M. Meier: Der Völkerwanderung ins Auge blicken

Cover
Titel
Der Völkerwanderung ins Auge blicken. Individuelle Handlungsspielräume im 5. Jahrhundert n.Chr.


Autor(en)
Meier, Mischa
Reihe
Karl-Christ-Preis für Alte Geschichte 2
Erschienen
Heidelberg 2016: Verlag Antike
Anzahl Seiten
104 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Schipp, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Das Büchlein entstand anlässlich der zweiten Verleihung des Karl-Christ-Preises für Alte Geschichte am 17. April 2015 in Bern. Neben Vortrag und Bibliographie des Preisträgers Mischa Meier umfasst der Band die Laudatio von Uwe Walter und eine Würdigung Karl Christs durch Hartmut Leppin und Stefan Rebenich. Der Leser erfährt hier zunächst einiges über die Höhen und Tiefen eines Gelehrtenlebens im Nachkriegsdeutschland. Dabei sind vom Schaffen Christs sicherlich die wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen hervorzuheben. Seine biographischen Skizzen machten die wissenschaftlichen Leistungen einzelner Gelehrter sichtbar, und er habe das Kriterium der Standortgebundenheit in der Althistorik eingeführt. Vor allem aber der Umfang seines Werkes und die konzentrierte Arbeitsweise des Marburger Professors brachten ihm den ehrenhaften Ruf ein, er sei an seinen Schreibtisch gekettet gewesen wie einst Prometheus an seinen Felsen.

Die Laudatio selbst ist ein schönes Beispiel für die blühende Rhetorik Uwe Walters. Auf Formulierungen wie „Tübingen, […] das Bunzenscheiben-Rothenburg1 ob der Tauber deutscher Gelehrtentradition“ (S. 14) oder die „Versuchung, […] die enkomiastische Biographie erneut als einen Akt rückblickender Kohärenzfiktion und Sinnstiftung zu erweisen,“ (S. 13) muss man erst einmal kommen. Jeder, der eine Laudatio auf einen Althistoriker zu schreiben hat, kann sich hier einige Anregungen holen. Erwähnt wird in der Laudatio das zu lobende Œuvre des Preisträgers. Die abgedruckte Bibliographie beeindruckt schon durch ihre schiere Quantität: Sieben Monographien, zwei Übersetzungen aus dem Griechischen, zehn Herausgeberschaften von Sammelbänden, an die hundert Aufsätze, zahlreiche Lexikonartikel und unzählige Rezensionen stehen zu Buche. Und das mit 43 Jahren! Dabei ist die hohe Qualität der Werke Meiers in Fachkreisen hinlänglich bekannt.

Aber bevor die Rezension in eine weitere Laudatio ausartet, soll noch der eigentliche, wissenschaftliche Kern besprochen werden. Meier knüpft in seinem Vortrag an die Gedanken Christs zur Zeitgebundenheit historischer Forschung an und bezieht diese auf die Forschungen zum Untergang des Römischen Reiches. So spiegele die internationale Forschergruppe „Transformation of the Roman World“ den europäischen Einigungsprozess ihrer Gegenwart in die Vergangenheit zurück. Die britischen Historiker Peter Heather und Bryan Ward-Perkins wiederum seien unter dem Eindruck der Terrorattentate vom 11. September 2001 zu einer katastrophischen Sicht vom Ende der Römerherrschaft gelangt. So gesehen wäre aktuell zu fragen, wie sehr das Erlebnis der derzeitigen Migration über das Mittelmeer die Forschung zur sogenannten Völkerwanderung beeinflusst. Mithin stellt sich die Frage nach den Handlungsspielräumen europäischer Politiker im 21. Jahrhundert.

