N. Löffelbein u.a. (Hrsg.): Sommer 1914

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Title
Europa 1914. Wege ins Unbekannte


Editor(s)
Löffelbein, Nils; Fehlemann, Silke; Cornelißen, Christoph
Published
Paderborn 2016: Ferdinand Schöningh
Extent
287 S.
Price
€ 39,90
Reviewed for H-Soz-Kult by
Boris Barth, Karls-Universität Prag

Auf den ersten Blick wirkt der zur Besprechung vorliegende Sammelband uneinheitlich, weil eine große Zahl von unterschiedlichen Themen angesprochen wird, denen scheinbar nur gemeinsam ist, dass sie sich mit der unmittelbaren Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges und mit dem Jahr 1914 befassen. Dies ist bei näherer Betrachtung aber kein Manko: Gerade diese Diversität zeigt, wie uneinheitlich und widersprüchlich sich Europa im Sommer 1914 präsentiert hat. Aus vielen Beiträgen wird deutlich, dass es die eine Vorkriegszeit nicht gegeben hat, sondern dass sehr unterschiedliche Erfahrungen und Wahrnehmungen, die sich zum Teil widersprachen, direkt nebeneinander existierten. Diese Pluralität stellt einen untrennbaren Bestandteil der unmittelbaren Vorkriegszeit dar. Der Band ist in die drei Hauptsektionen Kriegserwartungen, Friedenshoffnungen und Mobilisierungen unterteilt. Abgerundet werden diese durch einen abschließenden Ausblick von Christoph Cornelissen, in dem knapp aber präzise auf die neuen Kontroversen um die Kriegsursachen, auf die Globalgeschichte des Weltkrieges und auf das erhebliche Medienecho im Epochenjahr 2014 eingegangen wird.

Das erklärte Ziel des Bandes besteht nicht darin, die Diskussion über die Kriegsschuld wieder zu eröffnen, auch wenn diese in mehreren Beiträgen – oft in Abgrenzung zu Christopher Clark – direkt und indirekt doch thematisiert wird. Stattdessen soll die „traumhafte Stimmung“ zwischen Krieg und Frieden dargestellt, bzw. aufgelöst werden (S. 13). Der August 1914 wird deshalb nicht als scharfe Zäsur wahrgenommen, sondern stellt den Ausgangs- und Referenzpunkt dar, von dem aus Stimmungslagen über Krieg und Frieden analysiert werden. Durch die Darstellung von „gesellschaftlichen Erwartungen, Hoffnungen, Ängsten, Selbst- und Fremdwahrnehmungen“ (S. 14) sollen die strukturellen Voraussetzungen des Kriegsausbruchs untersucht werden. Dieses im Detail anspruchsvolle Programm wird eingelöst. Obwohl sich die meisten Autoren um einen internationalen Vergleich bemühen, liegt der Schwerpunkt des Bandes insgesamt auf der deutschen Geschichte. Im Rahmen dieser Rezension lässt sich vor allem das abgehandelte Panorama des Bandes darstellen, und ganz knapp werden die zentralen Thesen der einzelnen Aufsätze referiert.

Eine groteske Fehleinschätzung des kommenden Krieges bestand – mit wenigen Ausnahmen – bei den meisten deutschen Militärärzten (Nils Löffelbein) in der Vorkriegszeit. Völlig unterschätzt wurde die Wirkung der Artillerie, die dann verheerende Wirkungen zeigte. Stattdessen wurde angenommen, dass die modernen Gewehrkugeln viel humanere Verwundungen als in der Vergangenheit hervorrufen würden. Arndt Weinrich kann zeigen, dass der russisch-japanische Krieg, der in Europa genau beobachtet und studiert wurde, sehr wohl einen qualitativen Wendepunkt für viele europäischen Kriegsbeobachter und Militärs dargestellt hat. Allerdings hatte die japanische Armee am Ende gegen die defensiv agierenden und zahlenmäßig überlegenen Russen gewonnen. Eine der Lehren aus diesen ersten Materialschlachten schien deshalb darin zu bestehen, dass eine offensive Kriegsführung weiterhin möglich war, wenn eine überlegene Operationsführung und Schwerpunktbildung die strukturelle Stärke der Defensive aushebelte. Die Auswirkungen des Krieges auf die private Kultur der Schusswaffen in Deutschland wird einmal mehr von Dagmar Ellerbrock dargestellt. Zuvor waren alle Versuche, den Verkauf und den Gebrauch von Schusswaffen zu regeln, gescheitert. Erst der Krieg stellte hier einen Einschnitt dar, nach dem staatliche Regulierungen durchsetzbar wurden. Seit einiger Zeit wird kontrovers diskutiert, ob ein Zusammenhang zwischen den zahlreichen, meist sehr brutal geführten kolonialen Kriegen vor 1914 und den Gewalterfahrungen im Ersten Weltkrieg besteht. Diese Kontinuität wird von Ulrike Lindner weitgehend verneint, sie hebt zutreffend hervor, dass es sich hier – trotz einiger weniger Zusammenhänge – vor allem um Brüche gehandelt habe. Die Situationen in den Kolonien und in Europa waren zu unterschiedlich, als dass simple Kontinuitäten hätten auftreten können.

