Der vierte Band der „Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917–1990“ befasst sich mit der Ära der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Herausgeber Werner Abelshauser stellt zunächst die wirtschaftspolitische Ausgangslage in Westeuropa nach 1945 vor und setzt sich mit dem unscharfen Begriff der Sozialen Marktwirtschaft auseinander. Versteht man Soziale Marktwirtschaft im Sinne ihrer Vordenker als staatlich garantierte Ordnung des Wettbewerbs, die bei gutem Funktionieren den Sozialstaat obsolet machen kann, dann blieb sie nicht nur bis Ende der 1950er-Jahre, als fast zehn Jahre nach der Währungs- und Preisreform von 1948/49 endlich ein Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen verabschiedet werden konnte, sondern dauerhaft ein Postulat, ein ordnungspolitischer Anspruch, der mit der wirtschaftlichen Wirklichkeit nicht unbedingt viel gemein haben musste. Doch der mit den wirtschaftlichen Erfolgen des „Wirtschaftswunders“ assoziierte Begriff der Sozialen Marktwirtschaft wurde von allen Bundesregierungen gern für ihre jeweils praktizierte Wirtschaftspolitik in Anspruch genommen. Bei aller Unschärfe sieht Abelshauser drei Besonderheiten des Modells der Sozialen Marktwirtschaft gegeben: erstens eine spezifische „Symbiose zwischen Markt und Staat“, um den Wettbewerb funktionsfähig zu machen; zweitens eine strategisch angelegte „Ordnungspolitik der sichtbaren Hand“, die dem Staat eine wichtige Rolle als „immateriellem Produktionsfaktor“ zukommen lasse, weil er produktivitätsfördernde Institutionen schaffe; und drittens die weitgehende Berücksichtigung der Anforderungen des „sozialen Systems der Produktion“ (S. 17). Zu den Leitfragen der Autoren zählen die nach den konkreten ordnungspolitischen Strategien des Bundeswirtschaftsministeriums zur Förderung „komparativer institutioneller Vorteile“ für die deutsche Wirtschaft auf den Märkten, nach möglichen „Lenkungslücken“ angesichts neuer Herausforderungen durch die europäische Integration und die zunehmende Globalisierung sowie nicht zuletzt nach den wirtschaftspolitischen Handlungsspielräumen in der wachsenden internationalen Verflechtung. Diese erkennbar von den Forschungsansätzen Abelshausers geprägten Fragen werden von den Beteiligten aber nicht systematisch bearbeitet.
Den Auftakt der Einzelbeiträge machen Werner Abelshauser und Christopher Kopper mit einer näheren Betrachtung der „Ordnungspolitik der sichtbaren Hand“ in exemplarisch ausgewählten, eher kursorisch behandelten Politikfeldern. Diese reichen von den „alten“ Industrien des Steinkohlenbergbaus, des Schiffbaus und der Textilbranche bis zu den „neuen“ Industrien der Luftfahrt, der Atomenergie und der elektronischen Datenverarbeitung. Sie arbeiten heraus, dass der Anspruch des Bundeswirtschaftsministeriums, als „Leitministerium“ der Bundesregierung einen allgemeinen ordnungspolitischen Rahmen zu setzen, aber nicht in die marktwirtschaftlichen Abläufe einzugreifen, kaum zu erfüllen war. Hierfür sehr wichtige Operationsfelder wurden dem Zugriff des Erhard’schen Ministeriums von Anfang an entzogen, etwa die Außenwirtschaftspolitik durch das Auswärtige Amt. Und auch auf den verbliebenen Operationsfeldern produzierte der ordnungspolitische Steuerungsansatz des Bundeswirtschaftsministeriums keineswegs nur Erfolge, sondern ebenso Misserfolge, die unmittelbare Eingriffe erforderlich machten. Je mehr Lenkungsaufgaben an die Wirtschaftsverbände abgegeben wurden, je mehr Kompetenzen schließlich auch an andere Ministerien verlorengingen, desto mehr verblasste der ursprünglich starke Nimbus des Bundeswirtschaftsministeriums, ein „Ordnungs- und Überzeugungsministerium“ – sprich: eine besonders innovative Denkfabrik – zu sein.
