Cover
Titel
Hugo Haase. Ein jüdischer Sozialdemokrat im deutschen Kaiserreich, sein Kampf für Frieden und soziale Gerechtigkeit


Autor(en)
Seils, Ernst-Albert
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
817 S., 12 s/w Abb.
Preis
€ 92,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lars Fischer, Hebrew & Jewish Studies Department, University College London (UCL)

Angesichts der leitenden Ämter, die Hugo Haase zeitweilig in der SPD und der USPD innehatte, überrascht sein relativ geringer Bekanntheitsgrad. Insofern ist Ernst-Albert Seils grundsätzlich durchaus zuzustimmen, wenn er schreibt: „Man sollte heute mehr von Hugo Haase wissen“ (S. 32). Dass seine Biografie allerdings dazu angetan sein sollte, Haase einem breiteren Publikum nahezubringen, scheint fraglich. Das liegt zum einen an der Länge des Buchs, dann an der Art der Darstellung im Allgemeinen und schließlich daran, dass sich viele Leserinnen und Leser angesichts von Seils‘ hagiografischem Überschwang fragen dürften, ob Haase den in diesem Buch betriebenen Aufwand auch bei nüchternerer Betrachtung rechtfertigen würde.

Für Haases relativ geringen Bekanntheitsgrad gibt es zwei Hauptgründe. Erstens ist er als einer der Anführer der USPD in den für die Darstellung der Jahre um den Ersten Weltkrieg lange Zeit maßgeblichen Grabenkämpfen, in denen die einen das Verhalten der Mehrheitssozialdemokraten zu rechtfertigen suchten, während die anderen die Gesamtentwicklung unweigerlich auf die Gründung der KPD zulaufen sahen, aufgerieben worden. Ironischerweise wurden diese letztlich von der allen Beteiligten gemeinsamen Annahme bestimmt, dass der USPD, je nach eigenem Standpunkt, im Guten wie im Bösen eigentlich nur als Zwischengründung auf dem Weg zur Eigenständigkeit der KPD ernsthafte Bedeutung zukam. Da es Haase aber stets um die Wiederannäherung an die MSPD ging, stellte sich gerade seine letztlich wohl bedeutsamste Rolle, nämlich als USPD-Vorsitzender, wahlweise als sektiererische Zeitverschwendung mit potenziell totalitären Implikationen oder als Verrat an der Mission, die ihm eigentlich oblegen hätte, dar. In dieser Hinsicht scheint Seils statt einer unbefangenen Neubewertung eher eine Umwertung vorzunehmen und schafft ein neues Heldenepos, in dem die Rolle, die in der DDR-Geschichtsschreibung Luxemburg, Liebknecht und dem Spartakusbund zukam, nun Haase und dem rechten Flügel der USPD zugeschrieben wird.

Der zweite Grund für Haases relativ geringen Bekanntheitsgrad dürfte in seiner politischen Persönlichkeit begründet liegen. Seils betont immer wieder Haases „konziliantes Wesen“ (S. 776). „Eine Argumentation im Sinne des klassischen Marxismus, die Benutzung des diesem eigenen spezifischen Vokabulars, findet man bei ihm kaum“ (S. 97), ja, „dass der Liberalismus Kants, wie Bernstein meinte, sich im Sozialismus vollenden sollte, dieser Gedanke entsprach ganz Haases Überzeugung“ (S. 295). Wie sehr Seils sich in dieser Hinsicht mit Haase identifiziert, wird deutlich, wenn er schreibt, Haase sei in seiner Schulzeit von „klugen Gelehrten“ maßgeblich beeinflusst worden, die „dem rigorosen, doktrinären Liberalismus Jacobys [...] fern[standen]“ (S. 63). Dass einer, dem beigebracht worden war, schon Johann Jacoby sei zu rigoros und doktrinär, zum Sozialdemokraten wurde, sagt wohl einiges über die politischen Zustände in der von Seils tendenziell romantisierten „untergegangene[n] Welt Ostpreußens“ (S. 21) aus.

