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Titel
The Information Nexus. Global Capitalism from the Renaissance to the Present


Autor(en)
Marks, Steven G.
Erschienen
Anzahl Seiten
XIV, 250 S.
Preis
$ 27.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Welskopp, Universität Bielefeld

Nach der Krise der Boom. Das Platzen der überaus vorhersagbaren Immobilienblase in den USA mit anschließender fast systemgefährdender Bankenkrise fast überall im Westen und den Folgen für den Euro und die hochverschuldeten Länder im europäischen Währungsraum haben die Forschung über den Kapitalismus wieder ins Geschäft gebracht. Diese hat sich in den letzten Jahren in Anlage und Perspektive weit gespreizt. Da gibt es die populären, sich systemkritisch gebenden, aber nicht wirklich systemanalytischen Gegenwartsdiagnosen á la Thomas Piketty oder die eher behutsamen Versuche einer Historisierung des Kapitalismus, die nicht schlüssig angeben, ob sich unsere Gegenwart noch in diese erneut vertraut gemachte Vergangenheit einordnen lässt – und falls ja, dann wie?

Dann muss man natürlich die Renaissance der Schriften Karl Marx’ und Friedrich Engels’ – ganz abseits der Jubiläumsfeiern zum 200. Geburtstag von ersterem – sowie von Karl Polanyi in Rechnung stellen, in denen viele, und nicht ganz ohne Aussicht, nach Bereitstellungsräumen und Rollbahnen für neue theoretische Einsichten und Antworten suchen. Und schließlich haben wir die Ikonoklasten, die behaupten, dass alles, was wir theoretisch über den Kapitalismus zu wissen meinen, antrainierte Systemblindheit und ahistorische Ignoranz ist. Sie neigen dazu, die Systemcharakteristika des kapitalistischen Dämons jeweils auf einen einzigen Faktor zu reduzieren, etwa auf die gewissermaßen autonom gewordene automatische Geldschöpfung durch Kreditanstalten vor dem Hintergrund blind entschlossener staatlicher Absicherung. Oder es handele sich um das vermeintliche Fundamentalphänomen der Verschuldung.1 Oder aber auch schließlich um die Umwidmung von finanziellen Absicherungen und dem Versicherungswesen in spekulative Wetten auf eine erwartete Zukunft. Das ist alles richtig beobachtet, taugt aber für eine umfassendere Erklärung gerade aufgrund der Scheuklappen des jeweils gepflegten Reduktionismus wenig.

Nun hat Steven G. Marks dieser letzten Sparte einen neuen Akzent zugefügt. Seine Arbeit ist in zwei Großkapitel gegliedert. Das erste widmet sich einer Begriffsgeschichte des Terminus „Kapitalismus“ und kommt zunächst zu dem mittlerweile kaum noch überraschenden Befund, dass dieser nicht nur kaum, sondern gar nicht in der Selbstbeschreibung der als Kapitalisten aktiven Protagonisten des Wirtschaftens geprägt und gebraucht wurde, sondern allenfalls zögerlich und sparsam (etwa bei Karl Marx) im Vokabular ihrer Kritiker auftauchte. Nicht nur können wir dies in den Arbeiten aus der Feder Jürgen Kockas oder Friedrich Lengers schon wesentlich präziser nachlesen.2 Auch entspricht diese Beobachtung einer allgemeineren Fehlwahrnehmung: Warum sollte man annehmen, dass ein Modus wirtschaftlicher Aktivitäten, der sich gerade durch die Abwesenheit zentraler Planung und Koordination auszeichnet und somit auf eine unüberschaubare Vielzahl mehr oder weniger individueller Initiativen zurückfällt, sich durch die konsensuelle Formulierung einer kohärenten positiven Selbstbeschreibung gewissermaßen eine eigene Ursprungslegende und legitimierende Blaupause zulegt?

Dann geht es Steven G. Marks um die Dekonstruktion gängiger Definitionen des „Kapitalismus“, die insofern eine gewisse Berechtigung besitzt, als eine Bestimmung des Phänomens anhand von Begriffen, die ihm selbst systeminhärent sind, also begrifflich seine konstituierenden Elemente ausmachen, tautologisch bleiben muss. Wie kann ich „Kapitalismus“ als durch Investitionen für einen Profit bestimmtes System erschließen, wenn die Kategorien „Investition“ und „Profit“ ohne den Gesamtzusammenhang des kapitalistischen Kontextes gar nicht historisch verstanden und spezifiziert werden können?

Aber das ist nicht das Anliegen des Autors. Im Folgenden desavouiert er zentrale Kategorien der Beschreibung von „Kapitalismus“, indem er ihre historische Systemspezifität radikal in Frage stellt. So datiert er die Existenz von „Lohnarbeit“ kurzerhand auf viele Jahrhunderte vor Christi Geburt zurück, wie es freilich mittlerweile so manche Arbeitshistoriker auf der internationalen Bühne tun. Papiergeld hätten, so Marks, schon die Chinesen in Umlauf gebracht (ob aber mit nachhaltigen Folgen, darüber schweigt sich der Verfasser aus). War Kapitalbildung damit schon – diese nicht ernst gemeinte Anmerkung sei bitte erlaubt – das Schnitzen von Speeren, um einen Mammut (eine gewaltige Kapitalrendite versprechend) zu erlegen? Damit reiht Marks sich in eine ganze Richtung der Mainstream-Ökonomie und auch vieler Wirtschaftshistoriker ein, die die Geltung jedweder Kategorie eines „historischen Kapitalismus“ pauschal mit dem Argument zurückweisen, dass unsere gegenwärtige Wirtschaft ja doch nur die anthropologisch angelegte Weise jeden Wirtschaftens schlechthin sei, die allenfalls durch verschiedene Inferenzen gestört gewesen war und somit nur im historischen Prozess habe freigelegt werden müssen. Auch das ist freilich nicht das Programm des Verfassers. Die Existenz eines „Global Capitalism“ bestreitet er ja nicht, im Gegenteil.