Mit der Entwicklung von Personal, Personalpolitik und Organisationsstrukturen des Bundeswirtschaftsministeriums befasst sich auf breiter Quellengrundlage Bernhard Löffler. Er zeichnet ein allgemeines Sozialprofil des personalstarken Ressorts, in dem 1963 – auf dem Höhepunkt der Expansion – rund 1.800 Personen beschäftigt waren, deren Zahl danach leicht rückläufig war, sich bis 1989 aber wieder der früheren Stärke annäherte. Mit Blick auf die Führungsebene, zu der Löffler in den Jahren 1949 bis 1990 insgesamt 160 Personen zählt, zeigt sich ein hoher Juristenanteil von rund 60 Prozent, während die Ökonomen nur rund 30 Prozent der Stellen besetzten. Nach 1945 kam es im Vergleich mit anderen Bundesbehörden zu einem relativ starken Personalwechsel, der Anteil früherer NSDAP-Mitglieder war allerdings trotzdem markant und lag gleichauf mit anderen Bundesministerien: Bei den Unterabteilungs- und Abteilungsleitern lag er von 1949 bis 1963 bei etwa 60 Prozent, von 1949 bis 1990 bei rund 40 Prozent. Das deutet auf eine gegenüber früheren NSDAP-Mitgliedern generöse Personalpolitik in den ersten Jahren und einen alters- und generationsbedingten Wandel in späteren Jahrzehnten hin, sagt aber nichts über die im Bundeswirtschaftsministerium konzipierte Politik aus, mit der sich Löffler auch nicht weiter beschäftigt – wohl ganz im Sinne einer pragmatischen Arbeitsteilung. Als Leser bedauert man das freilich, weil auch keiner der anderen Autoren an die Befunde etwa zu bestimmten „Abteilungskulturen“ oder „Karrieretypologien“ anknüpft. Löfflers Versuch, das Bundeswirtschaftsministerium im politisch-institutionellen Gefüge der Bundesrepublik zu verorten, fördert einige Konflikte über ressortpolitische Abgrenzungen zu Tage, von denen der mit dem Finanzministerium zu den aufschlussreichsten gehört. Konnte die Federführung für Grundsatzfragen im Bereich von „Geld und Kredit“, vor allem die Währungs- und Devisenpolitik, zunächst für die ordnungspolitische Rahmensetzung genutzt werden, so signalisierte die Abgabe des gesamten Bereichs „Geld und Kredit“ an das von Helmut Schmidt geführte Finanzministerium im Jahr 1972 den Bedeutungsverlust des ordnungspolitischen Anspruchs im ursprünglichen Sinne. Im Finanzministerium – wie in anderen Fachministerien – befand sich die Prozesssteuerung im Aufwind, aus der schließlich eine stark ernüchterte Regulierungs- bzw. Deregulierungspolitik hervorging.
Gerd Hardach lenkt den Blick auf das für den ordnungspolitischen Gestaltungsanspruch zentrale Gebiet der Wettbewerbspolitik. Von den ordoliberalen Vordenkern der Sozialen Marktwirtschaft wurde ihr die Aufgabe zugewiesen, durch die Gewährleistung des freien, marktwirtschaftlichen Wettbewerbs nicht nur für Produktivität und Innovation zu sorgen, sondern auch für eine leistungsgerechte Einkommensverteilung, die bestenfalls sogar sozialpolitische Nachsteuerungen obsolet machen könnte. Hardach beleuchtet die Entstehung des hochgradig umstrittenen Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, das bekanntlich ein prinzipielles Kartellverbot, gleichzeitig aber zahlreiche „Ausnahmenbereiche“ festlegte. Zudem skizziert er den Wandel der bundesdeutschen Wettbewerbspolitik bis in die 1980er-Jahre hinein, für die eine ständige Neuabgrenzung dieser Ausnahmebereiche charakteristisch wurde, während zugleich die Fusionskontrolle stärkeres Gewicht erlangte. Ein Abschnitt zur Wettbewerbspolitik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und ein Ausblick auf die Wettbewerbspolitik im vereinten Deutschland runden den ebenso kompakten wie soliden Beitrag ab. Inwiefern es dem Bundeswirtschaftsministerium gelang, der deutschen Wirtschaft durch eine strategisch angelegte „Ordnungspolitik der sichtbaren Hand“ tatsächlich bestimmte „komparative institutionelle Vorteile“ auf den nationalen und internationalen Märkten zu verschaffen, wird als Fragestellung leider nicht aufgegriffen.
