M. Rathmann: Diodor und seine „Bibliotheke“

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Titel
Diodor und seine „Bibliotheke“. Weltgeschichte aus der Provinz


Autor(en)
Rathmann, Michael
Reihe
Klio-Beihefte N.F. 27
Erschienen
Berlin 2016: de Gruyter
Anzahl Seiten
IX, 431 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Michels, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Diodor gehört zu denjenigen antiken Autoren, die in der modernen Forschung lange einen überaus schlechten Ruf besaßen, nicht aufgrund übertriebener Voreingenommenheit, sondern weil er als Verfasser seiner ‚Bibliotheke‘ scheinbar höchst unselbständig als bloßer Kompilator früherer Geschichtswerke arbeitete. Der Wert Diodors liegt dieser Sicht zufolge lediglich darin, verlorene historiographische Werke zumindest im Exzerpt erhalten zu haben, weswegen sein Werk in der Vergangenheit vor allem ein „quellenkundliches Beschäftigungsfeld“ (S. 4) gewesen ist. Michael Rathmann hat in seiner Habilitationsschrift dieses lange akzeptierte, jedoch bereits in den vergangenen Jahrzehnten als unvollständig kritisierte Bild einer grundlegenden Prüfung unterzogen. Ziel seiner Untersuchung, die sich nicht einer bestimmten Partie der ‚Bibliotheke‘, sondern dem Gesamtwerk widmet, ist es, der Person Diodors, seiner Zielsetzung, Arbeitsweise und Perspektive als Provinzialer näher zu kommen, ohne eine Apologie dieses Autors verfassen zu wollen (S. 2f.). Letzteres wird, um dies direkt vorwegzunehmen, auch größtenteils beherzigt. Die Studie zeigt nämlich nicht „einen durchaus ernsthaften Historiographen“, wie etwas irreführend im Klappentext formuliert wird, sondern einen Autor, der diesen Eindruck in seinem Werk vermitteln will, daran aber regelmäßig aufgrund mangelnder Methodik (S. 209) und begrenztem Intellekt (S. 306) scheitert (vgl. etwa S. 268). Rathmann zeigt jedoch gleichzeitig, dass Diodor durchaus formend in den von ihm zusammengestellten Stoff eingriff, was freilich umso klarer fassen lässt, warum die Quellenforschung letztlich keine überzeugenden Ergebnisse hervorbringen konnte.

Rathmann hat seine Studie in vier Teile und eine abschließende Würdigung von Autor und Werk (S. 307–315, auf Englisch S. 349–356) aufgeteilt. Auf eine Einleitung (S. 1–11) folgt zunächst ein angesichts der mageren Informationen zu Diodors Leben überraschend langes Kapitel 2 „Die Vita des Autors“ (S. 12–117). In Kapitel 3 steht „Der Titel Bibliotheke – Bedeutung und Intention“ im Mittelpunkt (S. 118–155). Darauf folgt das zentrale Kapitel 4 „Der Autor und seine Quellen“ (S. 156–270), von dessen und den vorangehenden Ergebnissen sich das Kapitel 5 „Die Intention des Werkes“ (S. 271–305) ableitet.

