M. von Bülow: West Germany, Cold War Europe and the Algerian War

Cover
Titel
West Germany, Cold War Europe and the Algerian War.


Autor(en)
von Bülow, Mathilde
Reihe
New Studies in European History
Erschienen
Anzahl Seiten
XVI, 482 S.
Preis
£ 84.99; $ 135.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Thaden, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die politischen Aktivitäten von Migranten in der Bundesrepublik sind in den vergangenen Jahren zunehmend ins Blickfeld der Forschung gerückt.1 Schon seit geraumer Zeit ist zudem ein verstärktes Interesse an den Folgen der Dekolonisation in den ehemaligen Metropolen zu verzeichnen.2 Die an der Universität Glasgow entstandene Dissertation von Mathilde von Bülow ist an der Schnittstelle dieser aktuellen Trends angesiedelt. Mit Blick auf die Aktivitäten der Front de Libération Nationale (FLN) in der Bundesrepublik zur Zeit des Algerienkriegs nimmt sie sich dabei einer Thematik an, die in der Historiografie zum Algerienkrieg bisher eher randständig thematisiert wurde. Eine Ausnahme stellt Claus Leggewies frühe Pionierstudie dar, die hauptsächlich auf Interviews und persönlichen Erinnerungen aufbaute.3 Demgegenüber liegen von Bülows Arbeit vor allem die nunmehr freigegebenen Aktenbestände des französischen Verteidigungs- und Außenministeriums sowie des deutschen Bundeskanzleramts, Auswärtigen Amts und des Innenministeriums zugrunde. Die Überlieferungen des DGB, des Deutschen Caritas Verbandes und des Deutschen Roten Kreuzes sowie die deutsche und französische Tagespresse komplettieren die breite Quellengrundlage der Arbeit. Hierin wird der Versuch unternommen, die BRD in die Geschichte des französischen Dekolonisationsprozesses zu integrieren und diesen umgekehrt auch als Einflussfaktor im bundesdeutschen Ringen um nationalstaatliche Souveränität herauszuarbeiten. Sie schließt damit in gewisser Hinsicht auch an Studien an, die den Einfluss der FLN auf andere antikoloniale Bewegungen untersucht haben.4 Im Gegensatz zu solchen Verflechtungen mit dem globalen Süden und den bündnisfreien Staaten, so eine der wesentlichen Thesen von Bülows, sind die Aktivitäten der FLN in der BRD als Teil ihrer Strategie zur Internationalisierung des Konflikts bislang unterbelichtet geblieben. In dieses Desiderat stößt die Studie, in der die BRD als Rückzugsgebiet und damit – analog zu den algerischen Anrainerstaaten – als strategische Ressource im Dekolonisationskrieg behandelt wird (12ff.).

Im Jahr 1961, so zitiert die Autorin aus Schätzungen des französischen militärischen Geheimdiensts, hätten sich über 1.200 militante Aktivisten der FLN in Deutschland befunden, und damit mehr „Militante als in jedem anderen Land außerhalb der arabischen Welt – ausgenommen Frankreichs“ (208ff.). Die FLN konnte in der BRD zahlreiche potentielle Rekruten ansprechen, da immer mehr algerische Migranten Arbeit in den westdeutschen Industriezentren gefunden hatten und dabei als französische Staatsbürger vom zunehmend liberalisierten Grenzverkehr profitierten. Spätestens ab Ende 1958 begannen einige der führenden FLN-Kader mit dem Aufbau einer festen organisatorischen Struktur in der BRD. Mit Unterstützung deutscher Organisationen wie den Falken und Teilen der Gewerkschaften sowie durch den Aufbau von Pressekontakten gelang es ihnen, eine erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben und Ausbildungs- und Trainingsmöglichkeiten für zukünftige Rekruten und Aktivisten zu schaffen.

