Titel
Die Revitalisierung von Vāstuvidyā im kolonialen und nachkolonialen Indien.


Autor(en)
Otter, Felix
Erschienen
Heidelberg 2016: CrossAsia E-Publishing
Anzahl Seiten
378 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simon Cubelic, South Asia Institute, Heidelberg University

Welche Rolle sanskritische Wissensformen für die Moderne Indiens spielten oder spielen sollen, ist in den letzten Dekaden vermehrt zum Gegenstand wissenschaftlicher wie wissenschaftspolitischer Debatten geworden. In der Forschung etwa wurde die Frage kontrovers diskutiert, ob Śāstra schon vor dem Anbruch der Kolonialzeit in Erstarrung verfallen war oder in vernakularem Gewand die koloniale Öffentlichkeit weiter prägte.1 Daneben mehren sich an indischen Universitäten die Bestrebungen, Śāstra nicht allein aus einer wissensgeschichtlichen Perspektive zu untersuchen, sondern dessen Theorie- und Konzeptrepertoire zur Deutung gegenwärtiger soziopolitischer Phänomene fruchtbar zu machen. Dem außenstehenden Betrachter fällt es dabei oft nicht leicht zu entscheiden, in welchen Fällen es sich dabei um die Fortführung lebendiger Traditionen, redliche Bemühungen um epistemische Pluralität unter den Bedingungen postkolonialer Wissensproduktion oder Manifestationen nationalistischer Kulturpolitik handelt. Bewertungen solcher Art setzen allerdings detaillierte text- und rezeptionsgeschichtliche Studien zu den jeweiligen Wissensdisziplinen voraus, deren geschichtlicher Horizont die vormoderne und moderne Textproduktion gleichermaßen umfasst. Felix Otter ist es mit seiner an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg entstandenen Dissertation gelungen, eine ebensolche Studie für Vāstuvidyā, das altindische „Wissen von der Wohnstatt“ (S. 25), vorzulegen, einen Gegenstand, der in der indologischen wie geistesgeschichtlichen Forschung bisher nur unzureichend berücksichtigt wurde.

Die Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert. In der Einleitung (S. 14–60) formuliert Otter als Ziel seiner Studie, die Deutungsmuster, Konstruktion und Transformation von Vāstuvidyā in der kolonialen und nachkolonialen Literatur, vor allem in ihrem Verhältnis zur antiken und mittelalterlichen Literatur der vāstuśāstras, mit textkritischen und -analytischen Methoden zu untersuchen. Otter, der seine Arbeit vorrangig als eine „philologische Studie“ (S. 41) versteht, problematisiert jedoch zugleich die Privilegierung von Kontinuität gegenüber Wandel als möglichen Fallstrick eines solchen Ansatzes, dem nur durch eine konsequente Kontextualisierung und Berücksichtigung der spezifischen hermeneutischen Konstellation der Kolonialzeit beizukommen sei. Die beiden folgenden Kapitel bilden einen textgeschichtlichen Überblick zu Vāstuvidyā. Das zweite Kapitel (S. 61–110) zielt darauf ab, die Heterogenität und Transformationen, welche die Überlieferungsgeschichte von Vāstuvidyā kennzeichnen, herauszuarbeiten, um diese dann den Kohärenzfiktionen und Homogenisierungstendenzen der (nach-)kolonialen Literatur gegenüberzustellen. Dabei wird die geschichtliche Entwicklung von Vāstuvidyā, deren Anfänge in einer geomantischen Lehre zu suchen sind, ab ihrer frühesten schriftlichen Fixierung (ab dem 1. Jahrhundert. n.Chr.) nachgezeichnet, wobei der Schwerpunkt der Darstellung auf die westindische Textgeschichte gelegt wird. Zu Beginn wurde Vāstuvidyā in divinatorische Kompendien aufgenommen und dort um Lehrsätze der Baupraxis ergänzt. Ab dem 11. Jahrhundert wird Vāstuvidyā in der Gattung der śilpaśāstras zu einer „bauhandwerklichen Vāstuvidyā“ weiterentwickelt; ab dem 17. Jahrhundert findet sie schließlich Eingang in katarchische Kompendien und somit in einen astrologischen Kontext.

