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Titel
Phantome des Kalten Krieges. Die Organisation Gehlen und die Wiederbelebung des Gestapo-Feindbildes »Rote Kapelle«


Autor(en)
Sälter, Gerhard
Reihe
Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968 2
Erschienen
Anzahl Seiten
554 S., 13 s/w Abb.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Uhl, Deutsches Historisches Institut Moskau

Dass ein Auslandnachrichtendienst Menschen jenseits der eigenen Staatsgrenzen bespitzelt, liegt auf der Hand. Reinhard Gehlen hatte sich als Chef der Abteilung „Fremde Heere Ost“ im Oberkommando des Heeres (OKH) noch vor Ende des Zweitens Weltkrieges den Ruf eines exzellenten Kenners der Sowjetunion verschafft, obwohl er nicht einmal die russische Sprache beherrschte. Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches wurden seine Kenntnisse von den US-Amerikanern für so wichtig gehalten, dass sie ihm die Bildung eines eigenen Nachrichtendienstes – der Organisation Gehlen, oder kurz „Org.“ genannt – gestatteten und diese Institution mit reichlich Geld förderten. Da sich „Dr. Schneider“, so der Tarnname Gehlens, auch in der Bundesrepublik als Superspion präsentierte, fungierte die Org. ab 1956 unter dem Namen Bundesnachrichtendienst (BND) als einzige Behörde der noch jungen Republik, die im Ausland geheime Nachrichten beschaffen durfte. Soweit der allgemein gültige Mythos der Gründung des Bundesnachrichtendienstes.

Die im Auftrag der Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des BND entstandene Arbeit von Gerhard Sälter zeigt eine der dunklen und bisher wenig bekannten Seiten des bundesdeutschen Nachrichtendienstes: Den Versuch Gehlens, seine über das Ende des Krieges gerettete Organisation den politischen Entscheidungsträgern der Bundesrepublik auch als schlagkräftigen Inlandsgeheimdient zu präsentieren, der bereit stand, die Tätigkeit des Verfassungsschutzes gleich mit zu übernehmen. Gehlen, so sein CIA-Förderer James H. Critchfield, träumte davon „innere Sicherheit und Geheimdienst miteinander verbinden zu können“ (S. 45).

Hierfür reaktivierte „Dr. Schneider“ den Gestapo-Mythos von einer „Roten Kapelle“ der sowjetischen Nachrichtendienste, die in ganz Westeuropa ihr subversives Unwesen treibe. Zahlreiche ihrer Mitglieder und Sympathisanten hätten den Krieg überlebt und würden nun nicht nur weiter für die Sowjetunion spionieren, sondern auch als fünfte Kolonne einen kommunistischen Umsturz vorbereiten. Da auch die amerikanischen, britischen und französischen Dienste weiter an die geheimnisvolle Fortexistenz einer von Moskau aus orchestrierten flächendeckenden Spionageorganisation in Europa glauben wollten, fiel Gehlens Ansatz einer scheinbar wirkungsvollen Spionageabwehr auf fruchtbaren Boden. Das galt umso mehr, da er sich Anfang der 1950er-Jahre in die aufgeheizte antikommunistische Stimmung der McCarthy-Ära fügte.

Für die Ermittlungen gegen die angeblich immer noch aktive „Rote Kapelle“ griff die Organisation Gehlen auf ehemalige Angehörige der Gestapo zurück, die bereits während des Zweiten Weltkrieges Personen verfolgt hatten, die in Verdacht gestanden hatten, der vermeintlichen sowjetischen Spionageorganisation angehört zu haben. Hierzu zählte unter anderem Heinrich Reiser, der zwischen 1942 und 1943 in Paris die Ermittlungen des dortigen Sonderkommandos „Rote Kapelle“ geleitet hatte. Dieser Umstand ermöglichte es Reiser, sich als „wohl der erfahrenste Rote-Kapelle-Sachbearbeiter“ zu präsentieren, der „für die Gesamtorganisation einen sehr großen Gewinn“ darstellte. Die ihm bescheinigte „antikommunistische Einstellung“ trug ebenso zu seiner Aufnahme in die Organisation Gehlen bei wie der Aktenvermerk, dass er „in langjähriger, harter französischer Haft eine beweisbar untadelige Haltung in menschlicher und politischer Hinsicht gezeigt“ habe (S. 152f.).

Nur kurze Zeit später ging Reiser daran, ein dichtes Netzwerk aus alten Gestapo- und SD-Kontakten zu knüpfen und begann, diese Kontakte in die Org. zu holen. Zu ihnen zählten der ehemalige Abwehrhauptmann Harry Piepe, der Gestapo-Mitarbeiter Rolf Richter sowie der Gestapo-Spitzel Walter Klein. Im Herbst 1951 stellte die Organisation Gehlen schließlich Kontakt zu Manfred Roeder her. Der ehemalige Oberstkriegsgerichtsrat war im Prozess gegen die Angehörigen der Widerstandsgruppe um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack vor dem Reichskriegsgericht als Anklagevertreter aufgetreten und gilt als einer der Begründer der Legende einer „Roten Kapelle“. Zugleich hatte er versucht, ein Verfahren gegen Dietrich Bonhoeffer und Hans von Dohnanyi einzuleiten und hierfür die Existenz einer „Schwarzen Kapelle“ konstruiert. Nach Kriegsende hatte Roeder zunächst sein Wissen über die „Rote Kapelle“ dem Counter Intelligence Corps der US-Armee zur Verfügung gestellt. Ein seit 1949 gegen ihn laufendes Verfahren in der Bundesrepublik wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde schließlich im November 1951 ergebnislos eingestellt. Da die Org. auf Weisung von Kanzleramtschef Hans Globke vor einer direkten Anwerbung des schwer belasteten NS-Juristen zurückschreckte, wurde dieser schließlich über einen Strohmann für den Nachrichtendienst Gehlens verpflichtet.