Von dieser Beobachtung ausgehend nimmt die Autorin die Folgen der FLN-Aktivitäten für die deutsch-französischen Beziehungen, die Politik der Inneren Sicherheit und die öffentliche Meinung in der BRD in den Blick und fragt nach den Verflechtungen dieser Aspekte. Außenpolitisch sei es vor allem das Axiom der Westbindung gewesen, welche die westdeutsche Reaktion auf die schnell zum Krieg ausartenden Auseinandersetzungen in Algerien sowie auf die zunehmende Präsenz von Aktivisten der FLN in der BRD prägte. Die Autorin bezieht dabei gegen Forschungspositionen Stellung, die für eine „Spagatpolitik“ und eine neutrale Position Bonns argumentiert haben. Vielmehr seien es vor allem Adenauer und Brentano gewesen, für die deutschland- und europapolitische Erwägungen eine Stärkung der französischen Seite notwendig erscheinen ließen, auch als diese sich spätestens ab 1958 zunehmend international isoliert sah. So habe die Algerienfrage auf diplomatischer Ebene einen Entwicklungsschub für die deutsch-französischen Beziehungen bedeutet (S. 67ff.). Nicht zuletzt brachte diese offizielle Parteinahme zugunsten Frankreichs eine präzedenzlose Zusammenarbeit der Innen- und Sicherheitsbehörden mit sich. Vor allem die von Deutschland aus organisierten Waffenlieferungen, die die Autorin in gleich mehreren Kapiteln thematisiert und minutiös rekonstruiert, waren für die französische Seite Anlass zu fortgesetzten Interventionen. Ein umfangreicher Austausch von Geheimdienstinformationen sowie Maßnahmen der Landeskriminalämter waren die Folge, weswegen die sicherheitspolitischen Akteure in der BRD, so von Bülows These, zu einem Teil einer französischen „counterinsurgency“-Strategie wurden (S. 202).

Wie konnte es sein, dass die FLN, dieser pro-französischen Position ungeachtet, in der BRD doch einen dauerhaften Rückzugsort fand, der sich für ihre Politik als überlebenswichtig darstellte? Matthew Connelly hat in seiner Pionierstudie argumentiert, dass die FLN diplomatische Konstellationen im Kalten Krieg geschickt für ihre Interessen auszunutzen wusste.5 Die Autorin schließt an diesen Befund an. Mit Blick auf die Hallsteindoktrin sowie die bundesdeutsche Anerkennungspolitik argumentiert sie, dass der Umgang mit den algerischen Aktivisten in der BRD von den politischen Entscheidungsträgern vor allem hinsichtlich seiner Folgen für deutschlandpolitische Fragen in der internationalen Politik gedeutet wurde. In diesem Zusammenhang habe die FLN nicht zuletzt auch von ihrem Einfluss auf die Meinungsbildung in den bündnisfreien Staaten profitiert. Nicht nur die Erwägungen der deutschen politischen und diplomatischen Akteure waren jedoch ausschlaggebend für die Etablierung der FLN in Westdeutschland. Von Bülow betont vor allem die erfolgreiche PR-Arbeit in der Bevölkerung. Hierbei spielten politische und publizistische Unterstützernetzwerke, aber auch Sympathien von Seiten deutscher sozialer Akteure eine Rolle. Auch wenn letztere sich zumeist rein humanitären Zielen verpflichtet sahen, wurde die FLN von ihnen häufig als legitime Interessensvertretung der algerischen Emigranten wahrgenommen und adressiert. Damit trugen die Initiativen aus der deutschen Zivilgesellschaft auch zu ihrer Konsolidierung und Stärkung bei (S. 249ff.). Begünstigt wurde dies durch eine verbreitete Parteinahme in der deutschen Bevölkerung zugunsten der algerischen Unabhängigkeit. Für von Bülow hing dies nicht zuletzt mit antifranzösischen Ressentiments zusammen. Diese wurden von der FLN und ihren Unterstützern noch geschürt, indem sie die Rolle der Fremdenlegion, in die bereits seit den 1920er-Jahren überproportional viele Deutsche eingetreten waren, erfolgreich skandalisierten. Sie knüpfte damit an eine in Deutschland seitdem verbreitete „anti-legion-hysteria“ an (S. 115). Auf dieser Grundlage habe sich mit der Zeit, so eine der zentralen Thesen, neben der offiziellen Diplomatie eine „private foreign policy“ herausgebildet, die später wesentlich für die Anerkennung Bonns statt Ost-Berlins vonseiten der FLN-Regierung gewesen sei (S. 369). Inwiefern sich hier nicht doch Ansätze jener von der Autorin zurückgewiesenen „Spagatpolitik“ erkennen lassen, bleibt allerdings eine offene Frage.