Nun mag man diese Eigenschaften (je nach der jeweiligen Konstellation) für begrüßenswert halten oder auch nicht, die Art von klar umrissenem, markantem und eingängigem Profil, das einzelne Persönlichkeiten in der historischen Rückschau als bedeutsam herausragen lässt, ergeben sie jedenfalls nicht. Wie Seils in großer Ausführlichkeit schildert, war Haase ein engagierter und mutiger politischer Anwalt, ein wackerer Wahlkämpfer, auch angesichts schärfster Konflikte bis zum Äußersten um Ausgleich bemüht und wohl rundum ein anständiger Mensch. Haases Spezialität waren die Mühen der Ebene. Dass denen erhebliche Bedeutung und eine eigene Würde zukommt, wird wohl niemand bestreiten wollen, dem Biografen erschweren sie das Handwerk aber ungemein.

Seils beweist ein enormes Geschick darin, spezifische Hergänge und Verfahrensweisen wirklich genau und aufschlussreich darzustellen. Mir ist bei der Lektüre nochmal aufgefallen, wie oft wir beispielsweise dazu neigen, uns auf Parolen, Zitate aus Reichstagsreden oder knappe Formeln über den Hergang einer Fraktionssitzung zu verlassen, ohne den Kontext und die Hintergründe wirklich genau zu kennen. Nun kann man sich fragen, ob man darüber wirklich immer im Einzelnen Bescheid wissen muss, doch trägt dieses Wissen zur Vertiefung des allgemeinen Verständnisses zweifelsfrei bei. Und wenn man es einmal wirklich genau wissen will, erklärt Seils einem diese Dinge auf vorbildliche und wirklich eingängige Weise.

Allerdings hat offenbar auch wirklich alles, was Seils nur irgendwie auftreiben konnte, tatsächlich in das Buch Eingang gefunden. So überschattet der Kontext den eigentlichen Gegenstand der Biografie mitunter über Gebühr, nicht zuletzt, weil Seils wiederholt extensive Passagen aus seinen eigenen früheren Werken offenbar wortgleich in die Biografie eingearbeitet hat. Die Quellenlage ist in Haases Fall vergleichsweise ungünstig, was offenbar durch das ungeheuer ausführliche Zitieren der noch vorhandenen Zeugnisse überdeckt werden soll. Doch stellt sich dabei immer wieder die Frage, ob es nicht wesentlich sinnvoller gewesen wäre, die Darstellung deutlich zu komprimieren, dafür aber die so ausführlich zitierten Texte vollständig in einem Anhang zu veröffentlichen (zumal Seils nach eigenem Bekunden immer wieder Kürzungen vornimmt, ohne diese anzuzeigen).

Damit nicht genug, hat Seils auch versucht, all das in die Biografie einzubringen, was er nicht gefunden hat. Am nachteiligsten wirkt sich dies bei seiner Behandlung der Tatsache aus, dass Haase Jude war. Da ich vermutlich auch aus diesem Grund mit dieser Besprechung betraut wurde, möchte ich mich hierzu etwas ausführlicher äußern. Immerhin meinten Autor und/oder Verlag, sogar im Titel des Buchs vermerken zu sollen, dass Haase „ein jüdischer Sozialdemokrat“ gewesen sei.

Was es zu dem Thema tatsächlich zu sagen gibt, lässt sich problemlos wie folgt zusammenfassen: Haase entstammte einer jüdischen Familie. Darüber, in welchem Maße ihr Judentum das Leben der Familie und damit seine Kindheit und Jugend prägte, wissen wir so gut wie nichts. Im Leben des erwachsenen Hugo Haase spielte seine jüdische Herkunft nur insofern eine eindeutig nachvollziehbare Rolle, als er sich immer wieder antisemitischen Anwürfen gegenübersah, auf die er manchmal reagierte, meist aber nicht. Ließe man den Antisemitismus beiseite, wäre Haase in etwa dem gleichen Maße ein „jüdischer Sozialdemokrat“ wie Karl Liebknecht ein „evangelischer Sozialdemokrat“ war. (Liebknecht mag insofern ein guter Vergleichsfall sein, als ihm, teils bis heute, immer wieder nachgesagt wurde bzw. wird, er sei Jude gewesen).

