K. Lindner: Hegemoniekämpfe in Frankreich

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Titel
Die Hegemoniekämpfe in Frankreich. Laizismus, politische Repräsentation und Sarkozysmus


Autor(en)
Lindner, Kolja
Erschienen
Hamburg 2017: Argument-Verlag
Anzahl Seiten
302 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mirko Petersen, Universität Bielefeld

Die jüngsten Ereignisse rund um die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2017 in Frankreich haben nicht nur in dem Land selbst, sondern in ganz Europa Debatten um die politische Zukunft des Kontinents ausgelöst. Vielbeachtet war dabei Didier Eribons 2016 erstmals auf Deutsch erschienenes Buch „Rückkehr nach Reims“, in dem er unter anderem auf sehr persönliche Weise die Erfolge des Front National (FN) zu erklären versucht.1 Dass die fundamentalen Veränderungen der politischen Landschaft Frankreichs jedoch nicht auf eine Betrachtung des FN enggeführt werden dürfen, sondern auch die Hegemoniebestrebungen der bürgerlichen Rechten in Betracht gezogen werden müssen, zeigt der Politologe Kolja Lindner in seinem Buch „Die Hegemoniekämpfe in Frankreich. Laizismus, politische Repräsentation und Sarkozysmus“ nachdrücklich.2

Im Zentrum der Studie steht der Sarkozysmus, d.h. das Erneuerungsprojekt der bürgerlichen Rechten unter Federführung des von 2007–2012 regierenden Präsidenten Nicolas Sarkozy. Die Hegemoniebestrebungen Sarkozys bettet Lindner in die weitreichenden politischen und gesellschaftlichen Verwerfungen Frankreichs ein, wobei er die Veränderungen auf zwei Gebieten als zentral erachtet: Laizismus und politische Repräsentation. Mit dem 11. September 2001 und dessen Folgen für die gesellschaftliche Wahrnehmung des Islams wurde laut Lindner die Krise des Laizismus manifest und mit Jean-Marie Le Pens Erreichen der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen 2002 die der politischen Repräsentation. Der Autor zeichnet die geschichtliche Entwicklung dieser beiden Themen ausführlich nach, um nicht nur nach kurz-, sondern auch nach mittel- und langfristigen Hegemoniedynamiken zu fragen. Dazu stützt er sich neben Sekundärliteratur auf Reden und Schriften von Politiker/innen, Gesetzestexte und Presseberichterstattung.

Wie der nun bereits häufiger gefallene Begriff der Hegemonie nahelegt, bildet dieser die theoretische Grundlage der Studie. Im Theoriekapitel erläutert Lindner ausführlich die Hegemonietheorie Antonio Gramscis und geht ebenfalls (wenn auch kürzer) auf die Theorien von Louis Althusser, Nicos Poulantzas sowie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe ein, während er Legitimitätstheorien (Max Weber, Jürgen Habermas) als für seine Untersuchung nicht geeignet charakterisiert. Insgesamt plädiert er für eine kritisch-realistische Hegemonietheorie, die weder marxistisch geprägtem Klassenreduktionismus (wie Gramsci, Althusser, Poulantzas), noch einseitiger Fokussierung auf Diskurse (wie Laclau/Mouffe) unterliegt.

Im Anschluss an das Theoriekapitel folgen die beiden geschichtlichen Kapitel, in denen der Autor die historischen Entwicklungen des Laizismus und der politischen Repräsentation in Frankreich behandelt, die wichtig für das Verständnis aktueller Konflikte sind. In Bezug auf den Laizismus arbeitet der Politologe heraus, wie sich das Verständnis desselben von einer neutralen Haltung des Staates gegenüber Religion hin zu einer islamfeindlichen Ideologie wandelt und im Kontext einer multikultureller gewordenen Gesellschaft zunehmend von der politischen Rechten instrumentalisiert wird. Die organische Krise (im Sinne Gramscis) der politischen Repräsentation in der Fünften Republik, die bei den Wahlen von 2002 deutlicher als je zuvor zum Ausdruck kommt, macht Lindner an mehreren Faktoren fest: Mandatshäufung, Mehrheitswahlrecht, Unterrepräsentation von Frauen und rassifizierten Minderheiten sowie dem Bindungsverlust zwischen der Kommunistischen und Sozialistischen Partei (Parti socialiste; kurz: PS) zum Proletariat und den armen Vorstädten.

