Erhard Eppler gehört zum Inventar der alten Bundesrepublik. Er prägte wie wenige andere seine Partei, die SPD, aber auch gesamtgesellschaftliche Großdebatten wie den Streit um die Ökologie und den Frieden. Dabei hat er auffallend spät zu seiner für ihn charakteristischen Rolle als Vertreter des Protests im „Establishment“ gefunden. Zunächst nahm seine Laufbahn eine andere Richtung. Er trat am Ende des Zweiten Weltkrieges der NSDAP bei und wurde erst nach dem Krieg zum überzeugten Demokraten, er fand über den Umweg von Gustav Heinemanns Gesamtdeutscher Volkspartei zur Sozialdemokratie, machte dann aber umso rascher Karriere und brachte es schließlich von 1968 bis 1974 sogar bis zum Entwicklungsminister unter den Kanzlern Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt und (wenige Monate) Helmut Schmidt.
Was ihn zum politischen Sprachrohr gesellschaftlicher Protestbewegungen machte, war sein politischer Wandel ab Mitte der siebziger Jahre. Eppler war keinesfalls derjenige, der die Umweltproblematik „entdeckt“ oder am Rhein diskutierbar gemacht hätte. Er war auch nicht derjenige, der als erster zum Widerstand gegen den Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses aufgerufen hätte. In beiden Fällen war er ein Reisender, der auf den Zug aufsprang, als dieser schon fuhr. Aber er trat doch als jemand an, der die alte Sozialdemokratie mit den neuen sozialen Bewegungen aussöhnen, sie entstauben und modernisieren wollte. Das war ein umso kühneres (und bald auch aussichtsloses) Unterfangen, als seine Parteifreunde das Politische weiterhin aus einem primär ökonomischen und etatistischen Blickwinkel sahen, mit allen Konsequenzen, die das für die Wählerbindung in den siebziger und achtziger Jahren haben sollte.
Als Sozialdemokrat in der Friedensbewegung gewann er in den frühen achtziger Jahren Statur. Er sprach vor der großen Kundgebung am 10. Oktober 1981 im Hofgarten in Bonn und sorgte als Präsident des Evangelischen Kirchentages 1983 in Hannover dafür, dass Diskussionen im kirchlichen Umfeld eine politische Relevanz erhielten, von denen die Kirchen seither nur träumen können. Auch auf der ideengeschichtlichen Ebene kann man Eppler als Vertreter eines gewandelten Denkens ansehen, das sich im Umfeld der Protestbewegungen etablierte. In seinem wichtigen Buch „Ende oder Wende. Von der Machbarkeit des Notwendigen“ brachte er eine tiefe Verunsicherung über die Machbarkeit von Fortschritt zum Ausdruck.1 Er formulierte eine Zukunftsangst, wie sie die traditionell technik- und fortschrittsgläubige Sozialdemokratie in den folgenden Jahren nachhaltig erschütterte. Er hatte schließlich auch Anteil daran, dass der Kalte Krieg als Ordnungssystem seine Plausibilität und Legitimität in den achtziger Jahren einbüßte.2 Routiniert kritisierte Eppler das Denken in ideologisch begründeten Feindbildern, bezeichnete den Nord-Süd-Gegensatz als das drängendere Problem im Vergleich zum Ost-West-Konflikt und scheute sich auch nicht, mit führenden Vertretern des DDR-Staatssozialismus über die gemeinsamen Ursprünge in der Arbeiterbewegung zu diskutieren. Kurz: Er trug gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse in das sozialdemokratische Spektrum der alten Bundesrepublik hinein.
Wenn Eppler nun eine autobiografische Skizze mit dem Titel „Links leben“ vorlegt, die, glaubt man dem Klappentext, auch „politisches Vermächtnis“ sein soll, dann klingt das zunächst einmal vielversprechend, lassen solche Erinnerungsbücher doch häufig einen durch die Person konzentrierten Blick auf viele Jahrzehnte politischer Geschichte zu. Eppler unternimmt hier schon den dritten autobiografischen Versuch3, und er hat mehrfach bewiesen, dass er sachkundig argumentieren und gleichzeitig lesbar schreiben kann. So nimmt man „Links leben“ gespannt zur Hand.
Allzu viel Neues enthält das Buch dann aber nicht. Eppler erzählt, mehr chronologisch als systematisch, sein politisches Leben. Der Bogen reicht von seinen schwäbischen Vorfahren über erste politische Gehversuche in Bonn bis zu seinen Lebensthemen, der Entwicklungs-, Umwelt- und Friedenspolitik. Das Allermeiste kennen wir schon. Dass Eppler die Intervention der Bundeswehr im Kosovo und Gerhard Schröders Agenda 2010 unterstützte, hat er an anderen Stellen ausführlicher erklärt. Zwar weicht Eppler selbst unangenehmen Erinnerungen nicht aus, wie jener an seinen NSDAP-Eintritt (S. 29f.), doch neigt er im Urteil über seine Zeitgenossen manchmal zur Selbstgerechtigkeit: „Während ich Helmut Schmidt immer verstanden habe, ganz einfach, weil ich lange Zeit genauso dachte wie er, hat er mich nie verstanden.“ (S. 176) Auch die spannende Frage, was Eppler sich denn eigentlich unter dem programmatischen Titel „Links leben“ vorstellt, bleibt weitgehend unbeantwortet. Dies ist umso bedauerlicher, als er doch gemeinhin als jemand erinnert wird, bei dem die etablierten Links-Rechts-Etikettierungen nicht mehr greifen. Dennoch: Immer wieder finden sich in dem Buch unbekannte Anekdoten, die helfen, Eppler als politischen Menschen besser einzuordnen. So zeigt er mit seiner Erzählung von einem Treffen mit US-Präsident John F. Kennedy 1962 im Weißen Haus, welche Faszinationskraft die Vereinigten Staaten auf ihn ausübten (S. 52f.). Dies relativiert seine Erinnerung, Erfahrungen in der Schweiz hätten ihn zum Demokraten gemacht (S. 55–66).
Was war Eppler nun? Ein grüner Sozialdemokrat, ein sozialdemokratischer Grüner? Der Vordenker von Rot-Grün? Ein schwäbischer Protestant, der sich um die Umwelt und den Frieden sorgte? Ein Parteiintellektueller? Ein Besserwisser mit erhobenem Zeigefinger, der gehörig auf die Nerven gehen konnte? Ein „Querdenker“? Von allem etwas, und das sehr entschieden, muss die Antwort wohl lauten. Die Tatsache, dass Eppler sich niemals um allerhöchste Ämter bewarb, sondern mit nur 62 Jahren aus der aktiven Politik ausschied und fortan den Weisen aus Dornstetten bei Freudenstadt gab, hat viel zu seiner Popularität beigetragen. Wer sein Leben und Denken kennenlernen und dabei nicht zuerst auf geschichtswissenschaftliche Analysen zurückgreifen möchte, sollte dieses Buch lesen.
Anmerkungen:
1 Erhard Eppler, Ende oder Wende. Von der Machbarkeit des Notwendigen, Stuttgart 1975.
2 Jan Hansen, Abschied vom Kalten Krieg? Die Sozialdemokraten und der Nachrüstungsstreit (1977–1987), Berlin 2016, S. 53ff.
3 Erhard Eppler, Komplettes Stückwerk. Erfahrungen aus fünfzig Jahren Politik, Frankfurt am Main 1996; ders., Als Wahrheit verordnet wurde. Briefe an meine Enkelin, Frankfurt am Main 1994.