Das dritte Kapitel (S. 111–177) bietet einen chronologischen Überblick über die vom Beginn der Kolonialzeit bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts verfassten Texte mit Bezug zu Vāstuvidyā. Die Darstellung konzentriert sich dabei vorrangig auf hindi- und englischsprachige Quellen Nordindiens, wobei der nationalstaatliche Bezugsrahmen durch einen Exkurs zur Globalisierung der Vāstuvidyā in jüngerer Zeit durchbrochen wird. Wie schon im vorangegangenen Kapitel zeigt sich, dass der Verfasser für seine Studie eine beträchtliche Anzahl an Quellen und Textsorten herangezogen hat. Diese umfassen für den kolonialen und nachkolonialen Diskurs Textausgaben und Übersetzungen von Sanskrit-Werken, die vorrangig im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entstanden sind, (populär-)wissenschaftliche Schriften, die vermehrt zwischen den Jahren 1925 und 1948 verfasst wurden, Vāstu-Kompendien, in denen Sanskrit-Material kompiliert wurde, häufig ergänzt durch Hindi-Übersetzungen und Kommentare sowie die Vāstu-Handbücher der jüngeren Zeit auf Hindi und Englisch, die sich an Rezipienten der indischen Mittelschicht wenden. Otter hebt zwei Wellen oder Revitalisierungsschübe gesteigerter Textproduktion hervor, die er in den Jahren 1927–1946 sowie 1993–2004 verortet. Während die indische Unabhängigkeitsbewegung den soziokulturellen Rahmen für die erste Welle bildet, steht die zweite Welle mit dem politischen Aufstieg des Hindunationalismus in Zusammenhang.

Die Kapitel 4 und 5 sind der Auswertung des im dritten Kapitel vorgestellten Quellenmaterials gewidmet. In Kapitel 4 (S. 178–243) werden die dominanten Deutungsmuster herausgearbeitet, welche die Auseinandersetzung der kolonialen und nachkolonialen Vāstuvidyā-Autoren mit den überlieferten Vorschriften prägen. Otter unterscheidet dabei zwischen vier dominanten Interpretationsmustern. Erstens, Vāstuvidyā stellt eine uralte, authentische panindische Tradition dar, in der sich die Überlegenheit der indischen Kultur gegenüber der westlichen Zivilisation spiegelt. Zweitens, bei Vāstuvidyā handelt es sich um „Wissenschaft“. In einer rationalistischen Deutung wird Vāstuvidyā als in Übereinstimmung mit wissenschaftlichen Prinzipien dargestellt, während in einer indigenistischen Deutung Vāstuvidyā zu einer ganzheitlichen, alternativen „Wissenschaft“ stilisiert wird. Drittens, Vāstuvidyā stellt eine panindische Architektur- oder Designtheorie dar. Dabei handelt es sich um einen englischsprachigen, weitgehend akademischen Elitendiskurs. Viertens, Vāstuvidyā wird als Teil globaler New-Age-Strömungen konstruiert. Dieses Deutungsmuster wird in der Studie jedoch nicht weiter behandelt.

In Kapitel 5 (S. 244–293) wird zunächst untersucht, mit welchen diskursiven Strategien die in Kapitel 4 dargestellten Deutungsmuster auf das in Kapitel 2 vorgestellte vorkoloniale Textmaterial angewendet werden. Otter identifiziert drei solcher Strategien. Erstens, Identifikationen und Analogisierungen, mittels derer Sanskritbegriffen aus dem Vāstuśāstra moderne Äquivalente aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften zugewiesen werden, ein Vorgang der durch die entsprechenden auf dem Sanskrit beruhenden Neologismen in neuindoarischen Sprachen begünstigt wird. Zweitens, Homologisierung, d.h. ein untergeordneter, spezifischer Begriff wird mit einem übergeordneten gleichgesetzt (pars pro toto) sowie, drittens, Übertragungen, wodurch der Geltungsbereich vorkolonialer Regeln auf moderne Objekte ausgeweitet wird. In einem zweiten Schritt werden die Auswirkungen aufgezeigt, welche die Revitalisierungsstrategien auf die (nach-)kolonialen Vāstuvidyā-Schriften ausübten. Nach Otter schlagen sich diese nicht nur in der Tendenz zur Homogenisierung bzw. der Herausbildung eines gemeinsamen Regelkerns in den untersuchten Texten nieder, sondern auch in Prozessen der Standardisierung, d.h. einer quantitativen Reduktion der Vāstu-Prinzipien, und Trivialisierung, worunter deren Komplexitätsreduktion zur erleichterten Anwendbarkeit verstanden wird.

