Die Historiographie zur lateinamerikanischen Arbeitergeschichte blickt auf eine lange Tradition zurück. Nachdem für viele Jahrzehnte eine sozialhistorische Perspektive im Vordergrund stand, rückt neuerdings ein kulturgeschichtliches Erkenntnisinteresse in den Fokus.1 Diesen Ansatz verfolgt auch Hinnerk Onken, wenn er das Entstehen einer Arbeiterbewegung im peruanischen Arequipa und der benachbarten Hafenstadt Mollendo um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert analysiert. Anknüpfend an die subaltern studies und die „Geschichte von unten“ nimmt er kollektives politisches Handeln subalterner Teile der städtischen Bevölkerung zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung. Der stadtgeschichtliche Zugriff ermöglicht es Onken dabei, das historische Geschehen in Arequipa detailliert und umfassend zu untersuchen und es gleichzeitig immer in den nationalen und transnationalen Kontext zu stellen.
Dem im südlichen Küstenstreifen Perus gelegenen Arequipa kommt in den Debatten zur peruanischen Geschichte große Bedeutung zu, stand die Stadt doch im 19. und 20. Jahrhundert in Konkurrenz zum weiter nördlich gelegenen Lima und war immer wieder Ausgangspunkt eines starken Regionalismus und politischer Opposition zur Hauptstadt. Um 1900 zählte Arequipa etwa 40.000 Einwohner und bildete zusammen mit der naheliegenden deutlich kleineren Hafenstadt Mollendo das ökonomische Zentrum der Region über das der Export von Produkten aus dem Andenhochland – im Untersuchungszeitraum vor allem Wolle - nach Übersee abgewickelt wurde. Daher dominierten Handel und Transportwesen die arequipeñische Wirtschaft, die seit der Inbetriebnahme der Eisenbahnverbindung in das Andenhochland in den 1870er-Jahren florierte.
Vor diesem Hintergrund konzentriert sich Onkens Untersuchung in erster Linie auf drei Gruppen innerhalb der subalternen Bevölkerung Arequipas und Mollendos: Hafenarbeiter, Eisenbahner und Handwerker. Die Arbeit analysiert, wie diese Gruppen, oft auch in gegenseitiger Solidarität, Mobilisierungsstrategien entwickelten und mit wachsendem Erfolg politische Partizipationsmöglichkeiten erkämpften. Onken zeigt zudem, wie diese Mobilisierung mit der Ausbildung einer gemeinsamen proletarischen Identität einherging.
Als Quellenbasis dienen in erster Linie Artikel aus verschiedenen städtischen Zeitungen, die einerseits subalternen Akteursgruppen und andererseits konservativ bürgerlichen Kreisen nahestanden. Dies ermöglicht es Onken, die oftmals konträre Berichterstattung verschiedener Medien zu bestimmten politischen Ereignissen gegenüberzustellen und zu analysieren. Darüber hinaus werden auch Gerichtsakten sowie programmatische und autobiographische Schriften von führenden Persönlichkeiten der Bewegung in die Untersuchung mit einbezogen.
Die Analyse dieses Materials folgt einem doppelten Zugriff: So wird auf der einen Seite mit der politischen Gruppierung der Liberal Independientes eine bestimmte Akteursgruppe in den Blick genommen. Auf der anderen Seite stehen subalterne Aktionsformen, vor allem die Streiks in politischen und ökonomischen Konflikten, im Zentrum der Untersuchung.
Nachdem im ersten Teil Arbeit der regionale, nationale und internationale politische Kontext aufgefächert wird, widmet sich der zweite Teil der Entstehung und dem Wirken der Partei der Liberal Independientes in der Stadt und auf nationaler Ebene. Onken weist der Gruppierung, deren Organisationsstruktur auf den Raum Arequipa beschränkt war, die aber durchaus politische Verbindungen im nationalen Kontext - etwa zu führenden Köpfen der Liberalen in Lima – etablierte, große Bedeutung bei der Herausbildung einer Arbeiterbewegung in Arequipa zu. Während sich ihre Klientel vornehmlich aus dem Kreis der Hafenarbeiter, Eisenbahner und Handwerker rekrutierte, entstammte die Führungsriege wiederum eher den bürgerlichen Sektoren der Stadt. Diesbezüglich argumentiert Onken, dass die Liberal Independientes über die Formulierung von politischen Anliegen und die Organisation von alternativer sozialer Infrastruktur – etwa dem Centro Social Obrero, einem Arbeiterverein, – die Rolle der politischen broker beim Streben der subalternen Gruppen nach politischer Partizipation einnahmen.
