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Titel
Unerwartete Absichten – Genealogie des Reuchlinkonflikts.


Autor(en)
de Boer, Jan-Hendryk
Reihe
Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 94
Erschienen
Tübingen 2016: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
IX, 1362 S.
Preis
€ 189,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Dall'Asta, Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Melanchthon-Forschungsstelle, Heidelberg

Der jüdische Historiker Salo W. Baron hat den frühneuzeitlichen Reuchlinstreit schon 1969 zutreffend als eine „thrice-told story“ bezeichnet. 1 Seither kamen – neben der umfassenden neuen, theologisch akzentuierten Reuchlin-Biographie von Franz Posset 2 – noch etliche weitere Darstellungen dieses vielschichtigen historischen Ereigniszusammenhangs hinzu, darunter am eindrücklichsten die 2011 erschienene Monographie von David Price. 3 Der von Erasmus von Rotterdam 1515 als „Phönix und einzigartige Zierde Deutschlands“ bezeichnete Humanist Johannes Reuchlin (1455–1522) und die mit seinem Namen verknüpfte Auseinandersetzung um die Bücher der Juden (ca. 1510–1520) waren seit jeher Gegenstand vielfältiger Forschungsinteressen seitens unterschiedlicher Disziplinen, namentlich der Geschichtswissenschaften, Theologie, Philosophie, Germanistik, Klassischen Philologie, Hebraistik und Judaistik. Diese Forschungsarbeiten in ihrer ganzen Breite zu überblicken und zu bündeln bildet bereits eine gewaltige Herausforderung; dies aber zusätzlich noch mit einer eingehenden Sichtung des reichen theoretischen und methodischen Arsenals der modernen Philosophie, Kommunikationswissenschaft und Historiographie zu verbinden, und dann am Beispiel des Reuchlinkonflikts die Möglichkeiten einer zeitgemäßen Ideengeschichte kritisch zu erproben, erscheint geradezu als eine Herkulesaufgabe. Jan-Hendryk de Boer hat sich dieses Herculei laboris im Rahmen seiner im Wintersemester 2013/14 eingereichten Göttinger Dissertation angenommen – und die Aufgabe mit Bravour gemeistert. Herausgekommen ist dabei naturgemäß kein schmales Buch nach dem Geschmack des Kallimachos, sondern ein wuchtiger Wälzer, dessen rund 1200 Textseiten aber glänzend geschrieben und sorgfältig komponiert sind. Die große intellektuelle Reise mit garantierter Horizonterweiterung wird dem aufmerksamen Leser mit literarischen Streifzügen, poetischen Bildern und feinem Humor versüßt; als gleichsam roter Faden durchs Labyrinth bzw. als „gelegentlicher Kontingenzmarker“ (S. 32) dienen Erzähltexte von Jose Luis Borges.

Auf die Einleitung („Kapitel 1. Das Goldene Zeitalter. Historie im Gefängnis“, S. 1–34) und einen Forschungsbericht mit anschließenden methodologischen Erörterungen („Kapitel 2. Rückblicke und Ausblicke. Ein Bilderrätsel“, S. 35–146) folgt der Hauptteil des Buches, der in zwei Großkapitel gegliedert ist: „Kapitel 3. Vom Gutachterstreit zum Gelehrtenkonflikt. Bewegungen im Möglichkeitsraum“ (S. 147–551) und „Kapitel 4. Integration und Desintegration. Der Flug des Phönix“ (S. 552–1173); eine zusammenfassende Reflexion bildet den Abschluss („Kapitel 5. Möglichkeiten ermöglichen. Der Gelehrtenkonflikt und das Auge Gottes“, S. 1174–1192). Der beim ersten Blick in das Inhaltsverzeichnis zunächst etwas kryptisch anmutende Aufbau der mitunter „kriminalistische[n] Untersuchung“ (S. 33) wird dem Leser am Ende der Einleitung (S. 33f.) näher erläutert; im resümierenden Schlusskapitel (S. 1183–1192) wird zudem in den Fußnoten auf die diversen Unterkapitel des Hauptteils (3.1.1 bis 4.3.4) rückverwiesen, dessen beide Kapitel mit ihren historischen Analysen und jeweils eingeschalteten Theorieteilen auch ihrerseits mit zwei gesonderten „Rekapitulationen“ (3.5, S. 537–551, und 4.4, S. 1163–1173) versehen sind.

