M. Junge (Hrsg.): Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen

Cover
Titel
Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen.


Herausgeber
Junge, Matthias
Erschienen
Wiesbaden 2016: Springer VS
Anzahl Seiten
IX, 234 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marie-Kristin Döbler, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

„Neue Väter“. „Frauenfalle“. „Generation Porno“. Gesellschaftlicher „Fahrstuhleffekt“. Diese und weitere Beispiele werden von den Beiträgen im Buch „Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen“ diskutiert, um Rolle, Bedeutung und Funktion von Metaphern sowie von Zeitdiagnosen zu diskutieren und die metaphorische Grundlegung von Zeitdiagnosen zu analysieren. Dem Herausgeber geht es – wie auch einigen Beiträgen – darum, Zeitdiagnosen als „Weg der Soziologie zur Öffentlichkeit“ (S. 1) darzustellen. Daher sei die Wahl der Metapher entscheidend, die den Erfolg und die öffentlichkeitswirksame Durchsetzung jeder Zeitdiagnose bestimme. In recht unkritischer Haltung merkt Junge an, „eine gut gewählte Metapher […könne] die Zeitdiagnose in einer schnell zu erfassenden Weise verdichten“, so dass sie „zu einem Selbstläufer in der Öffentlichkeit“ werde (ebd.). Er vernachlässigt, dass so eine Reduktion und damit potentiell fälschliche Verkürzung von Prozess-, Verlaufs- oder Zustandsbeschreibungen stattfindet. Glücklicherweise betrachten anschließende Beiträge das Potential von Metaphern, die Wirklichkeit mitzugestalten, vielschichtiger und verorten die Konzepte ‚Metaphern‘ und ‚Zeitdiagnose‘ theoretisch fundierter.

Dies wird schon im ersten Beitrag deutlich, der den Metaphernbegriff theoretisch einfängt. Uwe Kränke diskutiert das Konzept der Zeitdiagnose als eine Metapher auf drei Ebenen: „Diagnose“ als Übertragung eines Begriffs aus der Medizin in die Sozialwissenschaft; die Wahl der Begriffe, mit denen die Zeitdiagnose arbeite und ihren Befund versprachliche; das „Labeling von Gesellschaft“ durch den Zeitdiagnostiker nach dem Muster: „Ein Prädikat (X-isierung) wird mit dem Nomen ‚Gesellschaft‘ verfugt, und das neu gebildete Kompositum ergibt eine zeitdiagnostische Bestimmung (X-isierungs-Gesellschaft).“ (S. 12)

Konkrete „X-isierungen“ (z.B. „Risikogesellschaft“, „Beschleunigungsgesellschaft“, vgl. S. 34ff.) thematisiert dann Daniel Witte, der mit einem Fokus auf der Orientierungsmetapher der vertikalen Raumeinteilung (oben/unten) die Bedeutung damit verbundener Metaphern für den Alltagssprachgebrauch und anschließend für das wissenschaftliche Denken (Wie spiegelt sich dies in soziologischen Thesen wider?) diskutiert. Witte reflektiert hierbei breit, warum Metaphern kritisch zu betrachten sind und mahnt zum Bewusstsein für die sprachliche und symbolische Ko-Konstruktion von Wirklichkeit, die in den Köpfen von Hörern und Lesern – unbemerkt in ihrem Wirken – „politische Realitäten“ (S. 22) schaffe.

Ein solch theoretisch reflektierter, empirisch verankerter und kritischer Standpunkt ist in Junges „Zeitdiagnose als Chance der Soziologie“ leider nicht zu finden. Wie schon in der Einleitung, betont der Autor, mit guten Metaphern könne man die massenmediale Öffentlichkeit erreichen und beeinflussen, indem die Aufmerksamkeit durch Ausrichtung der Metapher gebündelt werde (vgl. S. 51). Die Unvollständigkeit und Einseitigkeit einer Zeitdiagnose wird zu ihrem „Charme“ (S. 52) erklärt, da sie auffordere durch Wissen, Methoden und Theorien „anderer Disziplinen und Perspektiven“ (ebd.) ergänzt zu werden. Dass dies aber nur selten geschieht – u.a. weil es kompetente, reflektierende Rezipienten und/oder deren Zugang zu den entsprechenden Ressourcen erfordert – oder Machtasymmetrien befördert und schafft, bleibt unbeachtet. Damit fällt auch unter den Tisch, dass Metaphern nicht nur der Vermarktung wissenschaftlicher Erkenntnisse dienen, sondern oft auch dem Erhalt gesellschaftlicher Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten oder für Minderheiten unvorteilhafter Situationen.

