Title
Das unsichtbare Vorurteil. Antisemitismusdiskurse in der US-amerikanischen Linken nach 9/11


Editor(s)
Arnold, Sina
Published
Extent
487 S.
Price
€ 38,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Richard Rohrmoser, Historisches Institut, Universität Mannheim

„Google: Jewish Billionaires”, „Humanity vs. the Rothschilds” oder „Its Yom Kippur – banks should atone” – diese Slogans standen auf Plakaten der Occupy Wall Street-Bewegung im New Yorker Zuccotti-Park im Jahre 2011 und mischten den Protesten gegen den Finanzkapitalismus eindeutig antisemitische Ressentiments bei.1 Diese Vorfälle machten ferner evident, dass auch in den USA ein polarisierendes Verhältnis zwischen linken Bewegungen und Antisemitismus existiert, dessen weitere historische Aufarbeitung und politische Analyse ein Desiderat sowohl der Antisemitismus- als auch der sozialen Bewegungsforschung darstellt. In ihrer 2016 veröffentlichten Dissertationsschrift beschäftigt sich Sina Arnold mit dem Konnex zwischen linksalternativem Spektrum und Antisemitismus. Dieser erreichte in den Vereinigten Staaten am Beginn des 21. Jahrhunderts – im Zuge von 9/11, antimuslimischem Rassismus, dem „Krieg gegen den Terror“ und der Finanzkrise – einen neuen Höhepunkt und firmiert seitdem unter der Bezeichnung „Neuer Antisemitismus“ in der Antisemitismusforschung.

Durch die scharfsinnige Analyse von 30 qualitativen Interviews mit Aktivist/innen aus der Antikriegs-, der Occupy Wall Street-, der propalästinensischen- und der „israelkritischen jüdischen Diaspora-Bewegung“ sowie der Auswertung von zwölf Expert/innen-Gesprächen kommt Arnold zu der Schlussfolgerung, dass einerseits manifeste antisemitische Stereotype zwar nicht repräsentativ für die gegenwärtige US-amerikanische Linke sind; andererseits konstatiert sie unmissverständlich, dass linke Bewegungen die vereinzelten offenkundig antisemitischen Ressentiments aus den eigenen Reihen oftmals trivialisieren – ein Phänomen, das Antisemitismusforscher/innen als „antisemitische Indifferenz“ (S. 137) bezeichnen. Die methodisch anspruchsvolle und in gendersensibler Sprache verfasste Studie besticht allerdings nicht nur durch eine differenzierte Interpretation der Interviews, sondern auch durch ihre durchdachte Struktur, die verständliche Erklärung theoretischer Konzepte und die verdichtete Darstellung der jeweils relevanten historisch-politischen Kontexte.

Der erste Teil der Arbeit widmet sich eben diesen theoretischen und historischen Hintergründen. Zunächst stellt Arnold konzise Definitionen von Begrifflichkeiten wie Antisemitismus, Antizionismus und (legitimer) Kritik an der israelischen Politik auf, wobei sie für die fluiden Grenzen dieser Konzepte sensibilisiert und dazu auch das aus dem Jahre 1969 stammende Zitat des Schriftstellers Jean Améry aufführt, wonach der Antisemitismus im Antizionismus enthalten sei „wie das Gewitter in der Wolke“ (S. 36). Anschließend stellt sie in einem kompakten historischen Überblick die antisemitischen Kontinuitätslinien in den Vereinigten Staaten dar, bevor sie den Fokus weiter auf die Geschichte von Antisemitismusdiskursen in der amerikanischen Linken richtet, die sie in vier Zeitabschnitte untergliedert: Die erste Periode antisemitischer Ressentiments von links währte dieser Kategorisierung zufolge vom 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg und manifestierte sich bei der als Populists bekannt gewordenen Bewegung primär in „religiöse Bilder, Verschwörungstheorien und Vorstellungen von jüdischer Finanzmacht“ (S. 94). Eine zweite Phase vom frühen 20. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg war geprägt von den zahlreichen stalinistischen, leninistischen und trotzkistischen Parteien innerhalb der sogenannten Old Left, die den Zionismus „als falsche, die Arbeiter*innenklasse spaltende Lösung der ‚jüdischen Frage‘“ verurteilte, „die im Nahen Osten für Konflikte sorgen und das Selbstbestimmungsrecht der arabischen Bevölkerung negieren würde“ (S. 104f.). Drittens entfaltete sich nach dem Holocaust die bis dato größte linke Bewegung in den USA, die sogenannte New Left, deren zentrale politische Leitgedanken Antiamerikanismus und Antiimperialismus waren, weshalb Israel insbesondere nach dem raschen und klaren Sieg im Sechstagekrieg von 1967 als ein „eng mit dem amerikanischen ‚Establishment‘ assoziierte[r] Aggressor“ (S. 116) angefeindet und Zionismus fortan als eine Spielart des Rassismus begriffen wurde. Nachdem sich die Linke im Verlauf der Präsidentschaft Ronald Reagans und des damit verbundenen gesellschaftlichen Rechtsrucks weitgehend in akademische Diskurse flüchtete, sollte es bis in die frühen 2000er-Jahre dauern, bis eine US-amerikanische linke Bewegung wieder zögerlich aufkeimte. Diese neue Generation von Aktivist/innen zeichnete sich allem voran durch eine radikale Globalisierungskritik aus, wurde aber im Zuge der nationalen Sicherheitsdiskurse nach den Terroranschlägen vom 11. September von Beginn an von Repressionen flankiert.