Die Frage, warum die organisierte Friedensbewegung und die Sozialistische Internationale 1914 vollständig scheiterten, ist in den letzten Jahren kaum noch diskutiert worden. Wolfgang Kruse betont hier die strukturellen Unterschiede und Konfliktlinien zwischen den Vorstellungen der Anti-Kriegsbewegungen im Westen und im deutsch dominierten Mitteleuropa, die ein gemeinsames Handeln schon vor 1914 erheblich erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht hätten. Diese These ist in dieser Form neu und wird überzeugend untermauert: Die politischen Rahmenbedingungen seien für gemeinsame Aktionen zu unterschiedlich gewesen. Joachim Schröder beschäftigt sich mit der fast vergessenen „Müller-Mission“ am 1. August 1914, bei der die französischen Sozialisten mit dem Ziel kontaktiert wurden, die Internationale noch einmal als Akteur ins Spiel zu bringen. Das Scheitern dieser Mission – so die These – habe erheblich dazu beigetragen, dass die Fraktion der deutschen Sozialdemokratie dann mit großer Mehrheit für die Kriegskredite eingetreten sei. Annika Wilmers geht der Frage nach, welcher Spielraum für Pazifistinnen zu Beginn des Krieges eigentlich bestanden hätte. Sie zeigt die gesellschaftliche Isolation und die ganze Hilflosigkeit, die zu disparaten Reaktionen führte. Auch wegen der unüberschaubaren Kriegssituation begann erst Monate nach Kriegsausbruch das Suchen nach einer Orientierung und das Bemühen, internationale Kontakte wiederherzustellen. Einmalig war dann der internationale Frauenfriedenskongress vom 28. April bis zum 1. Mai 1915 in Den Haag. Die Wirkung dieses Kongresses blieb begrenzt, auch weil sehr unterschiedliche Positionen aufeinanderprallten. Für die Geschichte der radikalen feministischen Friedensbewegung stellte dieses Treffen jedoch einen Markstein dar.

Die dritte Hauptsektion des Bandes befasst sich mit der Frage der Mobilisierungen. Dittmar Dahlmann analysiert die innere Lage Russlands und hebt die enormen politischen, sozialen und ökonomischen Konflikte hervor. Das russische Reich war im Sommer 1914 keineswegs auf einen Krieg vorbereitet, und der russische Kriegseintritt zog erhebliche innere Spannungen nach sich. Die Mobilisierung verlief – anders als in der älteren Literatur oft angenommen – keineswegs reibungslos, sondern war von nicht organisierten lokalen und regionalen Unruhen und Plünderungen begleitet, die die nur unzulänglich vorbereiteten und oft überforderten Behörden nur mit Mühe eindämmen konnten. Zwar will Gerd Krumeich die Kriegsschuldfrage nicht erneut grundlegend thematisieren, doch geht es ihm darum, einige Aspekte im deutsch-französischen Verhältnis während der Julikrise neu zu gewichten. Krumeich betont einmal mehr seine These, dass die deutschen Eliten davon überzeugt gewesen seien, „eingekreist“ worden zu sein. Ferner sei Frankreich in der deutschen Wahrnehmung trotz des Übergangs zur dreijährigen Dienstzeit, die innenpolitisch heftig umstritten war, als schwach eingeschätzt worden. Furcht habe im Deutschen Reich eher vor den Russen bestanden. In Frankreich wäre das neue Wehrgesetz wahrscheinlich im Herbst 1914 wieder abgeschafft worden, doch waren viele deutsche Militärs davon überzeugt, dass Frankreich kein ernsthafter Gegner mehr sei, was den Entschluss, die Krise eskalieren zu lassen, erleichtert habe. Die Frage, ob und inwieweit das so genannten Augusterlebnis der Realität entsprach, spielt im Beitrag von Steffen Bruendel nur am Rande eine Rolle. Vielmehr geht es ihm darum, die Historiographie zu diesem Ereignis nachzuzeichnen. Der Beitrag zeigt präzise, wie sich die Interpretationen jeweils wandelten, und welche Faktoren für die unterschiedlichen Deutungen verantwortlich waren. Bérénice Zunino vertritt die Meinung, dass die Entstehung einer aggressiven Kriegskultur bei deutschen Kindern und Jugendlichen in den Schulen eine Vorgeschichte gehabt haben muss, die schon vor 1914 begonnen habe. Anhand von Schul- und Bilderbüchern zeigt sie erstens, dass die Feiern zum Jubiläum der Befreiungskriege 1913 bereits einen erheblichen Beitrag zur Militarisierung geleistet hätten. Zweitens ist an Zeichnungen und Illustrationen deutlich zu erkennen, dass auch zwischen 1914 und 1916 ein weitgehend traditionelles Kriegsbild vermittelt wurde, das mit der Realität des Stellungskrieges nur wenig zu tun hatte. Silke Fehlemann schließlich stellt die Figur der Mutter, die Ihren Sohn verabschieden muss, in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. In der zeitgenössischen deutschen Literatur und in der Propaganda bestanden hier zunächst mehrere Stereotypen, allerdings verschwand das wenig erfolgreiche Bild der Heldenmutter schnell. Eher setzte sich die Vorstellung der zwar traurigen, aber kriegsbereiten Mutter durch, die ihren Sohn zeitweise sogar ermutigt, seinen Dienst für das Vaterland zu leisten. Der Vergleich mit England ist – wie die Autorin selbst zeigt – hier nur begrenzt ertragreich, weil im Deutschen Reich die allgemeine Wehrpflicht bestand, während die britische Armee bis 1916 ein Heer von Freiwilligen war. Abschiede fanden hier deshalb in einem ganz anderen mentalen und sozialen Kontext statt.

Alle Beiträge sind in einem flüssigen und sehr gut lesbaren Stil verfasst. Insgesamt handelt es sich um einen gelungenen Sammelband, der häufig neue inhaltliche Fragen aufwirft. Methodisch sind einige Beiträge allerdings recht konventionell gehalten. Leider fehlt am Ende ein Verzeichnis der Autoren, auch ein Register hätte den Umgang mit den einzelnen Beiträgen sicherlich erleichtert.

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