Albrecht Ritschl versucht sich an einem Gesamtabriss zur „Sozialen Marktwirtschaft in der Praxis“. Mit dem Anspruch einer pars pro toto-Betrachtung rückt er die „Mittelstandspolitik“ ins Zentrum, die sich von einer gesellschaftspolitisch für wichtig erachteten, letztlich wohl vor allem klientelorientierten Standespolitik immer mehr zu einer wettbewerbspolitisch eingebetteten Strukturpolitik mit dem Ziel der Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen wandelte. Ritschl zeigt am Beispiel der Mittelstandspolitik wie sich der ursprüngliche ordnungspolitische Gestaltungsanspruch zur Durchsetzung von Berufs- und Gewerbefreiheit, konfrontiert mit dem starken Beharren auf Bestands- und Konkurrenzschutz, bereits unter Erhards Nachfolger Kurt Schmücker zu einem stärker intervenierenden, prozessbezogenen Steuerungsanspruch verwandelte, der schließlich mit den „Leitsätzen der Strukturpolitik“ der sozialliberalen Regierung kodifiziert wurde. Eingriffe zur Konservierung bestehender Strukturen wurden darin abgelehnt, Eingriffe zur Förderung der Anpassungsgeschwindigkeit an den wirtschaftlich-technologischen Wandel begrüßt. Für zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen, die zunehmend als rückständig wahrgenommen wurden, erhöhte das den Zwang zur Konzentration. Erst in den 1980er-Jahren begann sich diese Wahrnehmung allmählich wieder zu ändern, weil man das Anpassungspotenzial erkannte, das gerade im Vorhandensein und in der Neugründung kleiner und mittlerer Unternehmen lag. Ritschl macht es seinen Lesern allerdings nicht leicht, immer einen klaren roten Faden der Argumentation in seinem mehr als 120 Seiten langen Beitrag zu erkennen, der auch andere Themen – zum Beispiel die Bedürfnisprüfung in der Kreditwirtschaft, den Streit über die Bankenaufsicht und die Unabhängigkeit der Bundesbank – mit behandelt. Wenn man einzelne, nahezu wortgleiche Sätze gar zweimal auf verschiedenen Seiten liest (S. 321 und 323), kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dem Autor selbst sei zwischendrin der Überblick abhandengekommen.
Von Ludwig Erhard bis Helmut Schmidt haben fast alle Bundeswirtschaftsminister die wissenschaftliche Fundierung ihrer politischen Konzepte herausgestellt, um deren Legitimität zu unterstreichen und ihre eigene Unabhängigkeit von klientelorientierter Interessenpolitik zu betonen. Doch welchen Einfluss entfaltete die wissenschaftliche Beratung tatsächlich? Jan-Otmar Hesse bearbeitet und beantwortet diese Frage mit einer quellenfundierten Analyse der Aufgabenstellung, personellen Besetzung und praktischen Beratungstätigkeit verschiedener Einrichtungen: des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium, der wichtigsten außeruniversitären Konjunktur- und Wirtschaftsforschungsinstitute sowie des erst 1964 zusätzlich ins Leben gerufenen Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Als konkrete Untersuchungsfelder dienen Hesse die Wettbewerbspolitik sowie die Geld- und Währungspolitik. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der tatsächliche Einfluss wirtschaftswissenschaftlicher Expertise durch die genannten Einrichtungen erheblich geringer war, als bisher angenommen. Lediglich die Wirtschaftsforschungsinstitute, die mit ihren statistischen Erhebungen die empirischen Grundlagen für wirtschaftspolitische Entscheidungen zu verbessern versprachen, konnten ihre Position beständig weiter ausbauen. Aber halfen sie der Wirtschaftspolitik tatsächlich, der deutschen Wirtschaft „komparative institutionelle Vorteile“ auf den Märkten zu verschaffen? Das bleibt offen – und muss es wohl auch bleiben.
