Am 7. Mai 1915 versenkte die deutsche Flotte das britische Passagierschiff RMS Lusitania vor der Südküste Irlands. Unter den insgesamt 1.198 Toten befanden sich auch 128 US-BürgerInnen, doch trotz des rhetorischen Säbelrasselns einiger US-Politiker erklärte der amerikanische Präsident Woodrow Wilson erhaben: „There is such a thing as a man being too proud to fight. There is such a thing as a nation being so right that it does not need to convince others by force that it is right.“1 Nachdem das Deutsche Kaiserreich im Februar 1917 den zwischenzeitlich eingeschränkten U-Boot-Krieg jedoch erneut eskalieren ließ, schlug schließlich auch der US-Präsident interventionistischere Töne an und begründete den Kriegseintritt der USA mit dem Diktum: „The world must be made safe for democracy. Its peace must be planted upon the tested foundations of political liberty.“2
Ebenso widersprüchlich wie diese beiden Statements sind, ist seit jeher auch die historische Bewertung des Politikers Woodrow Wilson. Für die einen stellt der Pionier des Völkerbundes einen „weitsichtigen Realisten“ dar, für die anderen war er lediglich ein „weltfremder Idealist, der die innen- und außenpolitischen Realitäten ignorierte und so selbst dazu beitrug, dass seine Vision einer Neuordnung der Welt scheiterte“ (S. 10).3 In seiner 2017 erschienenen Biographie über Wilson schildert der Heidelberger Historiker Manfred Berg in sehr flüssigem Stil nicht nur den Lebenslauf des 28. US-Präsidenten. Er entwirft ferner ein differenziertes Bild dieser „Schlüsselfigur der Weltpolitik“ (S. 9), indem er von dichotomen und simplifizierenden Erklärungsansätzen absieht und stattdessen jenseits von Schwarz-Weiß-Bewertungen die Grautöne sucht und auskonturiert.
In den ersten drei von insgesamt sieben Kapiteln beschreibt Berg zunächst Wilsons Kindheit und frühes Erwachsenenalter – seine strikt-religiöse Sozialisation in den US-Südstaaten, das Studium in Princeton und die Promotion in Baltimore – sowie seine rasante Karriere zum Universitätsrektor (1902), Gouverneur von New Jersey (1910) und schließlich seine Wahl zum Präsidenten der USA (1912). Anschließend verweist der Autor anschaulich auf die Ironie des Schicksals, wonach Wilson als „Bannerträger des Progressivismus“ (S. 57) die Nation in erster Linie innenpolitisch strukturell reformieren wollte, dass jedoch der Konflikt in Europa schon bald den Fokus des Präsidenten auf außenpolitische Entwicklungen lenkte. Das fünfte Kapitel thematisiert, wie Wilson dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg – nolens volens – „einen historischen Sinn und ideelle Ziele geben“ und in der Tradition des amerikanischen Exzeptionalismus „nationale Interessen mit universalen Prinzipien verbinden“ musste (S. 119). In den letzten beiden Kapiteln schildert Berg das unermüdliche Engagement des US-Präsidenten auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 für eine liberal-demokratische Nachkriegsordnung und die Gründung des Völkerbundes, wofür er später den Friedensnobelpreis verliehen bekam, auch wenn die USA der zwischenstaatlichen Organisation selber letztlich nie beitraten. Schlussendlich resümiert der Epilog die ambivalente historische Bewertung Wilsons, die im Laufe der Geschichte ein äußerst breites Spektrum abdeckte4: Von radikaler Diskreditierung seiner Person in einer (neo)isolationistischen Phase der USA in den 1920er/30er-Jahren über eine Rehabilitierung seiner Visionen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Gründung der Vereinten Nationen bis zu einer fatalen Re-Interpretation seiner Doktrin des „liberalen Internationalismus“ durch die Neokonservativen zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Das Besondere an der ersten deutschsprachigen Biographie über Woodrow Wilson seit 19715 ist die Tatsache, dass Berg nicht einfach seine Interpretation der Geschichte diktiert, sondern dem Lesepublikum oftmals verschiedene plausible Erklärungsansätze und Lesarten zu diversen Forschungskontroversen anbietet, sodass sich dieses jeweils selbst ein Urteil dazu bilden kann. Beispielsweise stellt der Historiker ausführlich zur Diskussion, ob Wilson als „kühler Machtpolitiker den Krieg nutzen [wollte], um Amerika zum globalen Schiedsrichter und Hegemon zu machen“, oder ob er vielmehr als „naiver Idealist der diplomatischen Herausforderung der Neutralität nicht gewachsen [war] und sich von den geschickt taktierenden Alliierten in einen Krieg verwickeln ließ, in dem gar keine vitalen amerikanischen Interessen auf dem Spiel standen?“ (S. 90f.). Ebenso differenziert Berg etwa in der jüngst erneut kontrovers diskutierten Frage über Wilsons Position zur Segregation. Er kommt dabei zu der Einschätzung, dass der 28. US-Präsident zwar keiner der Scharfmacher seiner Zeit war, die „Schwarze als tödliche Gefahr für die angelsächsische Zivilisation diffamierten und die Lynchjustiz öffentlich rechtfertigten“, dass er jedoch einen „typischen Vertreter der weißen paternalistischen Elite“ darstellte und durchaus als Rassist zu bewerten sei (S. 78).
