J. Schevel: Bibliothek Georgenberg bei Goslar

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Title
Bibliothek und Buchbestände des Augustiner-Chorherrenstifts Georgenberg bei Goslar. Ein Überblick über die Entwicklung im Mittelalter bis zur Zerstörung 1527


Author(s)
Schevel, Jochen
Series
Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 27
Published
Wiesbaden 2015: Harrassowitz Verlag
Extent
559 S., 57 s/w Abb.
Price
€ 98,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Christine Glaßner, Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien

Die vorliegende Monographie reiht sich in die in den letzten Jahren vermehrt zu beobachtenden Studien und Forschungsarbeiten zur Rekonstruktion und Analyse historischer Bibliotheken ein, die diese in eine umfassende historische und kulturgeschichtliche Standortbestimmung der jeweiligen Trägerinstitution einbetten und in denen meist auch dem Medienwandel in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts Rechnung getragen wird, also neben Handschriftenbeständen ebenso Inkunabeln und Frühdrucke Berücksichtigung finden. Es handelt sich um die Druckfassung einer bei Thomas Haye (Universität Göttingen) im Rahmen eines von diesem geleiteten Kooperationsprojekts mit der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel („Rekonstruktion und Erforschung niedersächsischer Klosterbibliotheken des späten Mittelalters“) erarbeitete Dissertation.

Die Arbeit versteht sich als „Beitrag zur Erforschung der Buchbestände niedersächsischer Stifte und Klöster“, insbesondere der „regionalen Erforschung von Chorherrenbibliotheken“ (S. 14). Die Wahl auf Georgenberg fiel aus pragmatischen Gründen: Einerseits ist der erhaltene Buchbestand der umfangreichste aller niedersächsischen Augustiner Chorherrenstifte und konzentriert sich heute im Wesentlichen auf die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, andererseits liefert die Zerstörung des Stifts im Jahr 1527 und die Umsiedlung der Chorherren auf das Vorwerk Grauhof (S. 41–45) „eine Zäsur, die es ermöglicht, diese Untersuchung methodisch sauber auf die Erforschung eines institutionellen Buchbestand [!] zu einem fixen Zeitpunkt zu beschränken“ (S. 14).

Zweifelsohne stellen wohl die in Jochen Schevels Publikation erfassten 32 Handschriften, davon 28 heute in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (Verzeichnis S. 493) sowie 53 Inkunabeln und Frühdrucke (S. 494f.) nur einen Bruchteil der mittelalterlichen Bibliothek des Georgenbergs dar. Ein Inventar von 1573 lässt den Schluss auf einen Besitzstand von 377 Bänden zu (S. 52), ein Teil davon könnte auch aus dem Bestand vor der Zerstörung von 1527 stammen.

Nach einem einleitenden Kapitel zur wechselvollen Geschichte des Augustiner Chorherrenstifts Georgenberg bis 1527 (S. 25–45) widmet sich der Autor der Geschichte der Bibliothek nach 1527 und den sich daraus ergebenden Zuordnungskriterien (S. 47–122), die er am erhaltenen Buchbestand dieser Institution darstellt. Als Ausgangspunkt seiner Untersuchung benützt er für die Handschriften das 28 Signaturen umfassende Verzeichnis von Sigrid Krämer1 (S. 21), für die Inkunabeln und Frühdrucke Hinweise von Helmar Härtel in verschiedenen Publikationen (S. 23). Den raschen Zugriff auf die erfassten Bestände ermöglichen mehrere Tabellen am Ende des Bandes (Anhang S. 493–498). Hinsichtlich der Handschriften ist Schevel in der glücklichen Lage, sich für beinahe alle auf moderne Handschriftenbeschreibungen stützen zu können.2 Die auf der Grundlage der Beschreibungen und nach Autopsie zusammengestellten kodikologischen Merkmale von Büchern Georgenberger Bibliotheksprovenienz wie Titelschilder, Signaturenordnung, Einbandgestaltung, Besitzvermerke und eindeutig zuordenbare Gebrauchsspuren (S. 122–220) sowie die vorher ermittelten, sich aus der Bibliotheksgeschichte ergebenden Zuordnungskriterien bieten eine solide Grundlage für die zukünftige Forschung, um weitere, bisher unerkannt gebliebene Bände dieser Provenienz ausfindig machen zu können.

Darauf folgt eine inhaltliche Analyse der erhaltenen Bände nach überlieferten Texten und Textgruppen (S. 221–269) sowie nach Buchtypen (S. 269–316). Hier ergreift der Autor leider nicht die Möglichkeit, nach der vorwiegend sachorientierten Aufstellung der Bände, die sich in der frühneuzeitlichen Signaturenanordnung abbildet, vorzugehen, obwohl er diese in einem vorangegangenen Kapitel ausführlich und gut nachvollziehbar dargestellt hat (S. 85–122). So gerät das Kapitel ein wenig unübersichtlich und zu sehr einer modernen Sachordnung verpflichtet, während interessante Bemerkungen über Gebrauchshorizont der Texte und mediale Repräsentation (Handschrift versus Druck) in der Fülle der kommentierten Inhaltsdaten unterzugehen drohen.

