Die Rezeption von Immanuel Kants kritizistischer Philosophie in der österreichischen Monarchie stellt für die österreichische (hier im engeren Sinne auf die heutige Republik bezogen), ungarische, tschechische, slowakische, slowenische, kroatische und teilweise auch rumänische, polnische, ukrainische sowie italienische Philosophiegeschichte ein wichtiges Thema dar, denn der Näherungsgrad zu Kants Kritizismus oder aber dessen Verwerfung dienen als geeigneter Ausgangspunkt zur Beschreibung und Beurteilung der in den verschiedenen Winkeln des einstigen Vielvölkerstaats aufkeimenden philosophischen Theorien. Bringt man in dieses an und für sich schon vielschichtige Thema die Rezeption Kants im Werk des in Wien geborenen Karl Leonhard Reinhold ein, ferner die Aufnahme in der Phänomenologie, dem berühmten Wiener Kreis und dem Neokantianismus im späten Österreich-Ungarn und im Zwischenkriegs-Österreich, sowie in ausgewählten Werken österreichischer Belletristen und Dramatiker des 20. Jahrhunderts, tut sich vor uns die außerordentlich große thematische Bandbreite des hier rezensierten Sammelbands auf, der von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Violetta L. Waibel, Professorin für Europäische Philosophie und Continental Philosophy am Institut für Philosophie der Universität Wien, herausgegeben wurde. Das Kernstück des Sammelbands besteht aus den Beiträgen, die auf dem 12. Internationalen Kant-Kongress in Wien im September 2015 zu hören waren, aus den Unterlagen zu der anlässlich dieses Kongresses stattfindenden Ausstellung, sowie aus Arbeiten, die in den Seminaren unter der Leitung der Herausgeberin entstandenen sind.
Der Band ist in sechs Abteilungen gegliedert: 1. Kant und die Zensur, 2. Kant und Karl Leonhard Reinhold, 3. Kant und Osteuropa, 4. Kant und seine Dichter, 5. Kant und der Wiener Kreis sowie 6. Kant und die Phänomenologie. Zählt man die Einleitung mit, enthält er 69 Beiträge von 40 Autoren, die in 10 Ländern (in Österreich, Schweiz, Ungarn, Rumänien, Italien, Deutschland, Tschechien, Slowenien, Kroatien und Polen) auf allen Stufen der akademischen Hierarchie tätig sind (von Studenten über Doktoranden, Assistenten, Dozenten bis hin zu Professoren), und das an Instituten verschiedenster Fachrichtungen (Philosophie, Germanistik, Musikwissenschaft und Rechtswissenschaft). Schon diese grundlegenden Eigenschaften des Bandes zeugen von einem organisatorisch höchst anspruchsvollen Projekt. Angesichts des beschränkten Umfangs der Rezension und auch mit Rücksicht auf meine beschränkten Kenntnisse einiger der behandelten Fragen bin ich nicht in der Lage, alle Beiträge zu kommentieren, und so konzentriere ich mich auf ein Thema – auf die philosophische Rezeption von Kants Kritizismus auf dem Territorium der österreichischen Monarchie, denn dieses nimmt im Sammelband den größten Raum ein, ist am wichtigsten und zugleich inhaltlich sowie methodologisch am kompliziertesten.