Die Wurzel seiner Entstehung sowie der treibende Turbo seiner dynamischen globalen Ausbreitung sei der „Information Nexus“ gewesen, der auch den Obertitel des Buches ausmacht. Es gibt seit den ausgehenden 1990er-Jahren eine Unmenge an Schriften, die uns den Aufzug einer „Informationsökonomie“ vorhergesagt haben, in der es gar nicht mehr um die Produktion und Distribution materieller Werte geht. Ein wenig erinnert das Buch an jene verflossenen Zeiten.

Das zentrale Argument lässt sich im Grunde in dem Satz zusammenfassen, dass es kapitalistische Wirtschaftsstrukturen nur durch die (im kommenden, sehr konventionellen, Großkapitel beschriebenen) dreistufige Kommunikationsrevolution von der Renaissance (Durchsetzung des Buchdrucks) über das „American Age“ (elektronische Informationsmedien) bis hin zum heutigen „Digital Age“ trotz aller Krisen zur langlebigen Blüte gebracht haben. Informationssysteme habe es natürlich auch schon viel früher gegeben, doch das Neue und Entscheidende sei die zunehmende Verflechtung privater und staatlicher Informationsnetzwerke seit der Renaissance gewesen, die die wirtschaftliche Dynamik über ihren Point of Departure zum Take Off befördert habe.

Es ist unbestreitbar, dass seit der Frühen Neuzeit, nachdem die Basistechnologien bereitstanden, eine exponentielle Informationsverdichtung stattgefunden hat, deren vorwärtstreibende Kraft die immer weiter gesteigerte Verbreitung, netzwerkförmige Verflechtung und Verarbeitung von Informationsbeständen war. Frequenz und Reaktionsschnelligkeit konnten erst dadurch zu medialen Markenzeichen dieser neuen Zeit werden. Auch lässt sich der zeitliche Beginn einer solchen rezenten Entwicklung sicherlich ungefähr in dieser Zeit verorten. Aber es bleibt darauf hinzuweisen, dass wirtschaftliche Informationssammelsysteme und etwa staatliche Interessen an der Nutzbarmachung der gerade entstehenden Statistik nicht unbedingt problemlos miteinander vermittelbar waren, dass es also tatsächlich immer schneller immer mehr Informationen gab, aber noch nicht notwendig den, nach Steven G. Marks, systemstiftenden Nexus. Es sind nicht so sehr die Beschreibung und Datierung dieser Umbrüche, die die Erklärung des „globalen Kapitalismus“ ins Leere laufen lassen, sondern zum einen die plakative Entgegensetzung zu anderen Deutungen des Phänomens, wo doch vielleicht eher vermittelnde Integration geboten gewesen wäre, und zum anderen die Proklamation einer unabhängigen Variable – Informationen – für die historische Herleitung dieses Globalphänomens, die sich bei näherem Betrachten eher als abhängige entpuppen könnte und damit in die lange Reihe notwendiger Bedingungen einträte, nicht aber als hinreichende Bedingung für die globale Herausbildung des Kapitalismus dingfest zu machen wäre.

Marks führt nur in vereinzelten Sätzen aus, woher das zweifellos wachsende Informationsbedürfnis der handelnden Akteure rührte, differenziert nicht, wie spezifisch es war, und erklärt nicht einmal ansatzweise, wie Informationsgewinnung und Kapitalismus systemisch zusammenhängen.

Da der Kapitalismus ein Modus des Wirtschaftens in der Moderne ist, der ökonomische Aktivitäten aktuell auf der Basis von unsicheren Zukunftserwartungen initiiert, und zudem kein planendes und koordinierendes Zentrum besitzt, sind die Akteure darauf angewiesen, ihrerseits jegliche Informationen zu sammeln, die ihre fundamentale Entscheidungsunsicherheit reduzieren sollen. In der Summe der historischen Entwicklung seit Beginn des 19. Jahrhunderts hat sich das Informationsbedürfnis technisch bis an die Echtzeit herangearbeitet und zumindest die Reaktionszeit der Zentren des Aktien- und Devisenhandels auf fast null reduziert – aber die zeitliche Zukunftsschranke der bindenden Voraussage der Folgen wirtschaftlichen Handelns bleibt unüberwindbar. Der Kapitalismus kann Informationen zu seiner sicher vorhersagbaren Entwicklung nicht vollkommen beherrschen. Das wäre ein wichtiges Ergebnis des Buches von Steven G. Marks gewesen. So aber bleibt es ein mit der Mode gehendes Interludium unserer Kenntnis über den Kapitalismus.

Anmerkungen:
1 Z.B. Aaron Sahr, Keystroke-Kapitalismus. Ungleichheit auf Knopfdruck, Hamburg 2017; aber vor allem: David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, München 2013.
2 So z.B. Jürgen Kocka, Geschichte des Kapitalismus, München 2013; Friedrich Lenger, Die neue Kapitalismusgeschichte. Ein Forschungsbericht als Einleitung, in: Archiv für Sozialgeschichte 56 (2016), S. 3–37.