Die Geschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg war bis vor wenigen Jahren kaum erforscht. Die neuen Forschungsarbeiten, die im Rahmen eines 2012 angelaufenen Sinergia-Projekts entstanden sind, beleuchten nun in transnationalen Perspektiven den Kleinstaat Schweiz im totalen Krieg.1 Alexandre Elsigs Buch «Les Shrapnels du mensonge» ist die zweite Dissertation, die im Umfeld dieser Forschungen erschienen ist. Das Werk beeindruckt durch den konsequenten Fokus auf die propagandistische Aktivität des Deutschen Reichs in der Schweiz, insbesondere angesichts der Fülle des Materials, der Informationen und der teilweise überaus verschachtelten Zusammenhänge der vielfältigen Einflussnahmen auf die schweizerische und internationale Öffentlichkeit.
Der Autor rahmt sein Forschungsinteresse mit einem Zitat von Meinrad Inglin von 1938, wonach eine multiple Propaganda die Schweiz im Krieg durchdrungen habe – multipel in ihrer Herkunft, aber auch in ihren Erscheinungen und Formen sowie hinsichtlich ihrer Adressaten.2 Dass Elsig diesem Interesse dann mit dem Fokus auf die deutsche Propaganda nachgeht, begründet er zum einen damit, dass für die Propagandaaktivitäten Frankreichs bereits eine ausführliche Darstellung von Jean-Claude Montant vorliege3; zum anderen, dass die entsprechenden vertraulichen Dokumente im Auswärtigen Amt noch der Untersuchung harrten. Auch wenn Elsig sich auf die deutschen Aktivitäten konzentriert, unterlässt er es nicht, immer wieder auf analoge propagandistische Vorstösse Frankreichs, Grossbritanniens, Belgiens sowie auch Österreich-Ungarns hinzuweisen und gegebenenfalls deutsche Massnahmen auch als Reaktion auf französische einzuordnen. So gelingt es ihm trotz der Fokussierung ausgezeichnet, nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, es sei vor allem oder allein die deutsche Propaganda gewesen, die neutrale Staaten wie die Schweiz für die transnationale Stimmungsmache genutzt hatte. Zudem macht er mit der engen Verquickung der Akteure deutlich, dass die Schweiz nicht nur Plattform internationaler Interessen war, sondern dass sich ausländische mit inländischen Stimmen vermengten und überlagerten und dabei vielfältige Interessen bedienten.
Alexandre Elsig gliedert sein umfangreiches Werk entlang dreier Untersuchungsachsen. Die erste betrifft die politischen Strukturen, die Propaganda begünstigten oder unterdrückten. Dabei ist es ihm wichtig, auf die Widersprüchlichkeit der Propaganda hinzuweisen, die zum einen bedingt war durch unterschiedliche kollektive Akteure des Deutschen Reichs, die sich durchaus nicht immer einig waren. Zum anderen sei die Konzentration der strategischen Kräfte eine Illusion gewesen, etwa aufgrund der starken Gegenpole von zivilen und militärischen Machtzentren, aber auch weil Propagandaaktivitäten pragmatisch der Wahrnehmung durch die Adressaten angepasst werden mussten.
Die zweite Achse betrifft die Träger der Propaganda, also die Vielzahl unterschiedlicher Medien der propagandistischen Beeinflussung. Diese gruppiert der Autor zum einen unter dem Titel «Informationsvermittlung», die etwa Zeitungen aller Art umfasst, so zum Beispiel neben renommierten, ‹infiltrierten›, alteingesessenen Tageszeitungen auch Sonntagsbeilagen. Des Weiteren benennt er «Organe der Reflexion», worunter er die Kriegsliteratur und Vorträge zählt; und schliesslich die «Instrumente der Verführung», unter die er sämtliche Medien der Unterhaltung, Bilder, die Künste, das Kino und so fort subsumiert. Dabei kommen unterschiedliche Zugänge der Analyse zum Tragen, etwa indem er die Unterhaltungsmedien im Rahmen der Sozialgeschichte der Repräsentationen untersucht.
