Der 1891 aus Frustration über die vermeintliche Diskrepanz zwischen der rasanten industriellen Entwicklung Deutschlands und seiner Weltgeltung als Kolonialmacht gegründete Alldeutsche Verband (ADV) war bis zum Ende des Kaiserreichs eine mächtige pressure group, deren Einfluss zumal während des Ersten Weltkriegs kaum zu überschätzen ist. Aufgelöst wurde er jedoch erst 1939, und das wirft vor allem die Frage nach seiner Bedeutung während der Weimarer Republik auf. In der Forschung ist diese unter Verweis auf den rapiden Mitgliederschwund (von 45.000 im September 1921 auf 8000 im Jahr 1932) überwiegend gering veranschlagt worden. Uta Jungcurt ist, wie der Untertitel ihrer Studie indiziert, anderer Ansicht, und vermag dafür eine Reihe gewichtiger Gründe zu benennen: die führende Rolle prominenter Alldeutscher bei Gründung und Ausbau des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes, der ersten antisemitischen Massenorganisation in der neueren deutschen Geschichte; die Verstrickung in etliche Putschpläne und – versuche in den Jahren 1923/24; die Eroberung des Vorsitzes der Deutschnationalen Volkspartei 1928; die Einflussnahme auf das Volksbegehren gegen den Young-Plan 1929 und die Beteiligung an der Harzburger Front 1931.
Jungcurt weiß nun allerdings um die Schwierigkeit einer Zurechnung individueller Handlungen zu einem Verband mit mehreren tausend Mitgliedern. Ihre Untersuchung gilt denn auch nicht dem ADV als einem kohärenten Akteur, sondern bescheidet sich in realistischer Weise damit, das personelle Netzwerk an der Verbandsspitze und das Handeln repräsentativer Einzelpersönlichkeiten nachzuzeichnen. Dem dient, nach einer fundierten Skizze des organisatorischen Aufbaus, der Sozial- und Altersstruktur sowie der Mitglieder- und Ortsgruppenentwicklung, ein umfangreiches Teilkapitel, das in Form eines biographischen Handbuchs die Lebensläufe der wichtigsten Akteure aus der Hauptleitung und der Verbandspublizistik präsentiert. Damit ist die Grundlage für die folgenden Kapitel geschaffen, die sich detailliert mit den alldeutschen Denkwegen in der politischen Kultur und den daraus hervorgehenden Handlungsstrategien befassen.
In diesen Kapiteln überzeugt besonders die Aufmerksamkeit für die Bedeutung des Ehrbegriffes im Selbstverständnis wie in der Propaganda der Alldeutschen. Die verschiedenen Facetten, die dieses Konzept bereits während des Krieges annahm – vom Ächtungs- und Ausschlussinstrument zur gezielt eingesetzten Waffe gegen die zu innerstaatlichen Feinden erklärten Juden und Sozialisten – werden eindringlich dargestellt und mit den Weiterungen verbunden, die nach dem Versailler Vertrag die Hasspropaganda gegen die ehemaligen Kriegsgegner und ihre angeblichen Erfüllungsgehilfen anheizten. In der Sensibilität gegenüber diesen, wenn man so will: mentalitätsgeschichtlichen Aspekten, die übrigens bereits den einleitenden Überblick über die Entstehungsgeschichte des ADV auszeichnet, liegt die Stärke des Buches, während die Darstellung der konkreten Aktivitäten insgesamt konventionell bleibt und den bestehenden Erkenntnisstand nicht sonderlich erweitert.
Den Verdiensten stehen jedoch auch einige Schwächen gegenüber. Durch die Fixierung auf die Rolle des Bildungsbürgertums kommt der Einfluss der Besitz- und Erwerbsklassen zu kurz, womit neben der Schwerindustrie vor allem auch der Großgrundbesitz gemeint ist, der eine entscheidende Rolle bei der Radikalisierung der DNVP gespielt und deren Führung ab 1928 in einen alldeutschen Ausschuss verwandelt hat. Dass die Alldeutschen in ihrer Mehrheit solche Teile des Bildungsbürgertums repräsentiert hätten, die sich in der neuen Welt des „Erwerbs“, der „Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit“ nicht zurechtgefunden hätten (S. 272), ist mit Blick auf Medienmogule wie Hugenberg und Förderer wie Hugo Stinnes nicht überzeugend. Zu kurz kommt andererseits das Verhältnis zu den liberalen Parteien, dessen genauere Bestimmung gerade für einen Verband wie den ADV unerlässlich ist, den Jungcurt selbst, und das mit Recht, als eine Art Mutation des liberalen Deutschen Nationalvereins von 1859 deutet. Ein genauerer Abgleich der politischen Semantik würde möglicherweise einige der allzu steilen Urteile relativieren, die Jungcurt jedesmal dann, wenn von „Volk“ im Sinne von „Ethnos“ die Rede ist, an „Rassismus“ denken lassen.
Bestreitbar erscheint mir auch das Resümee, die Alldeutschen seien „im Verlauf der Weimarer Republik in ihrer deutlichen Orientierung auf ethnische Exklusivität und antisemitische Exklusion sowohl zu Vertretern der völkischen Bewegung als auch des neuen Nationalismus geworden“ (S. 352). Hinsichtlich der völkischen Bewegung mag dies partiell zutreffen, da hier in der Tat schon früh ein gleitender Übergang (wenn auch niemals: Identität) bestand. Die Zuschreibung zum „neuen Nationalismus“ dagegen geschieht allein aus der Beobachterperspektive und ist durch die Verbandspublizistik, soweit ich sehe, nicht gedeckt. Das wäre zwar noch kein prinzipieller Einwand, wird es aber dadurch, dass Jungcurt diesen Typus auf eine bloße Steigerung des schon für den „alten Nationalismus“ charakteristischen Willens zu radikaler Exklusion reduziert und eben jene Züge ausblendet, die ihn in der Weimarer Rechten außerhalb des ADV, in den Kreisen des „soldatischen Nationalismus“ (Ernst Jünger und andere), aber auch in Teilen der NSDAP (Goebbels, Straßer) auszeichneten: die polemische Wendung gegen den als oligarchisch wahrgenommenen Nationalismus des Kaiserreichs und die damit einhergehende Forderung nach einer totalen, insbesondere auch die Arbeiterschaft einschließenden Mobilmachung der Nation. Immerhin waren die Arbeiter eine der Hauptzielgruppen der NSDAP-Propaganda, die vor allem von Gregor Straßer wirkungsvoll auf „die antikapitalistische Sehnsucht“ eingestimmt wurde. Im Juli 1932 gaben nach den Berechnungen von Jürgen W. Falter mehr Arbeiter der NSDAP ihre Stimme als jeweils der KPD oder der SPD. Es war deshalb keineswegs bloße Rhetorik, wenn Hitler die „großagrarisch-schwerindustriell-alldeutsche Gruppe“ attackierte und diese sich ihrerseits alarmiert über die Neigung der NSDAP zeigte, in „marxistisches Fahrwasser“ abzugleiten. Will man die hieraus entstehenden Konflikte verstehen, bedarf es einer komplexeren Typologie, die auch dem Bezug auf Stratifikation sowie den unterschiedlichen wirtschafts- und sozialpolitischen Präferenzen Rechnung trägt und sich nicht mit Merkmalen begnügt, von denen aus gesehen die Rechte zu einer einzigen „reaktionären Masse“ verschwimmt. Als ein erster umfassender Überblick über die Alldeutschen in der Weimarer Republik ist das Buch dennoch zu begrüßen.