"An der Unabwendbarkeit des Todes zweifelte offensichtlich niemand, weder die 'Genossen' noch die 'Repatrianten' und nicht einmal die 'Gentlemen' selbst. Einer der an der Aktion beteiligten Briten berichtete spaeter Nikolaj Tolstoj in einem Brief von nicht enden wollenden naechtlichen Schuessen, die man vom anderen Ufer herueberhoerte, 'zusammen mit dem schoensten Maennergesang, den ich je gehoert habe'". (Anm. 341) Diesen dramatischen Hoehepunkt entnimmt Pavel Polian dem umstrittenen Buch "Die Verratenen von Jalta. Die Schuld der Alliierten vor der Geschichte" von Nikolaj Tolstoj 1, der die Auslieferung von rund 1.600 Kosakenoffizieren an der britisch-sowjetischen Demarkationslinie in Judenburg/Oesterreich am 29. Mai 1945 durch britische Truppen schildert. Die Akteure waren, so Polian, die 'Genossen' (das sowjetische "Empfangskomitee"), die 'Repatrianten' (in diesem Fall sowjetische Staatsbuerger mit kosakischer Nationalitaet) sowie die 'Gentlemen' (die britischen Truppen, die fuer die Auslieferung abgestellt worden waren).
Spaeter wurden der Roten Armee weitere 30.000 Kosaken uebergeben, von denen viele in Freiwilligenverbaenden der Wehrmacht gekaempft hatten. Die vertragliche Grundlage fuer die Auslieferung der von der Sowjetunion als ihre Staatsbuerger deklarierten Menschen war das Abkommen von Jalta vom 11. 02.1945. Das Abkommen sah die Ueberstellung der ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter (von den Westalliierten als "soviet D.Ps" bezeichnet) in die Hand der Roten Armee vor. Im Gegenzug dazu verpflichtete sich die sowjetische Seite zur Repatriierung der in ihrem Einflussbereich befreiten ehemaligen westalliierten Kriegsgefangenen. Ob die Ausgelieferten gleich den sicheren und deshalb mit schicksalsergebenen Gesaengen begleiteten Exekutionstod fanden, ist bislang ungeklaert, auch wenn Tolstoj einen Augenzeugen fand und Polian diese Szene wie eine Reihe anderer Passagen Tolstojs verwendet. Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die Uebersetzung des 1996 in Moskau erschienenen Buches "Zertvy dvuch diktatur: Ostarbajtery i voennoplennye v Tret'em Rejche i ich repatriacija" - "Opfer zweier Diktaturen: Ostarbeiter und Kriegsgefangene im Dritten Reich und ihre Repatriierung" (Moskau 1996), welches zunaechst mit dem praegnanten Titel: "Die Heimat wartet auf Euch, Ihr Schurken!" angekuendigt worden war. Bislang waren zum Schicksal der sowjetischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen nach ihrer Uebergabe in den sowjetischen Machtbereich einige wenige Aufsaetze in deutscher Sprache erschienen.2 Nun legt Polian erste Forschungsergebnisse in einem groesseren Umfang vor.
In seiner Einleitung nennt er die Klassiker wie Christian Streit, Ulrich Herbert, Wolfgang Jacobmeyer, Gerald Reitlinger, Mark Elliott und Malcom Proudfoot, die in den 60er-80er Jahren dafuer sorgten, dass das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener bzw. NS-Zwangsarbeiter als Forschungsthema wahrgenommen wurde. Die englischsprachigen Titel bleiben in seinen Ausfuehrungen komplett ungenutzt. Die Forschungslandschaft in der Sowjetunion bzw. in Russland war bis 1990 aus politischen Gruenden schmal geblieben. Fuer die Zeit der "Perestrojka" stuetzt sich Polian in erster Linie auf die Arbeiten von V. Zemskov und A. Sevjakov; als einziger Autor der westlichen Hemisphaere wird Stefan Karner angefuehrt, der mit seiner Monographie ueber den Archipel GUPVI die administrative Form des sowjetischen Kriegsgefangenenwesens wesentlich erhellte. 3 Die deutsch- und russischsprachigen Publikationen spielen in der Darstellung Polians eine gewichtige Rolle, denn er verwendet von den in seiner Einleitung angefuehrten, nunmehr zugaenglichen Bestaenden in Moskauer Archiven in seinem Text faktisch nur ein limitiertes Repertoire.