In der zweiten Hälfte ihrer Arbeit setzt sich Arnold dezidiert mit der vierten Phase US-amerikanischer Antisemitismusdiskurse von links – nach 9/11 respektive Zweiter Intifada – auseinander und versucht durch die Darstellung empirischer Befunde deren Ermöglichungsbedingungen auf drei Ebenen zu erklären. Erstens erläutert sie, dass makro-perspektivisch betrachtet in der amerikanischen Gesellschaft eine Mentalität von Religionsfreiheit und Pluralismus dominiere, „die dem Antisemitismus immer Legitimationsprobleme verschaffen sollte“ und dazu führe, „dass Antisemitismus kein Teil staatlicher Politik wurde“ (S. 422). Trotz dieser Unvereinbarkeit offener antisemitischer Anfeindungen mit dem amerikanischen Selbstverständnis von ethnisch-religiöser Diversität kommt Arnold zweitens zu der Erkenntnis, dass auf der Mesoebene – also in der grundsätzlichen Gesinnungsethik linker Bewegungen – Antisemitismus jedoch als ein „unsichtbares Vorurteil“ (S. 428) virulent geworden sei. Den Ursprung dieser Problematik verortet Arnold in den linken akademischen Diskursen der 1980er- und 1990er-Jahre, als im Kontext der Critical Race Studies das Merkmal des „weißen Privilegs“ zum wesentlichen Analysekriterium wurde, weshalb Jüdinnen und Juden als a priori mit Sonderrechten ausgestattet wahrgenommen und deshalb zum Feindbild linker Aktivist/innen wurden.

Auf der Mikroebene fördert Arnold anhand der qualitativen Interviews mit jüdischen Gesprächspartner/innen aus linksalternativen Bewegungen die aufschlussreichsten Ergebnisse zu Tage, nämlich dass die amerikanisch-jüdische Gemeinschaft aufgrund aktueller Debatten über jüdische Identität derzeit eine veritable Krise erfährt. Vor allem die sich selbst als progressiv definierenden Jüdinnen und Juden befinden sich in einem widersprüchlichen Spannungsverhältnis zwischen unbedingter Israelsolidarität einerseits, und dem Gefühl der sukzessiven Entfremdung von der rechts-religiösen Regierung Netanjahu andererseits. Die in den Vereinigten Staaten lebenden liberalen Jüdinnen und Juden artikulieren dabei insbesondere Kritik an jüdischen Lobbyorganisationen, denen sie vorwerfen, den Begriff Antisemitismus strategisch zu verwenden, um dadurch „eine Binnensolidarität innerhalb der amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft zu schaffen“ (S. 434). Gleichwohl verweist Arnold jedoch auf die Krux, dass linke Jüdinnen und Juden infolge der unzureichenden Sensibilisierung für Antisemitismus in der US-amerikanischen Linken durch die Artikulation ebendieser Kritik zum Beispiel für die Reproduktion des Stereotyps einer exorbitanten jüdischen Macht in ähnlicher Weise für antisemitische Zwecke instrumentalisiert werden können.

Abschließend veranschaulicht Arnold den konstatierten problematischen Umgang linker Bewegungen mit antisemitischen Vorwürfen noch konkret am Fallbeispiel Occupy Wall Street und resümiert damit einen neuralgischen Punkt des linksalternativen Spektrums: Das meinungspluralistische Selbstverständnis linker Bewegungen bildet ipso facto ein Einfallstor für offen antisemitische Ressentiments einzelner Personen. Anstatt diese Diskriminierungen selbstreflexiv zu thematisieren – Gegenmaßnahmen erfolgen ebenfalls mehrheitlich lediglich durch Einzelpersonen –, sind jedoch für linke Bewegungen Trivialisierung und Tabuisierung dieser Anschuldigungen charakteristisch. Im US-amerikanischen Kontext hat Antisemitismus deshalb bis dato noch keinen Eingang in den Kanon relevanter linker Topoi wie zum Beispiel Rassismus, Sexismus oder Homophobie gefunden – Missstände, die linke Aktivist/innen im Gegensatz zur Judenfeindlichkeit in der Regel mit Verve kritisieren.

Auch wenn der Fragenkatalog der Leitfadeninterviews leider nur kursorisch und fragmentarisch Erwähnung findet, veranschaulicht Arnold durch eine nuancierte Analyse der Gespräche stichhaltig, dass die in der US-Linken grassierenden antisemitischen Versatzstücke in ihrer Gesamtheit „weniger Ausdruck antisemitischer Haltungen, sondern vielmehr versäumter Diskussions- und Lernprozesse, mangelnder theoretischer Auseinandersetzungen und politischer Strategien“ (S. 447) sind. Ob sich daraus postwendend das Fazit ziehen lässt, dass sich Antirassismus und Antizionismus „nicht als veritable Umwegkommunikationen […], d.h. als codierte Formen, um Antisemitismus zu kommunizieren oder zu legitimieren“ (S. 443), erweisen, ist sicherlich diskutabel und liefert Anreize für weitere wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dieser Thematik. In jedem Fall liefert Arnold mit ihrer Dissertationsschrift einen substantiellen und wertvollen Beitrag zur Erforschung der problematischen Beziehung zwischen linksalternativen Bewegungen und Antisemitismus.

Anmerkung:
1 Vgl. Lena Gorelik, „Man wird doch noch mal sagen dürfen…“. Antisemitismus in Hoch- und Populärkultur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 28–30 (2014), http://www.bpb.de/apuz/187410/antisemitismus-in-hoch-und-populaerkultur?p=all (01.02.2017).

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