Der Sammelband greift schon in seiner Einleitung gezielt in die Diskussion ein, in der auf der einen Seite – vereinfacht gesagt – die mit dem Wiener Kreis und Roger Bauer verbundenen Philosophiehistoriker stehen und auf der anderen die Historiker der österreichischen Literatur und Philosophie mit Herbert Seidler und Werner Sauer an der Spitze. Die erste Forschergruppe war der Überzeugung, die Eigenständigkeit der österreichischen Philosophie bestehe in der Ablehnung von Kants Kritizismus sowie der Hervorhebung von Objektivismus und Logik, die zweite hingegen verwies darauf, dass eine derartige Auslegung eine Vielzahl von Quellen außer Acht lässt und dass Kants Kritizismus in der österreichischen Monarchie anfangs intensiv und ungeachtet der seiner Verbreitung von Seiten des Kaiserhofs gesetzten Hindernisse durchaus nicht immer ablehnend rezipiert wurde. Der Sammelband schlägt sich in diesem Streit dezidiert auf die Seite der zweiten Gruppe und zeigt einleuchtend, wie die von Kant vorgenommene transzendentale Revision aller Philosophiebereiche (nicht nur der Erkenntnistheorie, Moral, des Geschmacks, sondern auch der Anthropologie, Grundlagen der Naturwissenschaften, Rechtswissenschaft, Metaphysik und Theologie) spürbar (wenn auch manchmal ablehnend) die Wissenschaft in der österreichischen Monarchie quer durch die verschiedenen Disziplinen und Fächer erfasst hatte. Aus chronologischer Sicht führt der Sammelband vor Augen, dass sich von allen Etappen der österreichischen Rezeption von Kants Kritizismus bislang die Epoche der späten Aufklärung und des Vormärz (vereinfacht, die Rezeption vor dem Jahr 1848) einer gründlichen philosophiehistorischen Erfassung am stärksten widersetzt hat. Die damalige Rezeption wird auch hier im Unterschied zu der späteren, wie die sich mit der Phänomenologie und dem Wiener Kreis befassenden Abteilungen beweisen, immer noch vor allem in der Bindung an die Schulpolitik des Wiener Hofs, die Zensur, den Zustand des Buchmarkts, die Freimaurerbewegung und Konfessionsverhältnisse thematisiert, bereits weniger in der Bindung an die Entwicklung der philosophischen Denkweise. Will man jedoch diese Rezeption endgültig als ein vollwertiges Thema der Philosophiegeschichte darstellen und nicht als ein vorwiegend politisches, ideologisches, konfessionelles oder soziologisches Thema, ist es meiner Überzeugung nach unerlässlich, nach weiteren zeitgenössischen Quellen zu suchen und die Forschung auf ganz konkrete, aus der Sicht der vorgelegten extensiven Position geradezu marginal erscheinende Themen zu fokussieren, deren Untersuchungsresultate miteinander verglichen werden können.
Eine unerlässliche Ausweitung der Quellen wird auch vom Sammelband angedeutet, da er in zahlreichen Studien die Aufmerksamkeit auf die Rolle der Universitäten und Lyzeen in der österreichischen Rezeption von Kants Kritizismus gelenkt hat. Diese Forschungsrichtung muss noch vertieft werden, wobei vor allem die Tatsache zu akzeptieren ist, dass in den österreichischen Verhältnissen bis zum Jahr 1848 studentische Mit- und Abschriften von Vorlesungen eine grundsätzliche Quelle darstellen, da die eigentlichen Vorlesungen nur selten im Druck erschienen und häufig auch die Unterlagen von Seiten der Autoren nicht erhalten geblieben sind. (Auf die Notwendigkeit, Vorlesungsmitschriften zu untersuchen, verweist Béla Mester anhand des Beispiels von József Rozgonyi.) Die Unumgänglichkeit der Vorlesungen bei der Untersuchung der Kritizismus-Rezeption in der österreichischen Monarchie wird durch den Umstand verstärkt, dass die Vorlesungen durchaus nicht immer, wie das Beispiel der Prager Universitätsästhetik zeigt, blind und mechanisch an die vom Hof vorgeschriebenen Lehrbücher gebunden waren und dabei recht grundsätzlich für die Formung des philosophischen Denkens beim größten Teil des damaligen Auditoriums waren – bei den Studenten an den obligatorischen philosophischen Fakultäten. Die Vorlesungsmitschriften sind dabei nicht die einzigen bislang übergangenen handgeschriebenen Quellen, von denen man voraussetzten darf, dass man ihnen wichtige Informationen über die Rezeption von Kants Kritizismus im österreichischen Hochschulmilieu entnehmen kann – von Bedeutung sind in dieser Hinsicht auch die Unterlagen der Konkursprüfungsteilnehmer (sowohl in Form von Abhandlungen, die unmittelbar bei der Prüfung verfasst wurden, als auch von Arbeiten, die vor der eigentlichen Prüfung vorgelegt worden sind), aber auch die Beurteilungen ihrer Leistungen, die von den Mitgliedern der Prüfungskommission, das heißt von etablierten Professoren zu Papier gebracht worden sind. In all diesen Dokumenten, welche die Interessen und Präferenzen der aus institutioneller Sicht führenden Persönlichkeiten der österreichischen Philosophie widerspiegelten, kann man Erwähnungen Kants und dessen Philosophie erwarten.
