F. Krah: Pioniere der Antisemitismusforschung in Deutschland

Cover
Titel
"Ein Ungeheuer, das wenigstens theoretisch besiegt sein muß“. Pioniere der Antisemitismusforschung in Deutschland


Autor(en)
Krah, Franziska
Reihe
Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts (29)
Erschienen
Frankfurt am Main 2017: Campus Verlag
Anzahl Seiten
466 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefanie Schüler-Springorum, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Warum, so fragt man sich nach der Lektüre der Dissertation von Franziska Krah, hat es eigentlich so viele Jahrzehnte gedauert, bis sich die Antisemitismusforschung wieder ihrer Wurzeln erinnert und auf jene Texte zurückgreift, die vor der Katastrophe entstanden sind? Denn ihr Buch scheint, zusammen mit den beiden von Hans-Joachim Hahn und Olaf Kistenmacher herausgegebenen Sammelbänden zu theoretisch-wissenschaftlichen wie literarisch-künstlerischen „Beschreibungsversuchen der Judenfeindschaft“1 sowie der kommentierten Quellenedition von Birgit Erdle und Werner Konitzer2 geradezu einen Trend zu markieren: Die Lektüre der Pioniere unseres Faches soll uns helfen, jenes Phänomen vielleicht doch noch ein bisschen besser zu verstehen, dem man anscheinend weder mit den hochaggregierten Daten der Sozialforschung noch mit der ausgefeiltesten Pädagogik beikommen kann – auch wenn man es hundertfach „theoretisch besiegt“ hat.

Tatsächlich ist Krahs Blick auf die Erkenntnisse vor 1933 erhellend und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen macht er deutlich, in welch hohem Maße unser eigenes Verständnis des Antisemitismus durch das Wissen um den Massenmord an den europäischen Juden geprägt ist: In den Dekaden nach dem Krieg ging es zunächst vor allem darum, sich organisationshistorisch den Aufstieg der NSDAP aus ihren völkischen Vorläufern zu erklären und „Antisemitismus“ zugleich sozialwissenschaftlich messbar und damit in Zukunft beherrschbar zu machen. Zum anderen ist es eine angemessene Übung in akademischer Demut, sich klarzumachen, dass so vieles Neues an theoretischem Wissen seit 1945 nicht hinzugefügt wurde, wenn man einmal von den Altmeistern der Kritischen Theorie und von Jean-Paul Sartre absieht, die jedoch sowohl zeitlich als auch geographisch gewissermaßen Mittlerfunktionen zwischen den 1920er-Jahren und der Nachkriegszeit sowie zwischen Deutschland, Europa und den USA einnehmen.

Franziska Krah beschränkt sich in ihrem Buch auf die Zeit zwischen 1900 und 1933 und auf eine klug ausgewählte Anzahl von Autoren, was ihr ermöglicht, klassisch hermeneutisch in die Tiefe zu gehen und die Publikationen zugleich analytisch zueinander in Beziehung zu setzen. Mit Heinrich Coudenhove, Constantin Brunner, Arnold Zweig, Fritz Bernstein, Michael Müller-Claudius und Julius Goldstein stehen sechs akademisch gebildete, bürgerliche Männer im Fokus, vier Juden und zwei Christen, die sich alle ausführlich und zum Teil mehrmals und auf hohem Niveau mit dem Phänomen des modernen Antisemitismus auseinandergesetzt haben, also mit jener Form des antijüdischen Ressentiments, die ihnen zeitgenössisch begegnete und als etwas Neues empfunden wurde und deren Differenz zum „mittelalterlichen“ religiösen Judenhass es zu erklären galt. Dementsprechend stellt Krah ihre Autoren zunächst einzeln vor, um den jeweiligen biographischen Hintergrund, aber auch ganz konkret die individuelle Erfahrung mit Antisemitismus herauszuarbeiten. Dann jedoch, im Hauptteil des Buches, ordnet sie ihr reiches Quellenmaterial thematisch, also nach den einzelnen, oftmals miteinander verwobenen Erklärungsansätzen und dort, wo es sinnvoll erscheint, zieht sie Texte weiterer Autoren heran. Dieses Vorgehen und die ihm zugrunde liegende, intensive Durchdringung und Zusammenschau des durchaus heterogenen Materials macht die große Stärke der Arbeit aus und bedingt zugleich eine kleinere, aber in Kauf zu nehmende Schwäche: Denn kaum zu vermeiden sind dabei gelegentliche Wiederholungen und Redundanzen, auch gerät der biographische und zeitgenössische Kontext der jeweiligen Interpretation an manchen Stellen aus dem Blick, trotz der immer umsichtigen Zusammenfassungen und Zwischenbilanzen.