Diese Perspektive nimmt Corinna Onnen ein, die am Beispiel der „neuen Väter“ auf die ambivalente Wirkung und das oft von Machtinteressen geleitete oder auf sozial eingefahrenen, vermeintlichen Selbstverständlichkeiten beruhende Funktionieren von Sprache und Sprachbildern aufmerksam macht. Ihre Analysen belegen: Sprache ist oft ein Medium der Verschleierung; zu kritisierende Zustände werden als natürlich markiert oder invisibilisiert, so dass intendierter Wandel gebremst und behindert werde (vgl. S. 63ff.; S. 74).

Das Unsichtbarmachen und die damit verbundene Nicht-Sagbarkeit beschäftigen auch Florian Kreuzer, der ‚Falle’ als Begriff und Metapher der „(Selbst-)Beobachtung“ diskutiert. Während sich Begriffe durch Klarheit und Präzision hinsichtlich ihrer Bedeutung auszeichneten, seien Metaphern von lebendiger Imagination (vgl. S. 80) charakterisiert. Man mag anzweifeln, ob die Bedeutung von Begriffen wirklich eindeutig und nicht (wie die von Metaphern) eher indexikal, kontextgebunden, abhängig von der Einbettung und Einbindung in Sinn- oder Diskurszusammenhänge ist, wie man sogar nach Lektüre von Kreuzers eigenen Analysen zur „Frauenfalle“ vermutet (vgl. S. 85ff.). Nicht zu bestreiten ist aber, dass Kreuzers Darstellungen instruktiv sind, dem Leser vor Augen führen, wie eine Metaphernanalyse aussehen kann, und die Vielschichtigkeit von Metaphern und deren vielseitigen Einsatz (in den diskursiven Kämpfen um Deutungshoheit) aufzeigen.

Auch Nina Leonhard zielt in ihrem Beitrag über die „postheroische Gesellschaft und ihr Militär“ (S. 101) darauf, die Wirkungen von Metaphern auszuweisen. Im Fokus stehen gesellschaftliche Praktiken der „Ausblendung von Krieg und militärische[r] Gewaltanwendung“ sowie die damit verbundenen „Schwierigkeiten“ für Soldat/innen, „gesellschaftliche Unterstützung“ zu erhalten (S. 116). Nach Leonhard biete die Metapher des „postheroischen“ die Möglichkeit, trotz dieses gesellschaftlichen Hintergrunds Erwartungen zu „(re)produzieren“, die „militärbezogene Identitäts- und Interessenpolitik“ betreiben ließen (S. 117) und damit die gesellschaftliche (Selbst-)Verortung von Soldat/innen erleichtere.

Identitätsstiftung könnte man auch hinter dem Generationen-Begriff vermuten, der von Oliver Dimbath – wie schon von Karl Mannheim – über „für eine Alterskohorte prägende und dadurch kollektive Primärerfahrung“ bestimmt wird. Als Metapher werde ‚Generation’ jedoch dafür verwendet, sozialwissenschaftliche Diagnosen „auf den Punkt zu bringen“ (S. 123). Die Unterstellung, die von Diagnostikern dabei gemacht werde, bedarf aus Dimbaths Perspektive aber einer kritischen Reflexion. So sei beispielsweise die Eindeutigkeit, die den zu identifizierenden Gegenstand vermeintlich kennzeichne, genauso zu hinterfragen wie die damit verbundene Trivialisierung wissenschaftlicher Befunde, wie er am Beispiel der „Generation-Porno“ verdeutlicht.

Ähnlich wie Dimbath sieht auch Sina Farzin Zeitdiagnosen als Verdichtung soziologischer Erkenntnis. Sie betont aber die vermeintlich positive Konsequenz dessen: dass durch Metaphorisierung Zeitdiagnosen zur öffentlichkeitswirksamsten und bekanntesten Form der soziologischen Kommunikation würden (vgl. S. 143). Farzin fokussiert Müllmetaphern und vertritt die These, diese böten die Möglichkeit, der „Umgebung […] neue, positive Ordnung“ zu verleihen, indem „alle Gegenstände […] verdammt [würden], die die gängigen Klassifikationen durcheinanderbringen oder in Frage stellen könn[t]en“ (Douglas, zitiert von Farzin S. 155).