Inhaltlich abgeschlossen wird der Band mit einem Beitrag Werner Abelshausers über die spannungsreiche Ausrichtung der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik auf die europäische Integration einerseits, die Weltmärkte andererseits. Während erstere von der amerikanischen Besatzungs- und Deutschlandpolitik in Gang gesetzt wurde, um Westeuropa in dem 1947 heraufziehenden Kalten Krieg gegenüber der Sowjetunion zu stärken, stand für den späteren Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard von Anfang an die Rückkehr Deutschlands auf die Weltmärkte im Zentrum des Interesses. Infolge der von Bundeskanzler Konrad Adenauer durchgesetzten Verlagerung aller wichtigen außenwirtschaftlichen Kompetenzen in das Auswärtige Amt konzentrierte sich das Bundeswirtschaftsministerium darauf, die deutsche Wirtschaft mit binnenwirtschaftlichen Mitteln auf den in- und ausländischen Märkten zu unterstützen. Doch im Bundeskabinett gewann bekanntlich das Ziel der europäischen Integration die Oberhand. Die Ausweichstrategie des Bundeswirtschaftsministeriums bestand darin, so die These Abelshausers, die Verbindungen der deutschen Wirtschaft zu den aufstrebenden Entwicklungsländern zu stärken, was zu deren wachsendem Gewicht für den deutschen Export in den 1980er-Jahren beigetragen habe. Der Blick des Beitrags bleibt jedoch auf die europäische Integration und den langen Weg zur Europäischen Währungsunion konzentriert, ohne dass immer klar wird, welchen Anteil das Bundeswirtschaftsministerium an den verschiedenen Initiativen und praktischen Schritten hatte.
In die zur Erschließung des umfangreichen Werkes wichtigen Verzeichnisse und Indizes haben sich leider eine ganze Reihe von kleinen Fehlern eingeschlichen. So sucht man den im Personenindex genannten Claus Köhler auf der dort angegebenen Seite 94 beispielsweise vergeblich, findet ihn aber im Text auch auf Seite 470 und es ließen sich viele vergleichbare Fehler anführen. Für ein Werk wie dieses, das als Standardwerk auftritt, wünscht man sich einfach mehr Sorgfalt beim abschließenden Lektorat.
Insgesamt hinterlässt der Band einen zwiespältigen Eindruck. Die Einzelbeiträge stammen aus der Feder von renommierten Autoren. Sie sind kenntnisreich und sie gewinnen durch die Auswertung neuer Primärquellen, vor allem des Bundeswirtschaftsministeriums, des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und der Europäischen Union, zum Teil auch wissenschaftliches Neuland. Dies gilt insbesondere für die instruktiven, systematisch angelegten Beiträge von Bernhard Löffler und Jan-Otmar Hesse. Doch ein wirklich greifbares Gesamtbild zur Geschichte des Bundeswirtschaftsministeriums in der Ära der Sozialen Marktwirtschaft von den späten 1940er-Jahren bis in die 1980er-Jahre hinein, welches das Ineinandergreifen von Personal, Organisationsstrukturen und praktizierter Wirtschaftspolitik anschaulich macht, ergibt sich nur stellenweise; für die 1970er- und 1980er-Jahre verschwimmt das Bild immer mehr. Das ist umso bedauerlicher, als die zeithistorische Forschung gerade in diesem Bereich rasche Fortschritte macht und sehr gut ein korrespondierendes, empirisch gesichertes Gegengewicht gebrauchen könnte. Nach inhaltlichen Querverstrebungen zwischen den Beiträgen und einer eigentlich doch zu erwartenden Synthese des Ertrags der Einzeluntersuchungen im Hinblick auf die formulierten Leitfragen sucht man vergebens. Das ist am Ende der Lektüre unbefriedigend, denn die Chance, sich in einem großangelegten, fünfjährigen Forschungsprojekt der Geschichte des Bundeswirtschaftsministeriums und seiner Vorläufer zu widmen und auf diese Weise zugleich die Eigenarten der deutschen Wirtschaftspolitik im kurzen 20. Jahrhundert zu erschließen, wird sich so schnell nicht noch einmal eröffnen.