Im darauffolgenden Kapitel stehen die hegemonialen Ambitionen der bürgerlichen Rechten, speziell Sarkozys, im Mittelpunkt. In diesem, vielleicht spannendsten Kapitel des Buches, zeigt Lindner, wie Sarkozy eine neue politische Ideologie erschafft, die speziell die Themen des Laizismus und die politische Repräsentation auf eine neue Art und Weise adressiert (v.a. durch Klientelbeziehungen zu muslimischen Verbänden und Einbindung von politischem Personal aus rassifizierten Minderheiten). Dabei gelang es dem damaligen Innenminister sowohl den Vorsitz der konservativen Union pour un mouvement populaire (UMP) zu erobern (im Jahr 2004), als auch über Parteigrenzen hinweg neue Bündnisse zu schmieden und Unterstützung zu erlangen. Die Früchte dieser ideologischen Arbeit, die Thema des nächsten Kapitels sind, erntete Sarkozy bei den Wahlen 2007 und in der Phase danach: Er baute seine Wähler/innenbasis deutlich aus, während er sowohl den FN demobilisierte als auch die PS tiefer in die Krise stürzte.

Doch wie Lindner verdeutlicht waren diese Erfolge nur von kurzer Dauer. Die Ambitionen Sarkozys erlebten schon früh während seiner Präsidentschaft einen rapiden Niedergang. Seine Öffnung gegenüber anderen politischen Kräften sowie sein Führungsstil sind innerhalb der eigenen Partei äußerst umstritten. Teile der UMP torpedieren Sarkoyzs Politik und treiben ihn politisch vor sich her. Gesamtgesellschaftlich verliert die bürgerliche Rechte ihre Hegemonialstellung. Trotz einem großen Mangel an eigenständigen Konzepten gelang es der PS, mit ihrem Kandidaten François Hollande, bei den Präsidentschaftswahlen 2012 diese Schwäche des politischen Gegners auszunutzen. Doch, wie Lindner zum Schluss seiner Ausführungen betont, konnten die Sozialist/innen (ebenso wie andere linke Kräfte), keine Gegenprojekte auf den Themenfeldern Laizismus und politische Repräsentation anbieten, weshalb auch Hollande krachend scheiterte.

Kolja Lindner leistet mit seiner Studie einen facettenreichen Beitrag zum Verständnis der politischen Entwicklungen in Frankreich im 21. Jahrhundert und macht gleichzeitig auch auf die historischen Wurzeln der aktuellen Probleme aufmerksam. Darüber hinaus gibt er ein gelungenes Plädoyer für die Verwendung von hegemonietheoretischen Ansätzen im Anschluss an Gramsci ab. Die Argumentation ist sehr gut nachvollziehbar und der Stil leser/innenfreundlich. Nur teilweise gelungen sind die „Zooms“, die der Autor an verschiedenen Stellen einfügt, d.h. vertiefende thematische Informationskästen. Manchmal unterbrechen diese den Lesefluss und ihr Verhältnis zum restlichen Text ist nicht immer deutlich genug. Ein weiterer Kritikpunkt lässt sich in Bezug auf theoretische Aspekte vorbringen. Vorstellung und Bewertung der verschiedenen Theorieansätze zu Beginn der Studie sind überzeugend und aufschlussreich. Zwar ist die gramscianische Herangehensweise stets präsent, aber im weiteren Verlauf des Buches lassen sich nur wenige explizite Rückbezüge auf die Theorie finden und wenn, dann nur auf Gramsci. Speziell in Anschluss an Laclau und Mouffe (Äquivalenzketten, Knotenpunkte) ließe sich systematischer nach den Verschiebungen im Laizismus-Diskurs von Politiker/innen und Medien fragen, um die starken Argumente des Autors noch weiter zu untermauern (ohne sich dabei einseitig auf sprachliche Äußerungen zu fokussieren). Diese Kritikpunkte ändern jedoch nichts daran, dass Kolja Lindners Buch eine sehr lesenswerte Intervention darstellt, die gerade im Angesicht der jüngsten Entwicklungen in Frankreich wichtige Hintergrundinformationen liefert und zum Nachdenken und Debattieren einlädt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, Berlin 2016 [französisches Original von 2009].
2 Als Plädoyer für eine stärkere Beschäftigung mit den Ambitionen der bürgerlichen Rechten lässt sich ebenfalls verstehen: Oliver Fahrni, Frankreich: die Geburt der „Vierten Rechten“?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 62.6 (2017), S. 45–53.