Die dritte Achse gilt den Propagandainhalten selbst. Ihre Funktionen sieht der Autor einerseits in der Verbreitung von Argumentationen und Informationen, aber sie sollten auch Affekte und Emotionen auslösen, um über die Grenzen des neutralen Staats hinweg transnationale Gemeinschaften zu schaffen, die der einen oder anderen Kriegsmacht zugeneigt sein sollten. Dabei gelte es nicht nur den Wahrheitsgehalt der Botschaften zu eruieren, sondern auch ihre Glaubwürdigkeit für die adressierten Personenkreise zu ermessen.
Der Kern des überaus reichen Quellenmaterials stammt aus Archiven in Berlin. Trotz gezielter Vernichtungen nach dem Krieg und Zerstörungen während des Zweiten Weltkriegs schätzt Elsig diese Bestände des Auswärtigen Amts und des Bundesarchivs für seine Fragestellung als überaus informativ ein. Dazu kommen Bestände aus schweizerischen Archiven und Bibliotheken, insbesondere dem Schweizerischen Bundesarchiv, dem Literaturarchiv und der Nationalbibliothek sowie diversen kantonalen Archiven, nicht zu vergessen der reiche Fundus an gedrucktem Quellenmaterial.
Elsig macht deutlich, wie stark die Propaganda der Kriegsmächte transnational auf Politik und Zivilgesellschaften auch der neutralen Staaten einwirkte. Er unterstreicht die Bedeutung dieser Propaganda auf neutralem Boden und vielfach durch die Nutzung von Medien dieser Staaten, um zu verschleiern, wie interessegeleitet die Informationen und kulturellen Erzeugnisse waren. Er sieht die Schweiz als ein Experimentierfeld solcher Propagandabemühungen, die die Öffentlichkeit mit Material aller Art überhäuften, was eine auf die eigenen Interessen gerichtete Meinungsbildung ausserordentlich erschwerte. Dies umso mehr, als auch einzelne schweizerische Gruppierungen für eine Parteinahme zugunsten von Kriegsparteien warben und gezielt die anderen Sprachgemeinschaften des Landes angriffen. Die verwirrende Informationssituation verschärfte sich, weil die deutsche Propaganda insbesondere in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs auch dezidiert versuchte, Gruppierungen mit einer völlig anderen Agenda zu manipulieren, so etwa Exilgruppen aus den Vielvölkerstaaten, die für einen Nationalstaat agitierten; oder die Friedensbewegung, die die Deutschen zu nutzen versuchten, um französische Internierte zu demoralisieren. Die Agitationslinien verliefen kreuz und quer, sodass es schwierig gewesen sein dürfte, den Überblick zu bewahren. Wie intensiv die Aktivitäten zugunsten des Deutschen Reiches waren, wurde alleine am exponentiellen Anstieg der Belegschaft der Deutschen Gesandtschaft in Bern deutlich, in der viele der propagandistischen Fäden zusammenliefen.
Elsig kann im Weiteren zeigen, dass die intensive und zeitweise sehr aggressive, aufdringliche Propaganda zugunsten des Deutschen Reiches zunehmend den Absichten konträre Wirkungen zeitigte. Er hält fest, dass zumindest Teile der schweizerischen Bevölkerung sich der Beeinflussung entzogen, sie ablehnten und vermehrt auf die Stärkung der innerschweizerischen Verständigung achteten. Insbesondere die Oberstenaffäre im Dezember 1915 bezeichnet er als eigentliches Desaster für die deutsche Propaganda, da dieser Vorfall die deutschen Propagandaabsichten dauerhaft desavouiert habe. In der Folge suchten Verantwortliche für die deutsche Propaganda wie Harry Kessler, der ab 1916 die deutsche Kulturpropaganda in Bern organisierte, oder Hans Attinger, der ab dem Sommer 1915 für die Zirkulation der Propaganda in der Schweiz zuständig war, mit leiseren und versteckteren Tönen für ihre Sache zu werben. Elsig kommt zum Schluss, dass dieser Skandal der deutschen Propaganda in der Schweiz einen nicht mehr korrigierbaren Stoss versetzt habe, sodass diese fortan endgültig im Unrecht stand.