Im Vortrag Meiers zu den Handlungsspielräumen im 5. Jahrhundert n.Chr. werden sodann einige interessante Gestalten der sogenannten Völkerwanderung exemplarisch herausgegriffen. Alarich I., dessen Truppen 410 n.Chr. Rom einnahmen und plünderten, steht als Sündenfall am Anfang des Reigens. Nachdem zunächst das Heldenhafte an seiner Erscheinung dekonstruiert wurde, bleibt noch der Anführer eines wilden Haufens kampferprobter Goten und anderer Barbaren übrig. Wenngleich die Eroberung Roms und die Bestattung im Busento zur Legendenbildung anregen, sei Alarich eher ein Getriebener gewesen, ein Spielball zwischen Ost- und Westkaiser, der letztendlich scheiterte. Dies zeigt sich an der gebetsmühlenartigen Abfolge der Ereignisgeschichte. Mehrfach ließen offenbar römische Heerführer die Alarich-Goten am Leben. Sie stellten einen Machtfaktor dar; ihre strategischen Einsatzmöglichkeiten waren ihre Überlebenschance. Der Überlegung Meiers, Alarich habe durch sein Lavieren zwischen römischer und der barbarischer Welt letztlich zu seinem Scheitern beigetragen, hat etwas für sich, müsste aber im Vergleich mit anderen Barbarenfürsten des frühen 5. Jahrhunderts diskutiert werden.

Einen Anfang macht Meier, der die Versuche Alarichs, seinem Verband das Überleben zu sichern, mit der ersten Phase der Herrschaft des Vandalenkönigs Geiserich vergleicht. Beide waren Truppenführer auf der Suche nach einem Herrschaftsbereich, der sich auf Dauer sichern ließ, und beide strebten in die Kornkammer des Imperiums nach Nordafrika. Geiserich erreichte diese Ziele, und seine Herrschaft wurde 442 vom weströmischen Kaiser anerkannt. Das regnum Vandalorum sei aber letztlich teuer erkauft gewesen, zwinge doch die Königsherrschaft den Vandalen zur Außenpolitik und zu einer integrativen Innenpolitik. Beides sei aber mit dem Verband der Vandalen nicht zu bewältigen gewesen. Die Gestaltungsmöglichkeiten eines quasi autonomen Herrschaftsbereichs vollzogen sich zudem im Rahmen der römischen Ordnung.

Diese bedrohte schließlich Attila, der mit seinen Scharen vehement in das Imperium Romanum einfiel. Solange der Hunnenherrscher durch ein kunstvolles Wechselspiel von Forderung, Drohung, Angriff und Vertragsabschlüssen agiert habe, sei dessen Strategie erfolgreich gewesen. Sobald er aber gezwungen war, die Trennung von römischer und hunnischer Sphäre allmählich aufzuweichen, sei er gescheitert. Die Kriegernomaden versammelten sich für Beute- und Plünderungszüge unter einem erfolgreichen Anführer. Blieb aber der Erfolg aus oder wurde versucht, in die Ränkespiele der römischen Innenpolitik einzugreifen, musste das Konstrukt scheitern. Ob er aber ähnlich wie Alarich ein Getriebener war, sei dahingestellt. Zutreffend ist mit Sicherheit die Einschätzung, dass Attila kein Visionär gewesen sei. Da ihm auch kein solcher nachfolgte, löste sich der Hunnenverband wieder auf.

Auf römischer Seite steht Aëtius als „letzter Römer“ inhaltlich am Ende der Überlegungen. Er stoppte zwar die Geisel Gottes mit seinen hunnisch-germanischen Verbänden, die Römerherrschaft in Europa konnte aber auch er nicht mehr retten. Die eigenen Kräfte seien zu schwach gewesen, und er habe darauf achten müssen, dass keine anderen Kriegerverbände, etwa die Westgoten, das Machtvakuum ausfüllten, welches durch das Zurückweichen der Hunnen entstanden sei.

Es ist klar, dass ein Vortragstext keine durchdiskutierten Thesen bieten kann. Gleichwohl gibt Meier Impulse für die weitere Forschung, wie er sie auch schon durch andere Kurzformate zu geben vermochte.2 Dabei ist der Titel nicht glücklich gewählt, denn er verspricht mehr als letztlich geboten wird. Jedenfalls sieht der Rezensent etwas anderes als Handlungsspielräume, wenn er der Völkerwanderung ins Auge blickt.

Das Opusculum zeichnet sich, wohl nicht zufällig, durch einen starken Personenbezug aus. Nicht nur die Handlungsspielräume spätantiker Heerführer werden umrissen, sondern auch die neuzeitlicher Althistoriker – ganz im Sinne Karl Christs.

Anmerkungen:
1 Eigentlich: Butzenscheibe.
2 Mischa Meier, Caesar und das Problem der Monarchie in Rom, Heidelberg 2014.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch