Der Kulturbegriff hat in der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren Hochkonjunktur. Zunehmend versucht sich die Geschichtswissenschaft als Kulturwissenschaft zu etablieren. Dies hat im Wissenschaftsbetrieb schon einige Spuren hinterlassen. Manche der für die kulturalistische Wende klassischen Texte finden sich mittlerweile auch in erschwinglichen Anthologien wieder 1. Und verschiedene Beiträge suchen ferner die unterschiedlichen Richtungen der Kulturgeschichte miteinander zu vergleichen und so die Bandbreite der methodischen Neuorientierung aufzuzeigen 2. So können die ansonsten so unterschiedlichen Ansätze der Mentalitäts-, Alltags-, Mikro- und Geschlechtergeschichte alle als Teil einer neuen Kulturgeschichte aufgefaßt werden. Diese Heterogenität der unterschiedlichen kulturgeschichtlichen Ansätze ist gleichzeitig auch das Problem der neueren Kulturgeschichte. So ist keineswegs klar, welche Vorstellung von Kultur und Kulturgeschichte den Leser jeweils erwartet, wenn er ein Buch zur Hand nimmt, das der Kulturgeschichte zugerechnet wird. Schon die Bedeutungsvielfalt des Kulturbegriffes läßt sich kaum überschauen, und noch heterogener gliedert sich die Vielfalt der kulturwissenschaftlichen Ansätze. Für kulturgeschichtlich orientierte Arbeiten stehen meist einzelne Sozialtheorien Pate, etwa von Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Niklas Luhmann oder Clifford Geertz, die als Klassiker rezipiert werden. Was diese unterschiedlichen Sozialtheorien miteinander verbindet und was sie unterscheidet, wird allerdings nur selten in den Blick genommen. Es ist daher zu begrüßen, daß der Soziologe Andreas Reckwitz nunmehr ein Werk vorgelegt hat, das den Vergleich prominenter Kulturtheorien in den Mittelpunkt stellt.
Reckwitz wendet sich nicht allen Bereichen des cultural turn gleichermaßen zu. Die epistemologischen Auswirkungen des cultural turn bleiben ebenso unberücksichtigt wie die methodologischen Konsequenzen. Dagegen steht der Wandlungsprozeß der Sozialtheorien im Mittelpunkt. Reckwitz geht davon aus, daß die modernen Kulturtheorien ein theoretisches Feld bilden. Dieses Feld läßt sich "nach außen" von anderen Sozialtheorien abgrenzen: gegenüber den sozialtheoretischen Paradigmen des homo oeconomicus sowie des homo sociologicus treten die Kulturtheorien mit dem Anspruch auf, menschliches Handeln treffender beschreiben zu können, indem sie den Menschen als animal symbolicum zum Untersuchungsgegenstand machen und die soziale Reproduktion von Handlungsmustern über kognitiv-symbolische Schemata erklären. Dabei lassen sich die Kulturwissenschaften allerdings nicht als eine klare Einheit begreifen. Vielmehr rekonstruiert Reckwitz einen Transformationsprozeß der sozialwissenschaftlichen Kulturtheorien. So verbergen sich hinter dem Begriff der Kulturtheorie zwei unterschiedliche Theoriestränge: Zum einen die Entwicklung der Kulturtheorien auf der ursprünglichen Grundlage des Strukturalismus, angefangen von Claude Lévi-Strauss über Ulrich Oevermann und Michel Foucault bis zu Pierre Bourdieu. Zum anderen die Entwicklung der interpretativen Kulturtheorie von Alfred Schütz über Erving Goffman und Clifford Geertz bis zu Charles Taylor, die ursprünglich auf dem Fundament phänomenologischer Untersuchungen aufbaute. Beide Theoriestränge waren in den letzten dreißig Jahren einem Wandlungsprozeß unterworfen, in welchem sich immer stärker neue Gemeinsamkeiten beider Richtungen herausbildeten, während die unüberbrückbaren Gegensätze, die noch die sozialtheoretischen Entwürfe von Lévi-Strauss und Alfred Schütz voneinander trennten, mehr und mehr in den Hintergrund traten. Der Transformationsprozeß der Kulturtheorie läßt sich begreifen als eine Konvergenzbewegung zu einem einheitlichen kulturwissenschaftlichen Paradigma, so lautet die These, die Reckwitz in seinem materialreichen Werk zu belegen sucht.
Kernstück seiner Untersuchung sind die Einzelstudien zu den einzelnen Sozialtheorien, die insgesamt mehr als dreihundert Seiten einnehmen. Diese können hier nicht im einzelnen wiedergegeben werden. Allerdings sei darauf hingewiesen, daß es sich bei den vorgestellten Sozialtheorien um eine recht heterogene Auswahl handelt. Im Blickpunkt stehen der Ethnologe Claude Lévi-Strauss, der Sozialanthropologe Clifford Geertz, die Soziologen Ulrich Oevermann, Pierre Bourdieu, Alfred Schütz und Erving Goffman, der Philosoph Charles Taylor sowie der "Sozialwissenschaftler" Michel Foucault. Die meisten der hier aufgeführten Autoren haben sich explizit um die Formulierung einer Sozialtheorie bemüht, waren also stärker theoretisch orientiert. Manche Autoren sind dagegen vor allem durch empirische Einzeluntersuchungen hervorgetreten (vor allem Goffman), aus denen eine eigenständige Sozialtheorie erst erschlossen werden muß. Alle Autoren lassen sich indes der Kulturtheorie zuordnen. Der dargelegte Transformationsprozeß ist daher keineswegs auf einzelne Disziplinen wie die Soziologie festgelegt, sondern umfaßt alle Sozialwissenschaften in gleicher Weise. Mit Hilfe dieser Einzelstudien ist ein vergleichender Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen kulturalistischen Deutungsansätze möglich, läßt sich auch ein aktueller Stand der kulturwissenschaftlichen Debatte resümieren.
Wie kann nun aber der Transformationsprozeß der Kulturtheorien beschrieben werden, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für eine Geschichtswissenschaft, die sich als Teil der Kulturwissenschaft begreifen will? Am Anfang stand ein Antagonismus zweier theoretischer Ansätze. Im Sinne des Strukturalismus (Lévi-Strauss) muß eine Erklärung menschlichen Handelns stets die symbolischen Codes zu rekonstruieren versuchen, die das Handeln hervorbringen. Diese Codes sind übersubjektiv existierende Differenzsysteme, denen sich die menschlichen Akteure nicht bewußt sind. Die subjektiven Interpretationen des Handelns erscheinen daher dem Strukturalisten letztlich unerheblich. Gerade diese subjektive Perspektive steht dagegen bei der Sozialphänomenologie (Schütz) im Mittelpunkt. Die Betonung übersubjektiver Elemente verstelle letztlich den permanenten Prozeß intentionaler Sinnzuschreibungen, den es im einzelnen Subjekt zu analysieren gelte und ohne den menschliches Handeln letztlich nicht erklärt werden könne. Gemeinsam ist beiden ansonsten so unterschiedlichen Sozialtheorien ihre "mentalistische Ausrichtung" (551), das heißt der Versuch, menschliches Handeln letztlich durch eine Rekonstruktion mentaler Strukturen mit universalem Charakter erfassen zu können.
Der Gegensatz von Geist und Außenwelt steht bei beiden Startpunkten der Kulturtheorie im Mittelpunkt und hat seinerseits wiederum lange zurückreichende Wurzeln, die letztlich bis zu Kants Kritik der reinen Vernunft zurückreichen. Im Verlauf des Transformationsprozesses verlieren nun sowohl der gemeinsame Aspekt von Strukturalismus und Sozialphänomenologie (die mentalistische Ausrichtung) als auch der Antagonismus zwischen Holismus auf der einen und Subjektivismus auf der anderen Seite an Bedeutung. Statt dessen wenden sich spätere Sozialtheorien (z.B. von Pierre Bourdieu und Charles Taylor) von einer Rekonstruktion der rein geistigen Welt ab und einer Untersuchung der sozialen Praktiken zu. Diese Hinwendung zu den sozialen Praktiken hat nun aber zur Folge, daß der ursprünglich angenommene Antagonismus zwischen der subjektiven und der objektiven Perspektive der Kulturanalyse zunehmend als obsolet erscheint. Vielmehr stehen nun Verhaltensroutinen, kollektive Sinnmuster sowie Symbole und Rituale im Mittelpunkt der Betrachtung, d. h. die Wissensordnungen, die dem menschlichen Akteur ein konkretes Handeln entweder als sinnvoll nahelegen oder als sinnlos ausschließen. Um diese Wissensordnungen zu rekonstruieren, muß schließlich auch der postulierte universale Charakter mentaler Strukturen aufgegeben werden. Statt dessen lassen sich die unterschiedlichen sozialen Praktiken auch nur durch jeweils als unterschiedlich angenommene Wissensordnungen hinreichend erklären, ist also bei der Untersuchung der sozialen Praktiken immer auch eine Untersuchung der jeweils spezifischen kulturellen und sozialen Kontextbedingungen vonnöten.
Nicht alle untersuchten Sozialtheorien lassen sich in gleichem Maße diesem Transformationsprozeß zuordnen. In beiden Strängen gibt es darüber hinaus noch eine Seitenlinie, die die Kultur als Text interpretieren möchte. Insbesondere im Frühwerk Foucaults sowie in einigen Arbeiten von Geertz lassen sich Versuche in diese Richtung feststellen. Unabhängig von der gegenwärtigen Konjunktur dieser Deutung von "Geschichte als Text" in manchen Bereichen der Literaturwissenschaft und (seltener) der Geschichtswissenschaft hält Reckwitz diese theoretische Entwicklung zu Recht für einen Irrweg. Die Vorstellung, daß Texten, Ritualen oder symbolischen Formen eine immanente Bedeutung zugeschrieben werden könne, die unabhängig von den jeweiligen Wissensformen der Autoren, Produzenten oder Rezipienten existiert, erweist sich bei der Interpretation menschlichen Handelns als wenig hilfreich.
Daß die Kulturtheorie auch nach der weitgehend vollzogenen Konvergenz der beiden ursprünglich getrennt verlaufenen Stränge nicht an ihr Ende gekommen ist, macht Reckwitz ebenfalls deutlich. Als offene Enden der Kulturtheorie sieht er zum einen das bisher weitgehend unbeantwortete Verhältnis zwischen Texten und Praktiken sowie ferner den Antagonismus zwischen einem Homogenitätsmodell der Kultur auf der einen und einem Modell zahlreicher kultureller Interferenzen auf der anderen Seite. Weitere offene Fragen werden sich unschwer finden lassen. Von einem "Ende der Kulturheorie" ist daher bei Reckwitz zu keinem Zeitpunkt die Rede.
Mit Reckwitz Analyse des Transformationsprozesses der Kulturtheorien liegt ein vielschichtiges Werk vor, das auch für die Geschichtswissenschaft mehrere Verwendungsmöglichkeiten bereithält. Es vergleicht zahlreiche unterschiedliche kulturtheoretische Ansätze, die zumindest teilweise auch in der Geschichtswissenschaft auf große Resonanz stoßen. Es zeigt auf, welche theoretischen Interpretationsansätze durch den Transformationsprozeß mittlerweile zu Recht als überholt gelten dürfen und daher auch bei geschichtswissenschaftlichen Interpretationen wenig Überzeugungskraft entfalten können. Und es macht deutlich, daß sich die heutige Kulturtheorie mit guten Gründen vor allem als Theorie sozialer Praktiken etabliert hat, wovor sich auch die Geschichtswissenschaft nicht verschließen sollte. In diesem Sinne sei die Untersuchung von Reckwitz jedem Historiker nachdrücklich empfohlen.
Anmerkungen:
1 Christoph Conrad / Martina Kessel (Hgg.): Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998.
2 Vgl. nur exemplarisch: Wolfgang Hardtwig / Hans-Urich Wehler (Hgg.): Kulturgeschichte heute, (Geschichte und Gesellschaft, Sonderh. 16), Göttingen 1996; Thomas Mergel / Thomas Welskopp (Hgg.): Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zu einer Theoriedebatte, München 1997; Ute Daniel: Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten in der Geschichtswissenschaft, in: GWU 48 (1997), 195-218 und 259-278.