Das Quellen- und Literaturverzeichnis auf 133 eng bedruckten Seiten (S. 1193–1325) ist bis hin zu teilweise entlegenen Einzeluntersuchungen von beeindruckender Vollständigkeit, zeugt von stupender Belesenheit und bildet auch für den mit der Thematik vertrauten Spezialisten eine wahre Fundgrube. Der abschließende Registerteil umfasst neben einem Verzeichnis der Bibel- und Rechtsstellen (S. 1327f.) und dem Ortsregister (S. 1357–1362) ein umfangreiches Register der vor 1800 geborenen Personen (S. 1329–1356), denen neben ihren Lebensdaten jeweils auch eine Kurzcharakteristik („Rabbiner“, „Humanist, Prior im Kloster Lauingen“, „Kanonist“, „Drucker“ u. dgl.) beigegeben ist. Dabei werden auch die vor 1800 entstandenen Werke dieser Personen (mit Ausnahme der Briefe und Gedichte) verzeichnet.

Das Buch zeichnet sich bei aller „theoriegeleiteten Systematisierung“ (S. 824) und einer spürbaren Passion für philosophische Begriffsbildungen durch eine ausgesprochene Quellennähe, Leserfreundlichkeit und terminologische Schärfe aus. Im Rahmen der historischen Analysen wird eine Vielzahl von (zumeist lateinischen) Quellen zum Sprechen gebracht, wobei wörtliche Übersetzungen im Haupttext stehen, der jeweilige Originalwortlaut dagegen in der Fußnote präsentiert wird; nur im Zusammenhang der ausführlichen Behandlung der ‚Epistolae obscurorum virorum‘ wird dieses Verfahren aus guten Gründen gelegentlich (S. 1040–1075) umgekehrt. In den allermeisten Fällen stammen die Übersetzungen von de Boer selbst (vgl. S. 7, Anm. 12). Zu dem S. 17, Anm. 52 auszugsweise zitierten Brief des Erasmus an Reuchlin hätte noch – wie sonst im gesamten Buch – auf die Nummer der neuen Ausgabe von Reuchlins Briefwechsel 4 verwiesen werden können; außer solchen ganz vereinzelten Petitessen lässt die Dokumentation in den Fußnoten keine Wünsche offen. Dass Reuchlin nicht Melanchthons „Onkel“ war (so S. 15), weiß de Boer selbst (vgl. S. 6, Anm. 11 und S. 8); dass Melanchthons Gedächtnisrede auf Reuchlin in das Jahr 1551 (so S. 7) statt wie überall sonst auf 1552 datiert wird und Lukrez einmal als „(anrüchige[r]) Grieche“ bezeichnet wird (S. 789), sind wohl nur – seltene! – Versehen.

Die vertrauten Meistererzählungen des Reuchlinkonflikts, den de Boer als Konflikt und nicht – wie bisher meist üblich – als Streit bezeichnet, weil die Parteien ab 1513/14 gar nicht mehr an einer Verständigung interessiert gewesen seien, werden in mehrschichtigen Analysen so eindrücklich hinterfragt und auseinandergenommen, dass es dem Rezensenten nicht ganz leichtfällt, den eigentlich gut bekannten, aber eben komplexen Zusammenhang nun neuerlich verknappt zu narrativieren. Die Quintessenz von de Boers genealogischer Rekonstruktion des Konflikts lässt sich aber etwa folgendermaßen beschreiben: Die rechtliche Frage, wie mit den Büchern der Juden (der rabbinischen Literatur im weitesten Sinne) zu verfahren sei, eskalierte infolge der Publikation von Reuchlins ‚Augenspiegel‘ (1511) und Reuchlins ‚Defensio‘ (1513 und 1514) von einem Gutachterstreit zu einer publizistischen Schlammschlacht. Im Wesentlichen wurde diese Eskalation durch drei Faktoren begünstigt: 1. durch die bereits in zwei „Vorgeschichten“, dem Prozess um Johann Rucherat von Wesel und dem Berner Jetzerhandel, beobachtbare Erosion institutioneller Mechanismen, 2. durch sich neu konstituierende Öffentlichkeiten, die mittels des Buchdrucks leichter zu mobilisieren waren, und 3. durch den Antagonismus, der zwischen den Vertretern eines „emphatischen“ Humanismus und der Scholastik schon länger schwelte. Reuchlin hatte bei diesen Humanisten Unterstützung gesucht und gefunden, wobei seine Anhänger Reuchlins Auseinandersetzung mit Pfefferkorn, Hoogstraeten und deren Parteigängern in ihrem Sinne instrumentalisierten. Die Vertreter der herrschenden Universitätstheologie – vor allem in Köln, Paris und Löwen – mussten im Rahmen des Reuchlinkonflikts erleben, wie ihre traditionelle Sprecherposition nicht zuletzt seitens der genuin humanistischen „Lachkultur“ in Frage gestellt wurde und ihre vertrauten Sanktionsinstrumente (Lehrverurteilungen und Zensur) zunehmend ins Leere liefen. Auf der Suche nach neuen Handlungsspielräumen bildeten sich im Kampf um Meinungsführerschaft und Hegemonie neue Bündnisse und Gegnerschaften aus, die von den einzelnen Akteuren nicht immer zu beherrschen waren. Den Frankfurter Juden wuchs in diesem Prozess zwischenzeitlich eine überraschende agency zu; insgesamt verfestigte sich der überkommene spätmittelalterliche Judenhass im Zuge des Konflikts aber zu einer „essentialisierend“ zugespitzten Judenfeindschaft, die nach und nach antisemitische Züge annahm (vgl. S. 1187). Die spezifischen Anliegen Reuchlins, sein Konzept einer mit dem Humanismus nur teilweise zu harmonisierenden christlichen Kabbala, gerieten dabei zunehmend aus dem Blick. Reuchlin wurde zunächst von den Humanisten, später dann auch von den Reformatoren derart vereinnahmt, dass seine geistige Physiognomie zu verschwinden begann und an ihre Stelle ein Monument gerückt wurde, das oft mehr Projektionsfläche als getreues Abbild war.