Der erste Teil des Buches befasst sich mit Status und Gesamtzahl der sowjetischen Kriegsgefangenen im Dritten Reich, der zweite, der "eigentliche Kern", will das "breite Spektrum an Schicksalen ehemaliger Betroffener" entfalten: die "Vorbereitungen zu den Rueckfuehrungen 1944/45, ihre reale Umsetzung 1944-1952 sowie die Filtration der Repatrianten und die Reintegration der Heimkehrer in die Sowjetgesellschaft" (S. 17). Zunaechst wird die quantitative Dimension des Themas umrissen. Polian gelangt auf der Grundlage einer OKW-Statistik sowie eigener, unverstaendlich erscheinender Berechnungen zu einer Zahl von 2,1 Millionen ueberlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen. Sowjetische und amerikanische Quellen und neue Interpretationen dieses Materials dokumentieren einen weitaus niedrigeren Befund. Zudem wird in seiner Statistik unzulaessigerweise mit der Zahl der erst spaeter Repatriierten operiert. Ebenfalls verwirrend sind seine Berechnungen zur Gesamtzahl der sowjetischen Zivilarbeiter. Unverstaendlich bleibt der von ihm eingefuehrte Begriff eines "Ueberlebensindex", zu dessen Bestimmung "eine Kombination von deutschem und sowjetischem Datenmaterial herangezogen" wurde (S. 47), und nicht nachvollziehbar die gegen deutsche Zahlen (z.B. des Generalquartiermeister) erhobene Kritik. Die Fundstellen der relevanten Direktiven und Befehle der mit der Repatriierung befassten sowjetischen Organe werden von Polian bis auf zwei Ausnahmen (Anm. 224, 250) generell nicht genannt. Aehnlich der Befund bei der zitierten Korrespondenz: In den meisten Faellen bleiben Adressat und Verfasser sowie Datum und Thema unerwaehnt.
Das folgende Kapitel beleucht die Vorplanungen der Westalliierten im Angesicht der europaweit zu erwartenden 11 Mio. Displaced Persons. Dem Quellennachweis zufolge hat Polian in den National Archives in Washington diverse Aktenbestaende eingesehen. Vor diesem Hintergrund erstaunen zentrale Aussagen des Autors ueber die Politik der Westalliierten. Die von ihm eingesehenen Quellen lassen nicht den Schluss zu, dass die westalliierten Oberkommandierenden die "abscheuliche und menschenverachtende Politik ihrer Aussenministerien sabotierten" (S. 116). Vielmehr waren einer schrittweisen Ruecknahme der Politik von Jalta lange und sorgfaeltig gefuehrte Entscheidungsfindungsprozesse im State und War Department vorausgegangen. Was dann die weitere Politik praegte, war keineswegs eine Gaengelungstaktik der westalliierten Truppen gegenueber den sowjetischen Repatriierungsoffizieren (S. 135 f.), eine Konzentration der "gegen die Repatriierung gerichteten Bemuehungen der Amerikaner" (S. 137- Welche Besatzungsmacht wuerde freiwillig den Aufenthalt von einer Million Menschen organisieren und finanzieren wollen?), sondern ein zweckrationales Vorgehen der Besatzungstruppen im Angesicht von Massenselbstmorden sowjetischer Rueckkehrunwilliger und zahlreicher taetlicher Auseinandersetzungen zwischen sowjetischen Offizieren und D.Ps in den westalliierten Displaced Persons-Lagern. Ferner scheint es unwahrscheinlich, dass die USA ukrainische Mitglieder der "1. SS-Division Galizien" als Geheimdienstagenten anwerben und als Berater im Kalten Krieg verwenden wollten und deshalb deren Emigration auf den amerikanischen Kontinent betrieben (S.103, S.112). Es bedarf zur Untermauerung dieser Thesen einschlaegiger Nachweise, die Polian nicht erbringt.