Ein weiteres zentrales Argument der Arbeit zielt auf die FLN-Aktivitäten als Triebfeder für Debatten über Fragen politischer Souveränität sowie die Grenzen des Rechtsstaats ab. Zwar bestand eine Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden; diese drohte jedoch beständig, demokratische Grundsätze sowie die nationale Souveränität auszuhöhlen. So wurde der Verzicht der Algerier auf „subversive oder offene politischen Aktivität“ durch einen Beschluss des Bundesinnenministeriums im November 1958 zur Auflage zum Verbleib im Bundesgebiet gemacht, das Grundrecht der politischen Meinungsäußerung blieb jedoch unangetastet. Der Versuch, die FLN einer vermeintlichen kommunistischen Unterwanderung zu überführen und die Organisation damit als unvereinbar mit der liberalen Grundordnung zu verbieten war hingegen nicht erfolgreich und der Vorwurf wurde vom Bundesamt für Verfassungsschutz als haltlos abgetan. Die deutschen innenpolitischen Akteure gerieten so in permanenten Konflikt mit rechtstaatlichen Standards. Dies wurde von französischer Seite frustriert als willfährige Untätigkeit interpretiert, weswegen der seit 1955 für Algerien ausgerufene „guerre d’action“ in Form von verdeckten Geheimdienstoperationen und Mordkommandos auch in der BRD zunehmend angewandt wurde. In Deutschland zogen diese Aktionen eine umfassende und zum Teil sensationsheischende Berichterstattung nach sich. Unabhängig von ihrer tatsächlichen Existenz (die von Bülow bezweifelt), zeichnet die Autorin in einem äußerst lesenswerten Unterkapitel die Reaktionen auf die angeblich von Frankreich unterstützte Terrororganisation „Die rote Hand“ (S. 303ff.) nach. Hierbei zeigt sie, wie die Aktivitäten des französischen Geheimdiensts über Monate hinweg medial skandalisiert und Gegenstand politischer Debatten wurden, die Bundesregierung dies jedoch geflissentlich ignorierte und auch die Bundesbehörden weitgehend untätig blieben. Dies habe dazu beigetragen, dass sich der „guerre d’action“ für Frankreich zu einem Bumerang entwickelte, da es sich zunehmend dem Vorwurf ausgesetzt sah, die bundesdeutsche Souveränität zu missachten und so wiederum die Position der FLN stärkte, die diese Stimmung dankbar aufgriff.