Es wird überdeutlich, dass alle großen Themen der Nachkriegszeit bereits vor 1933 diskutiert, wenngleich sehr unterschiedlich gewichtet wurden: Aus heutiger Sicht vielleicht erstaunlich, aber zeitgenössisch nachvollziehbar wurde dabei dem religiösen Antijudaismus wenig aktuelle Bedeutung zugesprochen und wenn überhaupt, dann verzerrt als „Aberglaube“ (Constantin Brunner) oder als Projektion: Juden als Symbol des „Bösen“ an sich. Wirkmächtiger waren dagegen jene Erklärungsversuche, die auf soziologischen Wissensbeständen aufbauen, also auf Begriffe wie Minderheit und Mehrheit rekurrieren, auf Gruppenbildungsprozesse durch In- und Exklusion sowie auf die Bedeutung klarer Feindbilder. Zwar wird die Rolle des Nationalismus als sozialer Bewegung in diesem Zusammenhang klar erkannt, indes – und dies ist ein markanter Unterschied zu heutigen Debatten – schrecken alle Autoren davor zurück, diesen übermächtigen Bezugsrahmen selbst in Frage zu stellen oder seinen Konstruktionscharakter auch nur als solchen zu erkennen. Zugleich war man sich einig darüber, dass sich der Antisemitismus nicht über Geschichte oder Gegenwart der Juden erklären lässt, sondern einzig und allein durch die Pathologien auf Seiten der Antisemiten – und hier nun kommt eine Analysekategorie auffällig oft ins Spiel, die von der Antisemitismusforschung erst vor kurzem wieder ins Zentrum zurückgeholt wurde: die Rolle der Emotionen für die Erklärung der Macht und Persistenz des antijüdischen Ressentiments.3

Der dritte, weitaus kürzere Teil widmet sich der Gefahreneinschätzung der einzelnen Autoren, der Wirksamkeit des Abwehrkampfes und dem (geringen) Einfluss ihrer Schriften. Es verwundert kaum, dass der Grundton dieses Abschnitts eher resignativ gehalten ist. Zu deutlich stand allen Schreibern die aufkommende Gefahr des Faschismus vor Augen, zu unübersehbar waren Ende der 1920er-Jahre die Erfolge der Antisemiten, in allen Schichten und Milieus übrigens, wie man übereinstimmend bemerkte. Dennoch erschien ihnen allen der Abwehrkampf, in welcher Form auch immer, als „wirkungslose und notwendige Aufgabe zugleich“ (S. 379), wie Krah pointiert zusammenfasst. Und ähnlich wie heute war die Einschätzung der langfristigen Lösungsmöglichkeiten abhängig vom politischen Standpunkt des jeweiligen Verfassers: Ein Zionist wie Fritz Bernstein (aber auch der polyglotte katholische Adlige Coudenhove) sahen eine jüdische Heimstatt in Palästina (oder andernorts) als einzige effektive Lösung an, während der Christ und Pädagoge Müller-Claudius trotz großer Skepsis den Glauben an „Heilung“ durch Erziehung nicht aufgeben mochte. Ihnen allen gemeinsam war die Bedeutung, der sie der Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaat zumaßen, um sowohl dem politischen, den Antisemitismus instrumentalisierenden Angriff auf die Institutionen als auch der individuellen Hetze machtvolle Instrumente entgegenzusetzen. Schließlich ging es darum, so paraphrasiert Franziska Krah ihren heimlichen Helden, Constantin Brunner, „die Gesellschaft so einzurichten, dass sie die Menschen in ihrer Verschiedenheit schütze“ (S. 374). Diese Aufgabe ist uns bekanntlich erhalten geblieben.

Anmerkungen:
1 Hans-Joachim Hahn / Olaf Kistenmacher (Hrsg.), Beschreibungsversuchen der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor 1944, Berlin 2015; dies. (Hrsg.), Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft II. Antisemitismus in Text und Bild – zwischen Kritik, Reflexion und Ambivalenz, Berlin 2019.
2 Birgit Erdle / Werner Konitzer (Hrsg.), Theorien über Judenhass – Eine Denkgeschichte. Kommentierte Quellenedition (1781–1931), Frankfurt am Main 2015.
3 Uffa Jensen / Stefanie Schüler-Springorum, Gefühle gegen Juden. Die Emotionsgeschichte des modernen Antisemitismus, in: Geschichte und Gesellschaft 39 (2013), S. 413–442.