Das Kapitel zur Vita des Diodor, die, wie Rathmann betont, nur aus den vergleichsweise wenigen Angaben innerhalb der ‚Bibliotheke‘ erschlossen werden kann (S. 17f.), ist als Alleinstellungsmerkmal der Studie zu sehen. Rathmann diskutiert hier detailliert die verschiedenen Thesen zum Leben Diodors, der offenbar um 90 v.Chr. geboren wurde, Ende der 30er-Jahre sein Werk vorlegte und nach 30 v.Chr. starb (S. 63f.). Vieles muss hier spekulativ bleiben. Rathmann spielt diesbezüglich zwar stets mit offenen Karten, versucht sich aber dennoch oft an einer psychologisierenden Deutung von Aussagen Diodors. So versteht er etwa einen Satz im Hauptprooimion, mit dem Diodor bei den Lesern von Geschichtswerken Dankbarkeit für die Mühen der Verfasser einfordert, als „Psychogramm“ (S. 58f.). Letzteres ist durchaus Ziel von Rathmanns Darstellung (S. 63). Inwiefern dies möglich ist, kann durchaus als diskutabel erscheinen.1 Die Antwort auf die zentrale Frage nach der von Diod. 1,4,1 behaupteten Reisetätigkeit fällt ernüchternd aus, beschränkte sie sich doch vermutlich auf Ägypten, Rom und mögliche Zwischenstationen. Die eingehend diskutierte Reise nach Ägypten sieht Rathmann allerdings als durchaus entscheidend für die Gestaltung des Werks an. Mit ihr verbindet er nämlich eine Evolution der Arbeitsweise Diodors von einer ursprünglich geplanten, auf Autopsie beruhenden Historiographie hin zu einer kompilatorischen Arbeitsweise. Hierzu sei es gekommen, nachdem Diodor klargeworden war, dass die für Ägypten in Ansätzen noch angewandte Methode für eine Weltgeschichte nicht zu leisten war. Auch diese Deutung ist zwar keineswegs sicher, es entsteht aber dennoch letztlich das plausible Bild eines aus der landbesitzenden „Mittelschicht“ (S. 65) Siziliens stammenden Provinzialen (die These, Diodor habe das römische Bürgerrecht besessen, weist Rathmann S. 43f. zu Recht zurück), der über eine nur mäßige Bildung verfügte, sich der Historiographie zuwandte, um Ruhm zu gewinnen und sein Zielpublikum, nach dem unter anderem in Kapitel 3 gefragt wird, primär in der Schicht suchte (S. 146), aus der er selbst stammte.

Kapitel 4 – neben Kapitel 2 sicher der wichtigste Abschnitt – beschäftigt sich dann mit der Arbeitsweise Diodors, die Rathmann bereits in anderem Kontext untersucht hat.2 Rathmann betont, dass dabei im Gegensatz zu früheren Studien „eben nicht nach Diodors Vorlagen zu suchen ist, sondern nach den Kriterien, die er bei ihrer Verarbeitung angewandt hat“ (S. 165). Ohne Kenntnis dieser Vorlagen ist dies freilich kaum möglich, weswegen Rathmann auch hierzu Überlegungen anstrengt und aus mehreren Gründen Agatharchides von Knidos als wichtige Zwischenquelle ausmacht; dies besonders für die näher betrachteten Bücher 18 bis 20, an deren Übersetzung und Kommentierung Rathmann vor einigen Jahren mitgewirkt hat.3 Der oft vermuteten hauptsächlichen Verwendung des Hieronymos erteilt er eine Absage. Auch generell ist die Analyse der Auseinandersetzung Diodors mit seinen (angeblichen) Vorlagen ernüchternd, werden die insgesamt gut 80 von ihm genannten Autoren doch oft nur im Rahmen von „Pseudodiskussionen“ (S. 211) erwähnt und dienen offenbar nur zur Illustration bzw. Vortäuschung von Literaturkenntnis. Rathmann betont bei dieser Kritik nichtsdestoweniger, dass Diodor durchaus als Autor greifbar wird. Denn die Kompilationsarbeit sei nicht nur durch das Konzept, die Weltgeschichte in 40 Büchern darzustellen, bestimmt gewesen, durch Eingriffe und gezielte Auswahl von Vorlagen habe Diodor vielmehr die Darstellung der Ereignisse seiner Perspektive und Zielsetzung angepasst. Es ist eine durchaus plausible Deutung, auch wenn die Interpretation der ins Feld geführten Fallbeispiele den Rezensenten nicht immer überzeugt hat.

Kapitel 5 widmet sich der Zielsetzung Diodors jenseits der Absicht, den Lesern, wie im Prooimion formuliert, eine praktische Übersicht über die Weltgeschichte zu geben, die die Lektüre zahlreicher historiographischer Werke ersparte. Diese lag Rathmann zufolge in einer moralischen Belehrung der Leser, was über die Darstellung der „Helden“ seiner Geschichte erfolgt sei, also gerade auch der Heroen des von Diodor ebenfalls behandelten Mythos, unter denen Herakles hervorsticht. Rathmann bespricht dies hinsichtlich des Bildes von Alexander und Caesar bei Diodor. Gerade bei Alexander scheint es meines Erachtens jedoch problematisch, eine bewusste Gestaltung Diodors auszumachen, da wir seine Vorlagen, wie Rathmann auch immer wieder betont, nicht kennen und gerade der Umschwung der Herrschaft Alexanders zu einer orientalischen Despotie kein Spezifikum von Diodors Darstellung ist. Überzeugender sind hier die von Rathmann ausgemachten Elemente, die auf eine spezifisch provinziale, sizilische Perspektive Diodors hinweisen. Das Buch schließt nach der abschließenden Würdigung der ‚Bibliotheke‘ und ihres Autors vorbildlich mit einem umfangreichen Anhang: Quellen- und Literaturverzeichnis, vier Tabellen zu Aspekten des Werks und der verwendeten Autoren, Karten auf Basis der Ausführungen Diodors, Stellen-, Orts- und Personenregister.

