Der Nationalsozialismus als politische Ordnung war abhängig von den Einzelnen. Den Einzelnen, die ihn emphatisch bejubelten, ihn skeptisch beäugten, ihn hinnahmen, ihn fürchteten, ihn vorantrieben – und ihn in der großen Mehrheit trugen. Diese Einzelnen treten uns in der Studie von Janosch Steuwer entgegen. Ihre alltäglichen Beobachtungen, Haltungen und Positionssuchen an der Schwelle zur Diktatur und in der Phase der Machtkonsolidierung und Kriegsvorbereitung nehmen auf knapp 550 Seiten beeindruckend Gestalt an. Das Buch liest sich als Erfahrungsgeschichte der sogenannten Volksgenossinnen und Volksgenossen im nationalsozialistischen Deutschland der 1930er-Jahre. Im Mittelpunkt steht ihr Umgang mit dem, was im Titel des DFG-Forschungsprojektes, aus dem das Buch wie auch eine vielversprechende Studie zur Nachkriegszeit von Hanne Leßau hervorgegangen ist, als „biographische und gesellschaftliche Herausforderung des Nationalsozialismus“ bezeichnet wird.
Dieser Herausforderung geht Steuwer anhand von Tagebüchern nach. Der Titel des Buches ist einem solchen Tagebuch entnommen. „Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse“, heißt es da – sieben Wörter, die von der seit 1933 von vielen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen empfundenen Notwendigkeit künden, das politische Zukunftsszenario des Nationalsozialismus aktiv und individuell mit Inhalt zu füllen. Damit schließt die Studie an die Debatte an, die sich in der letzten Dekade um den Begriff der NS-„Volksgemeinschaft“ entsponnen und die der Sozialgeschichtsschreibung wichtige Impulse beschert hat: In seinem programmatisch-fundamentalen Veränderungsanspruch setzte das NS-Regime nach Machtantritt weniger auf institutionelle Durchsetzung als vielmehr auf massenhafte individuelle Beteiligung von unten, weswegen der Nationalsozialismus als Gesellschaftsprojekt verstanden werden muss.1
Vierzig Archive hat Steuwer besucht und 140 Tagebücher in sein Sample aufgenommen, wobei seine Auswahl sich an dem Ziel orientierte, eine möglichst große Heterogenität von Schreibzwecken und Schichtzugehörigkeiten der Autorinnen und Autoren abzubilden, die sich aus Opfern, Gegnern, Unterstützern und Funktionären des Regimes zusammensetzen. Eine erste zentrale Beobachtung des Autors ist die folgende: Während zu anderen historischen Zeiten politisches Geschehen in Tagebüchern zufällige Randnotiz oder Ausdruck der Spezialinteressen von Einzelpersonen ist, stellt es sich im Jahr 1933 als eine dominante Motivation dar, zu Papier und Stift zu greifen. In Übereinstimmung mit Sebastian Haffners Rede von der spezifischen historischen „Intensität“ des Beginns der nationalsozialistischen Diktatur erweist sich der Machtantritt als kollektiver Schreibanlass.2
Angesichts des auf den ersten Blick kleinen Quellen-Samples liegt die Frage nach der Repräsentativität dieser wie auch aller anderen Beobachtungen nahe, mit denen das Buch aufwartet. Kann es nicht sein, dass in allen anderen, nicht berücksichtigten Tagebüchern das Jahr 1933 nur Marginalie ist? Steuwer macht sich durch seine Methode angreifbar, weil er all denjenigen, die die Geschichte nach dem „Wie viel?“ befragen, keine befriedigenden Zahlen liefern kann. Doch leistet sein Buch einen umso größeren Beitrag zum „Wie?“ historischer Prozesse. Die Selbsterzählungen ermöglichen es, der Bedeutung der „Machtergreifung“ für Zeitgenossinnen und -genossen nachzugehen. Damit ist der größte Verdienst der Studie umrissen: die Wahrnehmung einfacher Privatleute als Bestandteil einer Geschichte der Etablierung des Nationalsozialismus ernst zu nehmen und zentral zu setzen.