In der Schlussbetrachtung (S. 294–332) wird die in der Methodenreflexion in Aussicht gestellte Kontextualisierung ins Zentrum gerückt und die Befunde der Arbeit in einen geistesgeschichtlichen Zusammenhang gestellt. Nach Otter spiegelt die Revitalisierung von Vāstuvidyā drei übergeordnete Diskurse wider, die vor allem durch die koloniale Erfahrung und die Auseinandersetzung mit dem modernen westlichen Wissenschaftsbegriff geprägt sind. Als erstes wird der weiter oben skizzierte apologetische Wissenschaftsdiskurs angeführt, der Vāstuvidyā als eine authentisch indische Spielart von „Wissenschaft“ begreift. Den zweiten wichtigen Diskurs bildet die religiöse Apologetik, die Hinduismus zur Synthese von Religion und Wissenschaft erklärt. Eine solche Vermischung von religiöser und wissenschaftlicher Codierung konstatiert Otter auch für die moderne Vāstuvidyā. Schließlich führt Otter auch die indische Nationenbildung als Einflussgröße an, wovon vor allem die idealisierende Darstellung von der vermeintlichen Bedeutung von Vāstuvidyā für das indische Altertum ein beredtes Zeugnis ablegt. Dennoch will der Verfasser die jüngere Textproduktion zu Vāstuvidyā nicht als eine reine kulturpolitische Verlängerung des Hindunationalismus verstanden wissen, sondern verweist auf rezente ethnologische Arbeiten, die ein komplexeres Bild von der Einbettung von Vāstuvidyā in die Lebenswelten der indischen Mittelschicht zeichnen. Trotz der zahlreichen Transformationen, die Vāstuvidyā schon in der vorkolonialen Zeit durchlaufen hat, kommt der Autor zu dem Schluss, dass es sich aufgrund der Trivialisierung und nationenweiten Popularisierung von Vāstuvidyā bei den kolonialen und nachkolonialen Revitalisierungsstrategien dennoch um ein qualitativ neuartiges Phänomen handelt. Ein Anhang mit einer Chronologie (nach-)kolonialer Vāstuvidyā-Texte (S. 333–337) sowie Konkordanzen des bearbeiteten Quellenmaterials (S. 338–348) runden die Studie ab.

Trotz der Fülle des behandelten Materials aus beinahe zweitausend Jahren indischer Literaturgeschichte gelingt dem Autor eine klar gegliederte und präzise durchargumentierte Studie. Dabei glückt Otter der Spagat zwischen Abstraktion und Einzelfallanalyse, sodass auch individuelle Motivlagen und Akzentsetzungen ausgewählter Autoren zur Sprache kommen und Raum für die kritische Auseinandersetzung mit ihnen bleibt. Besonders überzeugt jedoch das methodische Vorgehen des Verfassers, der damit die Potentiale philologischer Methoden für die Erforschung kolonialer und nachkolonialer Wissensformen herausstellt, vor allem wenn die dadurch gewonnenen Ergebnisse an geistes- und sozialgeschichtliche Studien rückgebunden werden. Einzig redundante Textpassagen, die dem Dissertationscharakter dieses Buches geschuldet sind, stören den Lesefluss an manchen Stellen. Felix Otter hat eine materialsatte, detaillierte und methodisch innovative Arbeit vorgelegt, die Forschenden auf den Gebieten der Indologie sowie der modernen indischen Geistes- und Sozialgeschichte gleichermaßen zur Lektüre empfohlen werden kann.

Anmerkung:
1 Siehe u.a. Sheldon Pollock, The Ends of Man at the End of Premodernity, Amsterdam 2005; Brian A. Hatcher, „Sanskrit and the Morning After“. Indian Economic and Social History Review 44/3 (2007), S. 333–361; Michael S. Dodson, Orientalism, Empire, and National Culture, Basingstoke 2007.

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