Die Untersuchung ist trotz der komplexen Materie in einem gut lesbaren Stil geschrieben. Eine letzte Korrekturlesung hätte dem Werk allerdings gutgetan, denn es kommt zu doch recht zahlreichen Wiederholungen und gelegentlich zu Widersprüchen im Text, die manchmal Rathmanns Interpretationsergebnisse verunklären.4 Mitunter vermisst man bei der Diskussion der diversen Gegenstände neuere Forschungsliteratur.5 Die Untersuchung stellt jedoch in ihrer umfassenden Behandlung von Autor und Werk wie auch in der Diskussion zahlreicher Einzelaspekte einen wichtigen Beitrag zur Diodorforschung dar, von dem künftige Studien, auch wenn sie nicht jeder Deutung folgen, auszugehen haben.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa auch die psychologisierenden Ausführungen auf S. 60f.; vergleichbare Aussagen durchziehen aber alle Teile der Darstellung.
2 Michael Rathmann, Diodor und seine Quellen: Zur Kompilationstechnik des Historiographen, in: Hans Hauben / Alexander Meeus (Hrsg.), The age of the successors and the creation of the Hellenistic kingdoms (323–276 B.C.), Leuven 2014, S. 49–113.
3 Diodoros, Griechische Weltgeschichte Buch XVIII–XX, übers. v. Otto Veh u. Gerhard Wirth. Eingeleitet u. kommentiert v. Michael Rathmann, Teilband A: Einleitung und Übersetzung; Teilband B: Kommentar und Anhang, Stuttgart 2005
4 Vgl. etwa S. 272: „Das Anliegen Diodors besteht also nicht unbedingt darin, seinen Lesern das Rüstzeug für besseres Handeln im Sinne einer Historie als magistra vitae an die Hand zu geben […] Es fehlt hier wie im ganzen Werk eine klare Ansprache an Entscheidungsträger.“ Dagegen aber S. 306: „Mit einem durchaus naiv anmutenden Glauben an die Wirkmächtigkeit seines Geschichtswerkes versucht er, Rom und seine Entscheidungsträger zu Menschlichkeit gegenüber den Verbündeten und Unterworfenen anzuhalten.“ Die in letzterem Zitat vorgenommene abschließende Deutung von Diodors Intention widerspricht den Ausführungen auf S. 271f., die m.E. aber auch wenig überzeugend sind. Verwunderung löst die Bewertung auf S. 309 aus („Die Technik des selektiven Epitomierens und Kompilierens erreicht bei aller Kritik am Werk bei ihm ein hohes Niveau.“), hat Rathmann doch in Kapitel 4.4 die Defizite Diodors klar aufgezeigt.
5 Als Beispiele seien nur genannt: S. 107, Anm. 361 (vgl. dagegen etwa Karl-Wilhelm Welwei, Griechische Geschichte. Von den Anfängen bis zum Beginn des Hellenismus, Paderborn 2011, S. 379, Anm. 118 mit jüngerer Literatur) und die Diskussion von Synchronismen im Werk Diodors (S. 252f.), wo man zum Synchronismus zwischen persischem Angriff auf Griechenland und karthagischem Angriff auf Sizilien Michael Zahrnt, Die Schlacht bei Himera und die sizilische Historiographie, in: Chiron 23 (1993), S. 352–390 erwartet. Gerade in Kapitel 4 hätten die Kommentare in Brill’s New Jacoby, <http://referenceworks.brillonline.com/browse/brill-s-new-jacoby> (Stand: 10.04.2017), die – soweit ich sehe – insgesamt nicht berücksichtigt wurden, wohl gewinnbringend eingesetzt werden können.

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