In den auf liberale und sozialistische Ideen rekurrierenden programmatischen Texten konstruierte die Gruppierung das Bild einer städtischen Arbeiterschaft mit gemeinsamen Interessen und politischen Anliegen. In der politischen Praxis traten die Liberal Independientes bei den städtischen Wahlen an, etablierten darüber hinaus aber auch ein Bildungsangebot für Subalterne im Centro Social Obrero und organisierten öffentliche Veranstaltungen, wie etwa Demonstrationen zum internationalen Tag der Arbeit am Ersten Mai. Im Untersuchungszeitraum erhielt die Gruppierung verstärkten Zulauf von Arbeitern im Transportwesen und Handwerkern, was sich an den Wahlurnen und bei politischen Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum zeigte. Onken prägt für diesen Mobilisierungs- und Identitätsbildungsprozess von Teilen der subalternen Bevölkerung den Begriff der „diskursiven Proletarisierung“. Hierbei ist interessant, dass sich das sozialpolitische Interesse der Liberal Independientes auch auf die ländliche indigene Bevölkerung bezog, deren ökonomische Ausbeutung und soziale Diskriminierung kritisiert wurden. Dabei wurden die Indigenen aber eher als Objekt sozialpolitischer Maßnahmen denn als Ziel politischer Mobilisierung gesehen. Die Konstruktion einer proletarischen städtischen Gruppenidentität bezog sich also exklusiv auf die hispanische urbane Bevölkerung und fand damit auch in Abgrenzung zum ethnisch definierten „Anderen“ statt.
Im dritten Teil analysiert Onken, wie Subalterne – und hier in erster Linie wieder die Gruppen der Hafenarbeiter, Eisenbahner und Handwerker – im Untersuchungszeitraum das Mittel des Streiks einsetzten. Dabei wird deutlich, wie Arbeitsniederlegungen schrittweise in der subalternen Kultur verankert wurden und in Auseinandersetzungen mit den Arbeitgebern über Löhne und Arbeitsbedingungen sowie in Konflikten mit den staatlichen Autoritäten zum Einsatz kamen. Onken zeigt, dass in einer Reihe von Fällen verschiedene Gruppen gemeinsam in den Streik traten und sich auf eine gemeinsame proletarische Identität beriefen, mit der sie sich sowohl gegenüber den Arbeitgebern als auch den politischen Autoritäten positionierten und ihre Forderungen formulierten
Onkens Entscheidung, den Blick primär auf die Rolle der Liberal Independientes sowie die Arbeitskämpfe zu richten, überzeugt: Er zeigt, dass beide Punkte zentral für die Transformation der subalternen politischen Kultur in Arequipa und die Etablierung einer Arbeiterbewegung um die letzte Jahrhundertwende waren. Der Autor versäumt es allerdings, deutlich zu machen, welche Verbindungslinien zwischen dem Wirken der Liberal Independientes und der sozialen Praxis der Arbeitsniederlegung bestanden. Zwar werden vereinzelt Redebeiträge von Anführern der Liberal Independientes auf Streikveranstaltungen zitiert. Die Frage, in welcher Weise Vertreter der Liberal Independientes konkret an der Etablierung der Streikkultur in Arequipa beteiligt waren, oder ob diese Praxis sich außerhalb der organisatorischen Reichweite der Gruppierung entwickelte, bleibt aber leider offen.
Positiv hervorzuheben ist die Detailgenauigkeit, mit der Onken die Geschehnisse und Entwicklungen in Arequipa beschreibt. Er beweist damit profunde Kenntnisse der Regionalhistorie und auch der diesbezüglichen historiographischen Debatten. Dies ist für Leser mit einem dezidiert lokalgeschichtlichen Interesse von großem Wert. Für diejenigen, die stärker am Kern der Fragestellung, also der Transformation der subalternen politischen Kultur in Arequipa und der Entstehung einer Arbeiterbewegung interessiert sind, schränkt die große Fülle von Personen und Nebenschauplätzen, die Onken einführt, allerdings den Lesefluss ein. Hier wäre im Sinne der Leserführung eine Engführung der Argumentation und Kürzung des Manuskripts oder auch die Einbettung von zusammenfassenden analytischen Kapiteln, die ein selektives Lesen ermöglichen, sinnvoll gewesen.
Dessen ungeachtet liefert Onken einen wertvollen Beitrag zur lateinamerikanischen Arbeitergeschichte. Es gelingt ihm anhand des aussagekräftigen Archivmaterials die Herausbildung einer Arbeiterbewegung in Arequipa und damit den Wandel der subalternen politischen Kultur anschaulich darzustellen. Damit zeigt er auf, wie sich die städtische politische Kultur in Peru auch abseits der Hauptstadt bereits vor dem Entstehen der weit intensiver erforschten anarcho-syndikalistischen Bewegungen in den 1910er- und 1920er-Jahren und den Gründungen des Partido Communista Peruano und der Alianza Popular Revolucionaria Americana veränderte und welchen Anteil daran subalternes Streben nach politischer Partizipation hatte.
Anmerkung:
1 James P. Brennan, Latin American Labor History, in: Jose C. Moya (Hrsg.), The Oxford Handbook of Latin American History, New York 2011, S. 342–366.