Das "Werden und Wirken der sowjetischen Repatriierungsorgane", so die Ueberschrift des folgenden Kapitels, erklaert er mit Ueberlegungen der sowjetischen Staatsfuehrung, aus Arbeitskraeftemangel die ausnahmslose Rueckkehr der im Ausland befindlichen Buerger durchzusetzen ("... nach Hause mit ihnen, in die sozialistische Heimat, zum kommunistischen Arbeitseinsatz !(S. 50)) und die "Geburt einer neuen, dem Sowjetregime feindlich gesinnten Nachkriegsemigration unter keinen Umstaenden zuzulassen, nachdem gewissermassen deren "Zeugung" nicht hatte verhindert werden koennen" (S. 50). Waren oekonomische Nuetzlichkeitserwaegungen des Staates in Verschraenkung mit einer sowjetspezifischen Verschwoerungsparanoia ursaechlich fuer die Installierung des Repatriierungsapparates in ganz Europa? Hier bricht die Eroerterung der Kernfrage der vorliegenden Untersuchung bedauerlicherweise ab. Warum die Sowjetunion mit einer derartigen Vehemenz auf die Rueckkehr saemtlicher im Ausland befindlichen, von ihr als "Staatsbuerger" deklarierten Personen bestand und was mit ihnen geschah, nachdem sie den "Eisernen Vorhang" durchschritten hatten, wird nur in Ansaetzen analysiert. Der Weg der Repatrianten zurueck in die Heimat und die Zeit ihrer Resozialisierung wird auf knapp dreissig Seiten des Buches ausgebreitet. Dabei schoepft Polian nur sehr beschraenkt aus den in der Einleitung dargelegten Aktenfunden, sondern bezieht sich in erster Linie auf die von ihm "durchgefuehrte Umfrage unter Repatrianten in Russland" (S. 169). In der Einleitung ist erwaehnt, dass von 207 verschickten Frageboegen 103 ausgefuellt zurueckkamen - das scheint fuer die daraus abgeleitete Interpretation eine zu duenne Quellenbasis zu sein. Aus der subjektiven Faerbung der Briefe ist auch erklaerlich, warum Polian zu dem Schluss kommt, dass "das Ueberpruefungsverfahren derartig unauffaellig und einfach war, dass es gar nicht als Filtration erkannt wurde" (Anm. 620). Das Verfahren der "Filtration" - der erkennungs- und geheimdienstlichen "Bearbeitung" von Staatsbuergern, die in Gefangenschaft eines Kombattanten geraten waren - und die daraus abgeleiteten Isolations-Massnahmen entstammen einer fuer das sowjetische Herrschaftssystem konstitutiven Praxis und entschieden ueber das weitere Schicksal der "Filtrierten". In diesem Zusammenhang ist es bedauerlich, dass der Autor ueber die Kategorisierung der Repatrianten so rasch und ohne Hinzuziehung des reichlich vorhandenen normativen Materials hinweggeht. Zahlreiche zentrale Aussagen bleiben ohne Nachweis, wie z.B. auch ein Bericht, der gewissermassen ueber den schlechtesten Ausgang der Ueberpruefungsmassnahmen, die Exekution der Betroffenen, berichtet. Dass ein Teil der 1943 in Nordafrika aufgefundenen sowjetischen Kriegsgefangenen "freilich nicht mehr zum Arbeitseinsatz kam", weil "nach den Listen, die man waehrend der Transporte erstellt" hatte "immer wieder Exekutionen" stattfanden (S. 93), wird nicht belegt.