Basierend auf den 69 Bänden der Papers of Woodrow Wilson, die neben öffentlichen auch private Korrespondenzen des Präsidenten dokumentieren, versucht der Autor des Öfteren, richtungsweisende Entwicklungen im Leben Wilsons – im Positiven wie im Negativen – durch einige seiner stark ausgeprägten Charaktereigenschaften wie etwa Idealismus, Prinzipientreue und Starrsinn zu erklären. Insofern hätten auch dessen enorme Gewissenskämpfe bezüglich des Kriegseintritts der USA im Jahr 1917 noch etwas detaillierter beschrieben werden können; besonders aufschlussreich wäre dazu beispielsweise der Schriftverkehr zwischen dem Präsidenten und seinem außenpolitischen Berater Edward M. House oder seiner zweiten Ehefrau, Edith White Bolling Galt Wilson. Der Autor setzt sich jedoch erklärtermaßen nicht zum Ziel, dieses Buch auf eine Stufe mit etlichen wesentlich voluminöseren Publikationen in englischer Sprache6 zu stellen; stattdessen will Berg dem deutschen Publikum vor allem in relativ konzentrierter Form schildern, weshalb Woodrow Wilson zu den wichtigsten US-Präsidenten der Geschichte und zu den prägenden Figuren des 20. Jahrhunderts zählt (S. 16). Diesem Anspruch wird dieses sehr lesenswerte Buch zweifellos gerecht.
Anmerkungen:
1 Woodrow Wilson, „An Address in Philadelphia to Newly Naturalized Citizens“, in: Arthur S. Link (Hrsg.), The Papers of Woodrow Wilson, Vol. 33, 17. April – 21. Juli 1915, Princeton 1980, S. 149.
2 Woodrow Wilson, „An Address to a Joint Session of Congress“, 2. April 1917, in: Arthur S. Link (Hrsg.), The Papers of Woodrow Wilson, Vol. 41, 24. Januar – 6. April 1917, Princeton 1980, S. 525.
3 Lloyd E. Ambrosius, „Legacy and Reputation“, in: Ross A. Kennedy (Hrsg.), A Companion to Woodrow Wilson, Malden, MA 2013, S. 569–587.
4 Die enorme Bandbreite an historischen Bewertungen von Woodrow Wilson lässt sich im Kern vor allem durch eine These der folgenden Publikation begreifen: William Appleman Williams, Tragedy of American Diplomacy, Cleveland 1959. Für den Historiker der New Left stellt Wilson ein Paradebeispiel für eine tragödische US-Außenpolitik dar, die zwar friedlich konzipiert worden sei, bei ihrer Realisierung jedoch oftmals kriegerische Konflikte und Unterdrückung zur Folge hatte.
5 Klaus Schwabe, Woodrow Wilson. Ein Staatsmann zwischen Puritanertum und Liberalismus, Göttingen 1971.
6 Siehe etwa: John Milton Cooper, Jr., Woodrow Wilson. A Biography, New York 2009.