin zu der nach 1990 anbrechenden „Umbauphase“ mit sinkenden Mitgliederzahlen und Gewerkschaftskonkurrenz (S. 118f.).

Ralf Ahrens, welcher sich der Kreditwirtschaft widmet, stellt „die offenkundige Kontinuität der personellen und finanziellen Verflechtungen von Großbanken und Großindustrie“ (S. 140) fest, unterstreicht aber, dass es Forschungsdesiderate bezüglich der konkreten Bedeutung und Auswirkungen dieser Verflechtungen gebe. „Bankenmacht“ sei erst seit den späten 1960er-Jahren in der öffentlichen Wahrnehmung als problematisch empfunden worden. Auch die „Rolle der Kreditwirtschaft für die Entwicklung kleinerer und mittlerer Unternehmen“ sei noch weitgehend unerforscht (S. 140). Bei der Betrachtung der Unternehmensfinanzierung betont Friederike Sattler, dass die kreditgebende Hausbank, deren traditioneller Universalbankcharakter somit gestärkt worden sei, eine deutlich größere Rolle gespielt habe als die Kapitalmärkte. Tragfähige Aussagen über die dafür ausschlaggebenden Beweggründe der Kreditnehmer ließen sich, wiederum aufgrund fehlender Forschung, noch nicht treffen. Christopher Kopper arbeitet die Rolle der Versicherungskonzerne heraus, welche von der Forschung bislang bezüglich ihrer Bedeutung „für die Kapitalmärkte und für die Finanzierung von Unternehmen weitgehend vernachlässigt“ worden seien (S. 169).

Im abschließenden Beitrag kehrt Hans Günter Hockerts dann zu einem klassischen Thema der „Rhöndorfer Gespräche“ zurück: Adenauer selbst steht im Mittelpunkt – und die Frage, ob er denn ein „Rheinischer Kapitalist“ gewesen sei. Hockerts bejaht dies: Adenauer habe hinter den Grundlagen der im vorliegenden Band exemplarisch erörterten Wirtschaftsordnung gestanden. Allerdings räumt Hockerts ein, dass Adenauer sich niemals als „Kapitalist“ bezeichnet hätte; das Wort habe in der politischen Tradition der Zentrumspartei und eben auch in der CDU keinen guten Klang gehabt.

Insgesamt handelt es sich um einen gelungenen Auftakt der „Rhöndorfer Neuausrichtung“. Dass nur deutsche Themen berücksichtigt wurden (worauf in der Einleitung entschuldigend hingewiesen wird, S. 24) und dass es eine Reihe weiterer Komplexe zu betrachten gäbe, kann kaum als Mangel eines Sammelbandes empfunden werden – der ja fast immer nur eine Auswahl an Themen zu präsentieren vermag und in der Regel dazu ermuntern soll, die Dinge weiter zu vertiefen. Ansatzpunkte gibt es hier genug.

Anmerkungen:
1 Konrad Repgen (Hrsg.), Die Dynamische Rente in der Ära Adenauer und heute, Stuttgart 1978.
2 Bezug genommen wird im vorliegenden Band auf: Michel Albert, Capitalisme contra capitalisme, Paris 1991; dt.: Kapitalismus contra Kapitalismus, Frankfurt am Main 1992.
3 Siehe u.a. auch Ralf Ahrens / Boris Gehlen / Alfred Reckendrees (Hrsg.), Die „Deutschland AG“. Historische Annäherungen an den bundesdeutschen Kapitalismus, Essen 2013.