Es ist eine männliche Welt, die Alexandre Elsig beschreibt. Frauen treten prominent nur an der von Harry Kessler organisierten Ausstellung des Deutschen Werkbundes in Bern 1917 auf und werden erwähnt als vermutete Leserinnen der Illustrierten Zeitungen. So bleiben die Aktivitäten der Frauen im Ersten Weltkrieg und jene, die Frauen und Frauenorganisationen anvisierten, weiterhin ein Forschungsdesiderat.
Dennoch: Elsigs Studie beeindruckt aufgrund ihrer Fülle an Informationen, und auch dadurch, dass es dem Autor gelingt, dieses intensive propagandistische Geschehen nicht nur zu beschreiben, sondern in seiner verwirrenden Vielfalt zu strukturieren und seine Entwicklung durch die Kriegsjahre hindurch zu beschreiben. So kann er zeigen, dass die Schweiz in diesem propagandistischen Feld und der transnationalen Einflussnahme auf die öffentliche Meinung zu einen wichtigen Experimentierfeld der Kriegsparteien wurde.
Die Studie ist neben ihrer eigentlichen Funktion der Aufarbeitung der deutschen Propaganda auch deswegen wichtig, weil sie damit die heftigen Kontroversen in der damaligen Öffentlichkeit um die politische Gemeinsamkeit der Sprachgemeinschaften, die später unglücklich als Ausdruck eines «Röstigraben» etikettiert wurden,4 in ein weitgehend neues Licht stellen könnte.5 Die einigermassen krude Vorstellung dieses «Röstigrabens» hat sich nämlich in die Geschichtskultur der Schweiz eingeschrieben6 und droht so gelegentlich, selbst zum Anlasse einer Identitätspolitik zu werden, die die Sprachgemeinschaften der Schweiz trennt. Elsigs und Montants Studien nebeneinanderzustellen und die deutsch- und französischsprachigen Stimmen in einer mit Propaganda überzogenen Schweiz erneut einer intensiven Prüfung zu unterziehen, könnte dem entgegenwirken.
Anmerkungen:
1 Die Schweiz im Ersten Weltkrieg: Transnationale Perspektiven auf einen Kleinstaat im totalen Krieg. Sinergia 141906, URL: http://p3.snf.ch/Project-141906 (10.06.2017).
2 Meinrad Inglin, Schweizerspiegel, Leipzig 1938.
3 Jean-Claude Montant, La propagande extérieure de la France pendant la Première Guerre mondiale: l’exemple de quelques neutres européens, Lille 1988.
4 Konrad J. Kuhn / Béatrice Ziegler, Dominantes Narrativ und drängende Forschungsfragen. Zur Geschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg, in: traverse. Zeitschrift für Geschichte 3/2011, S. 123–141; Jakob Tanner, Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert, München 2015, S. 128–132.
5 Einen Anfang machte Alexandre Elsig selbst, als er im Begleitband zur Ausstellung «14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg» den Beitrag «Zwischen Zwietracht und Eintracht. Propaganda als Bewährungsprobe für die nationale Kohäsion» veröffentlichte. In: Roman Rossfeld / Thomas Buomberger / Patrick Kury (Hrsg.), 14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg, Baden 2014, S. 72–101.
6 Michel Schultheiss / Julia Thyroff: <Friedensinsel> in der <Einigkeitsprobe>. Eine Untersuchung von aktuellen Geschichtslehrmitteln zur Schweiz im Ersten Weltkrieg, in: Konrad J. Kuhn / Béatrice Ziegler (Hrsg.): Der vergessene Krieg. Spuren und Traditionen zur Schweiz im Ersten Weltkrieg, Baden 2014, S. 291–306.