Tagebücher werden in Steuwers Buch nicht als Repräsentationen von „Erleben“ verstanden. Vielmehr sind sie den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen „Werkzeuge“, mithilfe derer sie sich in der sogenannten Volksgemeinschaft und damit in der Idee eines sozialen Gefüges zu verorten, also eine Position in diesem Gefüge zu finden, suchten. Die Quellen erweisen sich gewissermaßen als ein Ort, an dem schreibend der Kitt zwischen Individuum und Kollektiv tagtäglich neu produziert wurde, an dem es aber auch zu Reibung kam und Bruchstellen sichtbar werden.
Aufgrund ihres spezifischen Erzählmodus eignen sich die Tagebücher in besonderem Maße dazu, Fragen von Zustimmung und Dissens auf den Grund zu gehen. Wer Tagebuch schreibt, weiß nicht, was am nächsten Tag passiert, Zeithorizont des Schreibens ist die Gegenwart. Damit unterscheidet sich die Quelle deutlich von anderen biographischen Literaturformen, die retrospektiv erzählen. Die Autorinnen und Autoren der untersuchten Tagebücher imaginieren eine Zukunft, der unsere heutige Gegenwart nicht entspricht, und genau das macht ihr Schreiben für Historikerinnen und Historiker so spannend.
Es wäre naheliegend und einfach gewesen, die Studie nach Autorinnen und Autoren der Ego-Dokumente zu gliedern, wie es zum Beispiel Jochen Hellbeck in seiner Untersuchung des Tagebuchschreibens im Stalinismus getan hat.3 Steuwer jedoch hat sich für eine konzeptuelle Gliederung und damit eine Dreiteilung entschieden, die sich an den drei von ihm ausgemachten Dimensionen der individuellen Herausforderung des Nationalsozialismus orientieren. Für die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen selbst, so schreibt der Autor, waren jene Dimensionen oft nicht voneinander zu trennen, sie berührten und überschnitten einander. Ihre analytische Trennung erlaubt es jedoch, unterschiedliche zeitliche Schwerpunkte zu setzen und die Untersuchungsergebnisse in eine Chronologie zu bringen, die die Veränderungen der 1930er-Jahre im Verlauf fassbar werden lassen: von der Zuordnung und Abgrenzung in alltäglichen Sozialbeziehungen (Erster Teil), über die private Lebensführung und Selbstbetrachtung (Zweiter Teil) bis hin zu politischem Handeln und Bewerten (Dritter Teil).
Im Laufe der Lektüre des Buches erlangen Leserinnen und Leser weitreichende neue Erkenntnisse über Regeln und Bedingungen von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit und deren Aneignung und Verinnerlichung im Nationalsozialismus. So vermögen beispielsweise verschiedene Episoden zu zeigen, dass und wie im Nationalsozialismus bewusst immer wieder Situationen erzeugt wurden, in denen sich die sogenannten Volksgenossinnen und Volksgenossen öffentlich zum Regime bekennen mussten, Selbstverortung demnach in hohem Maße auf der Straße stattfand. Besonders erhellend sind die Tagebuch-Analysen auch im Hinblick auf die Frage von Öffentlichkeit und Privatheit im Nationalsozialismus. Steuwers Lektüren dieser komplexen Quellen stellen die Vorstellung vom Privaten als dem „Unbeobachteten“ grundlegend in Frage. Das Private, so ergibt die Untersuchung, ist im Nationalsozialismus eben nicht die Antithese zum Politischen.
Im Ergebnis offenbart die Studie eine verblüffende Offenheit des Nationalsozialismus für Subjektivität, die zwar mit begrifflichen Vorgaben, nicht jedoch mit Katechismen oder Ähnlichem konfrontiert war. In den untersuchten Tagebüchern treten Leserinnen und Lesern Individuen entgegen, an deren Aufzeichnungen sich unsere Erwartungen an und Perspektiven auf Erfahrung und Wahrnehmung der Frühphase des Nationalsozialismus auf produktive Weise brechen.
Anmerkungen:
1 Michael Wildt / Frank Bajohr, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009, S. 7–40.
2 Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933, München 2014, S. 13.
3 Jochen Hellbeck, Revolution on My Mind. Writing a Diary under Stalin, Cambridge 2006.