Es ist ein Verdienst von Bülows, mit den Aktivitäten der FLN in der BRD der Historiografie zum Algerienkrieg einen weiteren Schauplatz hinzuzufügen. Sie kann dabei aufzeigen, wie sehr die Bundesrepublik in den französischen Dekolonisationsprozess einbezogen war. Auch wenn die Akten des französischen Innenministeriums nach wie vor unter Verschluss gehalten werden, wird anhand der ausgewerteten Quellen deutlich, welche zentrale Rolle die politischen Akteure in Frankreich der Situation in der BRD beimaßen, und diese durch Öffentlichkeitsarbeit, politischen Druck sowie Geheimdienstoperationen zu beeinflussen suchten. Auf der diplomatischen Ebene wird die Wirkungsgeschichte dieser Einflussnahme recht eindeutig nachgezeichnet. Bezüglich anderer politischer Felder, wie etwa der bundesdeutschen Asyl- und Migrationspolitik oder auch hinsichtlich des von ihr häufig aufgegriffenen Ringens um staatliche Souveränität fällt das Urteil ambivalenter aus: Zwar werden diese Fragen im Verlauf der Arbeit immer wieder aufgegriffen, eine systematische Analyse findet jedoch nicht statt und auch im Fazit der Arbeit bleibt eine umfassende Synthese hinsichtlich der innenpolitischen Konsequenzen des algerischen Aktivismus‘ in der BRD aus. Dies mag auch mit der chronologischen Strukturierung des Materials zusammenhängen, anstelle derer vielleicht an manchen Stellen eine problemorientierte und tiefgehende Bearbeitung einzelner Aspekte zielführender gewesen wäre. Nicht zuletzt hätte sich der Rezensent in diesem Zusammenhang auch eine stärkere Hinzuziehung der migrationsgeschichtlichen Literatur gewünscht, die eine breitere Kontextualisierung der algerischen Aktivisten ermöglicht hätte. So bleibt etwa gänzlich unerwähnt, dass die Algerier keineswegs die einzigen ausländischen Politaktivisten während der 1950er-Jahre waren, sondern die BRD zur gleichen Zeit auch mit Vertretern der sogenannten „Ostemigration“ konfrontiert war.6 Es wäre eine interessante Frage gewesen, inwiefern die FLN unter diesen Gruppen aufgrund der deutsch-französischen Beziehungen eine Sonderrolle einnahm oder ob sie sich letztlich eher in generelle Entwicklungen einschrieb.

Diese Anmerkungen sollen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass von Bülow eine quellengesättigte und gut lesbare Monografie zur deutsch-französisch-algerischen Verflechtungsgeschichte vorgelegt hat. Bezüglich der Folgen dieser Konstellation ist die Studie immer dann besonders überzeugend, wenn sie die Versuche algerischer Aktivisten und ihrer Sympathisanten in den Blick nimmt, die bundesdeutsche öffentliche Meinungsbildung zu beeinflussen und Unterstützung abseits der offiziellen Kanäle zu generieren. Von Bülow plädiert nicht zuletzt für eine gesellschaftsgeschichtliche Erweiterung der Erforschung der frühen bundesdeutschen Außenpolitik, welche bisher vor allem vor dem Hintergrund der Hallsteindoktrin interpretiert wurde. Das Buch lässt sich somit auch als ein willkommenes Plädoyer für die Relevanz nichtstaatlicher und migrantischer Akteure für die Diplomatiegeschichte lesen.

Anmerkungen:
1 Quinn Slobodian, Foreign Front. Third World Politics in Sixties West Germany, Durham 2012; Alexander Clarkson, Fragmented Fatherland. Immigration and Cold War Conflict in the Federal Republic of Germany, 1945–1980, New York 2013.
2 Vergleiche unter anderem AHR Forum: Cultures of Colonialism in the Metropole, in: American Historical Review 121 (2016) 5.
3 Claus Leggewie, Kofferträger. Das Algerien-Projekt der Linken im Adenauer-Deustschland, Hamburg 1984.
4 Jeffrey James Byrne, Mecca of Revolution. Algeria, Decolonization, and the Third World Order, Oxford 2016.
5 Matthew Connelly, A Diplomatic Revolution. Algeria's Fight for Independence and the Origins of the Post-Cold War Era, Oxford 2002.
6 Patrice Poutrus, Asylum in Postwar Germany. Refugee Admission Policies and their Practical Implementation in the Federal Republic and the GDR between the late 1940s and the mid-1970s, in: Journal of Contemporary History 49 (2014) 1, S. 115–133.