Damit will Seils sich aber keineswegs begnügen. Zugegeben, so Seils, „in seinen Reden und Briefen äußert [Haase] sich nicht über den jüdischen Glauben, auch begründet er sein Verhalten nirgends mit bestimmten Glaubenssätzen oder sittlichen Leitvorstellungen der Religion“, doch „durch die Übernahme elterlicher Ideale, eine gelungene Identifikation mit ihnen, bildeten jüdischer Glaube und jüdisches Denken die Fundamente seiner Identität“ (S. 51). „Jüdische Religiosität und das politische Denken der Aufklärung“, heißt es einige Seiten weiter, „hatten ihn tief geprägt“ (S. 65). Wie die Zitate zeigen, behandelt Seils das Judentum ausschließlich als Religion bzw., um genauer zu sein, als „Glaube“, als gehe es in der jüdischen Religion primär nicht um Orthopraxie, sondern um Orthodoxie, und als könne man auch im frühen 20. Jahrhundert den Gegensatz zwischen Juden und Nichtjuden noch primär religiös fassen. So gehören bei ihm auch Sozialdemokraten, die seit Jahrzehnten nicht mehr der jüdischen Gemeinde angehören, nach wie vor zur „jüdischen Glaubensgemeinschaft“ bzw. zur „mosaischen Religionsgemeinschaft“.

Da es also (mit einer Ausnahme) in dieser Hinsicht (wie in manch anderer) keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt, „ist man“, so Seils, „darauf angewiesen, vor allem die Umwelt, in der Haase lebte, zu beschreiben, und daraus bestimmte Schlüsse zu ziehen“ (S. 21). In diesem Sinne verlässt Seils sich zur Erhärtung seiner kühnen Behauptungen bezüglich der Zentralität des „jüdischen Glaubens“ für Haase auf einen Zirkelschluss, wie er offensichtlicher kaum sein könnte. „In seiner Familie erlernte Hugo Haase, wie jedes Kind, den überwiegenden Anteil der Lebenseinstellung und Wertorientierung, welche für sein späteres Leben kennzeichnend war“, behauptet Seils. Gerade aus der Feder eines Autors, dessen Eltern nicht nur überhaupt der Nazigeneration angehörten, sondern dessen Vater (wofür Seils selbstverständlich in keiner Weise verantwortlich ist) nicht nur 1935 als Pfarrer kurzzeitig als Leiter der Deutschen Christen in Pommern fungierte, sondern sich noch im Sommer 1944 als Superintendent einem Leitungsgremium des um einen „Ausgleich“ zwischen der Bekennenden Kirche und dem nationalsozialistischen Regime bemühten Wittenberger Kreises anschloss, scheint mir das eine bemerkenswerte Feststellung zu sein, die nahelegt, dass sie in Wirklichkeit kaum mehr als eine nicht durchdachte methodologische Schutzbehauptung darstellt.1 Ihm selbst jedenfalls dürfte ja wohl kaum an der Wiege gesungen worden sein, dass er dereinst Hugo Haase anpreisen würde. Aus der Behauptung, „jedes Kind“ sei das intendierte Ergebnis seiner Erziehung, folgert Seils, demnach ließen „Charakterzüge, die in [Haases] Persönlichkeitsbild als gereifter Mann hervortraten, Rückschlüsse auf die Erziehung durch seine Eltern zu“ (S. 45). Konkrete Beweise oder Anhaltspunkte für diese an sich schon fragwürdige Behauptung gibt es keine.