Das Kapitel „Entwicklung und Entwicklungsphasen“ (S. 316–396) behandelt vor allem jene Bücherzuwächse in der Georgenberger Stiftsbibliothek, die mit namentlich genannten Persönlichkeiten in Schenkungsvermerken, Vorbesitzer- oder Schreibernotizen in Verbindung zu bringen sind. Ein in diesen prosopographischen Teil eingestreuter Abschnitt über „Schreiber und Skriptorium“ gerät erwartungsgemäß mangels Daten- und Vergleichsmaterial sehr kurz (S. 340–346). Der doch einigermaßen auffällige Befund, dass aus dem 12. Jahrhundert immerhin sechs Handschriften, hingegen aus dem 13. Jahrhundert nur zwei, aus dem 14. Jahrhundert fünf erhalten sind (vgl. Tabelle S. 497f.) wird erstaunlicherweise nicht näher in den Blick genommen (vgl. S. 316). Dass aufgrund der Überlieferungslage der Versuch der Interpretation eventueller Änderungen im Buchbestand nach der Annäherung an die Windesheimer Reform Ende des 15. Jahrhundert (S. 385–396) kein verwertbares Ergebnis erbringt, ist hingegen nicht weiter verwunderlich.

So detailliert die Untersuchungen zum Georgenberger Buchbestand sind, so schade ist es, dass der Analyse nicht kontrastiv bereits vorliegende Ergebnisse provenienzgeschichtlicher Forschungen zu ähnlichen Institutionen gegenübergestellt werden, wie etwa des Leipziger Thomasstifts, auf das der Autor selbst verweist (S. 409f.). Dies wäre dazu angetan gewesen, das Profil der Reste der auf uns gekommenen Georgenberger Bibliothek zu schärfen und ihre Besonderheiten besser darzulegen. Letztlich aber bleibt der Autor häufig im wortreich Deskriptiven verhaftet, ohne große Linien herauszuarbeiten. Zudem wird in manchen Passagen recht ausführlich Handbuchwissen ausgebreitet, das man in einer Spezialstudie zur Rekonstruktion einer historischen Bibliothek nicht erwartet.3 So hinterlässt die Lektüre des Bandes einen etwas zwiespältigen Eindruck: Einerseits ist Jochen Schevel für die detaillierten Analysen, die Ermittlung und genaue Überprüfung der Zuweisungskriterien zum Georgenberger Bestand Anerkennung zu zollen, andererseits aber hätte eine etwas straffere, mehr abstrahierende und vergleichende Darstellungsweise die Lesbarkeit, Benützbarkeit und Verwertbarkeit des Bandes für Forschungen ähnlicher Art erheblich gesteigert.

Anmerkungen:
1 Sigrid Krämer, Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters, Teil 1: Aachen – Kochel (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. Ergänzungsband I,1), München 1989, S. 300: Die Liste umfasst alle heute in Wolfenbüttel befindlichen Handschriftenbände. Dazu kommt in der vorliegenden Publikation noch ein Handschriftenteil in einem Wolfenbütteler Druck (P 528.b.2° Helmst.) und drei weitere Bände, die sich heute im Stadtarchiv Goslar, in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen und im Historisches Stadtarchiv Halberstadt befinden.
2 Helmar Härtel u.a. (Bearb.), Katalog der mittelalterlichen Helmstedter Handschriften, Teil 1: Cod. Guelf.1 bis 276 Helmst., Wiesbaden 2012; Bertram Lesser u.a. (Bearb.), Die mittelalterlichen Helmstedter Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil 2: Cod. Guelf. 277 bis 440 Helmst., vorläufige Beschreibungen; Bertram Lesser (Bearb.), Die mittelalterlichen Helmstedter Handschriften der Herzog August Bibliothek. Teil 3: Cod. Guelf. 441 bis 615 Helmst., vorläufige Beschreibungen zu Teil 2 und 3: http://diglib.hab.de/?db=mss&list=project&id=Katalogisierung%20der%20mittelalterlichen%20Helmstedter%20Handschriften%20Teil%20IIeil%20II (30.01.2017); Patrizia Carmassi, Vorläufige Beschreibung von Halberstadt, Historisches Stadtarchiv, M 135 http://www.hab.de/files/halberstaedterhss/HBS_HSA_M-135.html (30.01.2017).
3 Vgl. etwa die einleitenden Ausführungen im Kapitel ‚Einbandstempel und –gestaltung (S. 139–144).