Geht es bei Farzin um Diagnosen über die Spaltung der Gesellschaft, befasst sich Walter Reese-Schäfer mit dem Kommunitarismus bzw. darauf aufbauender Zeitdiagnosen. Dominierender Bezugspunkt für seine Ausführungen ist Charles Taylor, der sich Metaphern auf eine Weise bediene, die „emanzipatorische Züge“ (S. 176) aufwiesen, da es die Möglichkeiten des Denkens, Theoretisierens und Beschreibens erweitere. Sei man sich bewusst, dass jede sprachliche Formung, jede Bezeichnung oder Abbildung niemals die bezeichnete oder dargestellte Sache selbst sei, sondern sie allenfalls repräsentieren könne, und reflektiere man über die (Nicht-)Darstellbarkeit bzw. ausgeblendete Elemente, so könne Taylors Position Vorbildfunktion für Wissenschaften entfalten.

Danny Otto beleuchtet den Einsatz von Metaphern in Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Als zentral erscheinen ihm die Assoziationen und Verbindungen, die nicht nur im Kern von Latours Ausführungen stehen, sondern auch von dessen gewählten Begrifflichkeiten hervorgebracht werden. Exemplarisch illustriert Otto dies an einem von Latour seiner Veröffentlichung vorangestellten Peanuts-Comic. In diesem geht es um „ANTs“ (‚ant’ = englisch für Ameisen) und deren Arbeitswilligkeit, aber auch um die missverständliche Annahme, man könne durch Fragen „präzise und einheitliche Antwort[en] auf ein ‚Wie’ [oder …] eine generalisierende Bestimmung eines ‚Was’“ (S. 182) erhalten.

In ähnlicher Weise ist Tobias Schlechtriemen darauf bedacht, Castells Theorie unter Berücksichtigung von Metaphern auf ihren gegenwartsdiagnostischen Gehalt abzuklopfen. An diesem Beispiel will er die „Aufgabe einer zukünftigen, soziologischen Metaphorologie“ (S. 213) bestimmen. Schlechtriemen nimmt einen konstruktivistischen Standpunkt ein, wenn er den Beobachter oder die Beschreibende als in die Beobachtung und Beschreibung involviert betrachtet und die ‚Wirklichkeit’ damit zu einem (sprachlich-bildlichen) Produkt bestimmt, das nur Bestimmtes abbilde (Castells Theorie bspw. die Verknüpfung und Verflechtung), Anderes wiederum ausblende und vernachlässige (Castells Theorie bspw. Grenzziehungen, Reibungen, Ausschluss).

Auch Thomas Kron ist daran gelegen, eine spezifische gesellschaftsdiagnostische Theorie auf ihren Metapherngebrauch hin zu untersuchen und auf Grund der gewählten Sprache Stärken und Schwächen eben dieser herauszuarbeiten. Er begreift die metaphorische Verwendung von „Immunisierung“ in der Systemtheorie als Moment, das zu weitergehenden Überlegungen (innerhalb der gesamten Soziologie) anrege, indem durch begriffliche Irritation erkenntnistheoretische Produktivität herbeigeführt werden könne.

Dankenswerter Weise bringen einige der Beiträge auf den Punkt, dass Metaphern bzw. Sprache im Allgemeinen niemals unschuldige Beschreibungen und direkte Abbilder einer Wirklichkeit sind. Vielmehr (er)schaffen sie – ganz im Sinne Foucaults Diskursverständnis – erst die Phänomene, von denen sie sprechen; dabei sind sie stets Produkte einer bestimmten sozio-historisch, kulturell, situativ und biographisch geprägten Kommunikation und Ausdruck für bzw. Element von Deutungskämpfen; insbesondere durch die Annahme ihrer Natürlichkeit und Unhinterfragtheit (re-)produzieren sie so Strukturen und verhindern Wandel – eine Überlegung, die von einigen Beiträgern in ihrer kritischen Reflexion auf Sprache berücksichtigt wurde. Schön wäre es gewesen, den Sammelband insgesamt durch etwas breitere theoretische Überlegungen und verbindende, gemeinsame oder strittige Thesen zu rahmen. So stehen die Beiträge etwas isoliert nebeneinander.

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