Spätestens mit der Anwerbung Röders nahm die Operation „Fadenkreuz“, so der Deckname für die Jagd nach den mutmaßlichen Ostagenten, groteske Züge an. Dieser behauptete im Frühjahr 1952, allein „die in Westdeutschland tätige Rote Kapelle umfasse etwa 10–15.000 Mitglieder, „die sich zum großen Teil in Schlüsselstellungen von Staat, Partei [!] und Behörden befinden“. Ihm werde es aber gelingen, „mit 10 zuverlässigen Beamten und 1 oder 2 tüchtigen Funkern […] die Angelegenheit in kurzer Zeit aus der Welt zu räumen“ (S. 200f.). Als Ermittler wurden von der Org. schließlich elf weitere Männer aus Gestapo, SD und Geheimer Feldpolizei angeheuert, deren Verstrickung in die NS-Verbrechen Sälter eindrucksvoll belegt.

Für die alten Gestapo- und SD-Seilschaften war nahezu jeder verdächtigt, der auch nur mutmaßlich in Kontakt zu ehemaligen Kommunisten stand. Wer jedoch gar direkt mit den Widerstandskämpfern um Harnack und Schulze-Boysen Verbindung gehabt hatte, bei dem reichten schon Äußerlichkeiten, um in der Verdächtigen-Kartei von „Fadenkreuz“ zu landen. So vermerkte die Ermittlungsakte zur Witwe des im Mai 1943 wegen der Verteilung von Flugblättern hingerichteten Wehrmachtssoldaten Heinz Strelow als Verdachtsmoment, „wirkt schon äußerlich unsympathisch und trägt eine merkwürdige Pony-Haarfrisur“ (S. 257). Der Kreis der Verdächtigen erweiterte sich ständig. Zunehmend gerieten auch Journalisten und Schriftsteller in das Visier von „Fadenkreuz“. Nur wenig verwunderlich scheint deshalb auch, dass nun auch bürgerliche Politiker, wie das CSU-Mitglied Josef Müller, der Staatssekretär im Bundeskanzleramt Otto Lenz und Bundesminister Jakob Kaiser, auf die immer länger werdende Liste der Verdächtigen gelangten. Es schien den Ermittlern gegen die „Rote Kapelle“ deshalb auch nicht absurd, dass selbst ein Mann wie Globke in Verdacht geriet, ein Spion Moskaus zu sein, der für das sowjetische Agentennetz arbeite.

Im Ergebnis von „Fadenkreuz“ – die Operation ging nach der Bildung des BND allmählich ihrem Ende entgegen – gelang es Gehlen zwar, sich unliebsamer Konkurrenten, wie Friedrich Wilhelm Heinz, zu entledigen und umfangreiche Personendossiers anzulegen. Doch seine Pläne für eine Fusion der bundesdeutschen Geheimdienste zu einem einheitlichen Bundesdienst unter seiner Führung scheiterten endgültig. Auch von dem Wust der gesammelten Anschuldigungen und Verdächtigungen blieb nichts übrig. In einem Schreiben an BND-Präsidenten Gerhard Wessel musste 1972 zu „Fadenkreuz“ konstatiert werden, die „Verstiegenheit und Unsinnigkeit nahezu aller dieser Unterlagen und Ausarbeitungen entzieht sich jeder Beschreibung“ (S. 505). Zudem hatte das KGB die Org. und den Bundesnachrichtendienst nicht, wie von Gehlen erwartet, mit Kommunisten infiltriert, sondern buchstäblich von „rechts“. Durch ihre NS-Vergangenheit belastete und so erpressbare BND-Mitarbeiter wie Hans Clemes und Heinz Felfe versorgten Moskau mit so vielen Unterlagen aus dem Dienst, dass es gar keiner „Roten Kapelle“ bedurfte.

An der mit großer Detailliebe und Akribie verfassten Arbeit gibt es eigentlich nur einen kleinen Kritikpunkt. Es bleibt schade, dass der Autor für sein Buch keine russischsprachigen Veröffentlichungen zu Rate gezogen hat. Dadurch hätten sich zum einen, den Fachkundigen störende, Unschärfen bei der korrekten Bezeichnung der verschiedenen sowjetischen Geheimdienste – so entstand das KGB erst im März 1954 – vermeiden lassen. Vielleicht hätte der Autor dann auch mit größerer Vehemenz die These vertreten, dass selbst die Übermittlung geheimer Informationen an eine fremde Macht, einen Akt des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus darstellt. Diese Anmerkungen sind jedoch nur als Petitessen des Rezensenten anzusehen. Gerhard Sälter hat vielmehr ein eindrucksvolles Buch vorgelegt, das noch lange als gewichtiges Standardwerk zur Geschichte der Organisation Gehlen und den antikommunistischen Wahnvorstellungen ihres Gründers gelten muss.

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