Ferner hat der Sammelband deutlich gemacht, dass es zwecks einer fundierten Erkenntnis der Rezeption von Kants Philosophie auf dem Gebiet der österreichischen Monarchie zwangsläufig zu einer noch stärkeren Konzentration der Forschung kommen muss. Künftig genügt es nicht mehr, die Forschung nur allgemein auf das Gebiet der heutigen mittel- und osteuropäischen Staaten zu richten, sondern dass tiefer in die einzelnen Regionen, Städte, ja sogar konkreten Institutionen vorgedrungen werden muss (s. die anregenden Beiträge über die Rezeption von Kants Philosophie z.B. in Siebenbürgen, Salzburg oder dem Kloster Melk). Neben der territorialen Konzentration muss es, wie Franz L. Fillafer am Beispiel von Theologie und Rechtswissenschaft gezeigt hat, auch zu einer stärker fachorientierten Konzentration kommen. Noch mehr als bisher muss die Rezeption von Kants Kritizismus nicht nur im Rahmen einzelner Fächer und Disziplinen untersucht werden, sondern unmittelbar anhand einzelner Themen dieser Fächer und Disziplinen, ja sogar anhand einzelner Begriffe, denn nur so kann man zu gegenseitig vergleichbaren Ergebnissen aus verschiedenen Regionen der Monarchie gelangen, die exakter das Wesen der österreichischen Rezeption von Kants Kritizismus als Ganzem enthüllen und anschließend auch deren Eingliederung in die Philosophiegeschichte möglich machen.
Eine so fokussierte Forschung mindert die problematischsten Wesenszüge des vorgelegten Sammelbands – dessen beträchtliche thematische Zersplitterung (Kant selbst ist viel zu komplex und folglich ein zu schwaches Bindemittel, als dass er imstande wäre, derart heterogene Texte zu einer konsistenteren Gesamtheit zu bündeln), aber auch die Absenz einiger zentraler Themen und anderseits die Einbeziehung entbehrlicher Themen sowie die uneinheitliche Studienkonzeption. Nur stichprobenartig: Für die Rezeption von Kants Kritizismus in der österreichischen Monarchie stellt seine Aufnahme in Böhmen, und das in beiden sprachlichen Lagern (s. beispielsweise Bolzano und Durdík) ein schlicht unumgängliches Thema dar, und so ist es unbegreiflich, dass die Darstellung über die böhmische Rezeption erst bei Tomáš Garrigue Masaryk einsetzt, während die österreichische (im oben umrissenen engeren Wortsinn), ungarische, aber auch rumänische und polnische Rezeption in einem Längsschnitt von den Anfängen bis auf die Gegenwart nachvollzogen wird. Einen entgegengesetzten Fall stellen Beiträge dar, die zwar an sich anregend und inspirierend sein können, aber Themen behandeln, die mit der österreichischen Rezeption (wenigstens in der vorgelegten Präsentation) nur am Rande oder überhaupt nichts zu tun haben – siehe z.B. Ausführungen über Schiller und Heidegger. Mit der philosophischen Rezeption Kants hängen die Beiträge über kantische Motive in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts nur sehr entfernt zusammen. Das nahezu 650 Textseiten umfassende und Hunderte von Namen anführende Buch hätte sicherlich auch ein Namensregister verdient. Die Absenz eines solchen Registers macht die Arbeit mit diesem Sammelband auch für den Fachmann unnötig mühsam.
Der vorgelegte Sammelband untersucht die mittel- und osteuropäische Rezeption von Kants Kritizismus in einer bisher nie erfassten zeitlichen und territorialen Breite, liefert Respekt heischende Resultate und wird zweifellos zu einem unentbehrlichen Bestandteil der österreichische Philosophiegeschichte angehenden Forschung. Als Ganzes hat er aber auch die Notwendigkeit eines weniger extensiven und stärker zielgerichteten Forschungsverfahrens vor Augen geführt.