Eine dürre und notwendigerweise vergröbernde Zusammenfassung vermag von den ebenso ausführlichen wie bestechenden Einzelanalysen de Boers leider keinen rechten Eindruck zu vermitteln. Man kann dem Leser nur nachdrücklich raten: tolle, lege! Nicht allein die Philosophie eines Nikolaus von Kues und Giovanni Pico della Mirandola (S. 782–818) lässt sich dabei besser einordnen; der Leser kommt auch in den Genuss einer philosophischen und kommunikationstheoretischen Interpretation von Reuchlins beiden Komödien (S. 600–616), die ihresgleichen sucht.

Für eine eingehende Würdigung der theoretischen Teile des Buches ist diese Rezension nicht mehr der geeignete Ort – und dieser Rezensent nicht das geeignete Medium. Immerhin sei eine rein technische Bemerkung erlaubt: Die Beschränkung des Personenregisters auf vor 1800 geborene Personen dürften nicht wenige Leser bedauern, da sich infolge dieser Entscheidung zumal die Fülle der philosophischen Konzepte und Theorien im Grunde nur unvollständig nachvollziehen lässt; eine Studie von 1200 Seiten kann man ohne mehrfaches Nachschlagen nicht wirklich verdauen. Denn wo überall ist jeweils von Austin, Davidson, Derrida, Foucault, Gerber, Searle und all den anderen die Rede? Diese Frage stellt sich dem interessierten Leser umso mehr, als viele theoretische Erörterungen auch außerhalb der drei eigentlichen Theoriekapitel (2.2, 3.2 und 4.2) erfolgen, so z. B. die eher beiläufige Diskussion von Jurij Lotmans Konzept der „Semiosphäre“ (S. 1083–1085). Abhilfe geschaffen hätte hier eine Aufnahme (auch) aller nach 1800 geborenen Autorinnen und Autoren, deren besonderer Status im Personenregister hätte kenntlich gemacht werden können, etwa durch Abkürzung des jeweiligen Vornamens. 5 Nicht nur für rezeptions- oder wissenschaftsgeschichtliche Untersuchungen, sondern auch für eine Ideengeschichte erscheint eine derartige Ausweitung der Erschließung nicht ganz unangebracht. Der Wunsch nach solchen zusätzlichen Verweisen mag angesichts eines Buches von jetzt schon 1362 Seiten deplatziert und undankbar wirken; er entspringt aber nur der Sogwirkung, die von de Boers opus magnum ausgeht.

Anmerkungen:
1 Salo W. Baron, A Social and Religious History of the Jews, Bd. 13, New York 1969, S. 184.
2 Franz Posset, Johann Reuchlin (1455–1522). A Theological Biography, Berlin 2015.
3 David H. Price, Johannes Reuchlin and the Campaign to Destroy Jewish Books, Oxford 2011; vgl. meine Rez. in: Scientia Poetica 16 (2012), S. 211–218.
4 Johannes Reuchlin, Briefwechsel, bearb. von Matthias Dall’Asta / Gerald Dörner, Bd. 1 unter Mitwirkung von Stefan Rhein, 4 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1999–2013, hier Bd. 3, Nr. 246.
5 So bei Peter von der Osten-Sacken, Martin Luther und die Juden. Neu untersucht anhand von Anton Margarithas ‚Der gantz Jüdisch glaub‘ (1530/31), Stuttgart 2002, S. 345ff.