Die zuvor erwähnte Ausnahme betrifft die Eheschließung zwischen Hugo Haase und der ebenfalls jüdischen Thea Lichtenstein. Zum Entsetzen der Eltern Haase wollte das junge Paar nur standesamtlich und nicht „nach dem Ritual der jüdischen Glaubensgemeinschaft“ heiraten. Der Konflikt sei schließlich dadurch beigelegt worden, „dass Hugo Haase einen Vetter, der Kantor im jüdischen Tempel war, veranlasste, ohne Talar in einer Festrede mit allgemein menschlichem Inhalt die Ehe zu weihen“ (S. 48). Später berichtet Seils erneut von diesen Ereignissen und behauptet diesmal, die Festrede sei „religiösen Inhalts“ gewesen (S. 124). Derlei Auseinandersetzungen waren in der Generation Haases keine Seltenheit. Sie zeugen gewiss davon, dass die Elterngeneration traditionsbewusster war als die ihrer Kinder. Mehr allerdings auch nicht, und Genaueres lässt sich nur von Fall zu Fall anhand zusätzlicher Quellen ermitteln.

Seils ergeht sich jedoch anhand dieses einen konkreten Anhaltspunkts in einer ganzen Reihe weiterer Spekulationen. „Aus dieser Begebenheit“, meint Seils, „wird klar, welche Bedeutung die jüdische Religion für Pauline und Nathan Haase besaß“, denn „in ihrem Verhalten weisen sie sich als Vertreter des orthodoxen Judentums aus. Also erzogen sie ihre Kinder nach den Grundsätzen, die für streng gläubige Juden überall in Mitteleuropa galten“ (S. 49). (Königsberg liegt in „Mitteleuropa“?) Und schon können wir uns anhand einer knappen, ziemlich obskuren Überblicksdarstellung aus dem Jahr 1974 erschließen, wie es bei den Eltern Haase zu Hause zuging. „Schlüsselerlebnisse“, die sich in den „Erinnerungsbüchern frommer Juden“ finden, so Seils weiter, „machen es möglich, sich vorzustellen, in welchen Formen auch in der Familie Haase jüdische Erziehung vonstattengegangen sein mag“ (S. 50) – wobei „sein mag“ wohl die entscheidende Formulierung ist.

Nun räumt auch Seils ein, dass die gängige bürgerliche Erziehung im Kaiserreich eher auf Anpassung und Autoritätshörigkeit ausgerichtet war, postuliert aber, bei Haases „dürfte“ das anders gewesen sein. Warum? Seils bemüht sich an dieser Stelle nicht einmal mehr um eine Begründung, obwohl er die kühne Behauptung aufstellt, „die Gehorsams-erziehung in Deutschland“, womit er meint: unter deutschen Juden, sei „nicht so unerbittlich“ gewesen, „wie sie im osteuropäischen Judentum in Erscheinung trat“ (S. 49). (Königsberg liegt nicht in Osteuropa?) Außerdem sei „das orthodoxe Judentum in Deutschland [...] nicht darauf bedacht“ gewesen, „ihre Kinder ausschließlich im jüdischen Sinne zu erziehen“, was auch immer das heißen mag (S. 49).

Warum bloß strampelt Seils sich dermaßen ab, um Haases jüdischer Herkunft eine so zentrale Rolle zuzuschreiben (der in seiner eigentlichen Darstellung ohnehin nichts entspricht)? Anders als mit jener Art wohlmeinender Wiedergutmachungshuberei, die Gershom Scholem einst als „Blasphemie“ bezeichnete, ist dieses Vorgehen wohl kaum zu erklären. Dass die Früchte der seit den 1990er-Jahren in Deutschland ernsthaft Fuß fassenden Jüdischen Studien hierzulande von manchen Historikerinnen und Historikern, die nicht selbst vom Fach sind, nach und nach auf überzeugende Weise aufgegriffen worden sind bzw. werden, steht außer Frage. Doch illustriert Seils‘ Biografie Haases nicht zuletzt, dass in dieser Hinsicht noch ein weiter Weg vor uns liegt.

Anmerkung:
1 Karl-Heinz Fix / Carsten Nicolaisen / Ruth Pabst (Hrsg.), Handbuch der deutschen evangelischen Kirchen 1918 bis 1949. Organe – Ämter – Personen, Bd. 2: Landes- und Provinzialkirchen, Göttingen 2017, 425f., 429.

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