Die zentrale Frage der Repatriierungsthematik ist zweifelsohne, ob die Repatriierung den Beginn einer neue Repressionswelle bildete. Polian versteht unter Repressionen v.a. die Lagerhaft des sogenannten "Spezialkontingents", zu dem bereits waehrend des Krieges diejenigen sowjetischen Militaerangehoerigen gezaehlt wurden, denen es gelungen war, aus einer Kriegsgefangenschaft oder Kesselsituation zu entkommen. Nun wurden darunter kriegsgefangene Offiziere und andere "kompromittierte" Personen - darunter wahrscheinlich auch tatsaechliche Kollaborateure - subsumiert. Bis zum 11. Juli 1945 durchliefen mehr als 800.000 Militaerangehoerige und einige Zehntausend Zivilpersonen die fuer dieses Kontingent gegruendeten "Speziallager". Eine Gesamtzahl von 1,3 bis 1,5 Millionen Insassen, die diese Lager zu unterschiedlichen Zeitpunkten und mit unterschiedlicher Verweildauer durchliefen, duerfte realistisch sein. Polian hingegen nennt eine Gesamtzahl von knapp 273.000 Haeftlingen (S. 172). Diese Zahl ist irrefuehrend, weil sie nicht den "Durchlauf" der Lager beruecksichtigt, sondern auf die Belegzahl vom 01.03.46 abstellt. Auch andere "heimkehrverzoegernde" Massnahmen wie der Arbeitseinsatz fuer die Demontage deutscher Fabriken und in Arbeitsbataillonen und die Wiedereingliederung in die Rote Armee fuehrt Polian an. Er wertet diese Formen des Arbeitskraefteeinsatzes nicht als Repressionen, obgleich z.B. der Demontage der deutschen Fabriken die jahrelange Montage derselben in der Sowjetunion unter Zwangsbedingungen folgte. Die maennlichen Zivilarbeiter, die in Deutschland das Mobilisierungsalter erreicht hatten, wurden auch gerne in Strafbataillonen verwendet, und die Arbeitsbataillone wurden zumeist unter Lagerbedingungen zu solchen Arbeiten eingesetzt, die unter der sowjetischen Bevoelkerung am unbeliebtesten waren. Das sollte nicht unerwaehnt bleiben. Das Fazit des Autors laesst den Leser deshalb ratlos zurueck: "In der Frage, ob 6,5 % - das ist der Anteil der dem Spezialkontingent zugeteilten Heimkehrer - viel oder wenig ist oder ob der Umstand, dem Arbeitsbataillon des Verteidigungsministeriums zugewiesen worden zu sein, ein Geschenk des Himmels war, ist nicht so einfach zu beantworten. Leider - oder bedauerlicherweise - sind bislang noch keine Kriterien fuer ein glueckliches Repatriantenschicksal formuliert worden (S. 208).
Vielmehr: Allein bei einer Addition der von Polian angefuehrten Kategorien gelangt man zu einer Gesamtzahl von 2,03 Millionen Menschen, die erst nach 1946 zurueckkehrten. Legt man die wohl wesentlich realistischeren Zahlen fuer das Spezialkontingent zugrunde und addiert diejenigen von den Amerikanern oder Briten befreiten Repatrianten hinzu, die 1946/47 im Zuge des Kampfes gegen "westliche Einfluesse" an ihrem Heimatort verhaftet worden waren, kommt man auf 3,35 Millionen, die allein aufgrund der Tatsache, dass sie als Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter in Westeuropa gewesen waren, verschiedene Isolations- und Strafmassnahmen in Kauf nehmen mussten. Insgesamt 5 Mio. waren zurueckgekehrt. Nur 33 % blieben unbehelligt. Dieser Befund scheint eigentlich keine Fragen offenzulassen. Darueber hinaus weist das Buch leider auch Maengel handwerklicher Art auf; es ist mit zahlreichen Rechtschreibfehlern (v.a. in den Literaturangaben) erschienen; auch die Bilder sind nicht immer richtig zugeordnet. (Auf Bild 3 sucht man den Leiter der sowjetischen Repatriierungsbehoerde, Generaloberst Golikov, vergeblich). Insgesamt gesehen bleibt es das Verdienst von Pavel Polian, die Repatriierung von Sowjetbuergern erstmals umfassend beleuchtet zu haben. Doch wo Licht hinfaellt, fallen bekannterweise auch die einen oder anderen Schatten hinein.
Anmerkungen:
1 Nikolaj Tolstoj: Die Verratenen von Jalta. Die Schuld der Alliierten vor der Geschichte, Frankfurt/M., 1987
2 Ulrike Goeken-Haidl: Repatriierung in den Terror? Die Rueckkehr der sowjetischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen in ihre Heimat, 1944-1956, in: Wolfgang Benz und Barbara Distel (Hrsg.): Dachauer Hefte, 16 (2000);
dies., Von der Kooperation zur Konfrontation. Die sowjetischen Repatriierungsoffiziere in den westlichen Besatzungszonen, in: Klaus-Dieter Mueller (Hrsg.): Die Tragoedie der Gefangenschaft in Deutschland und der
Sowjetunion 1941-1956, Koeln/Wien 1998
3 Stefan Karner: Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941-1956, Wien-Muenchen 1995