J. Wendland: Das Lager von Bild zu Bild

Cover
Titel
Das Lager von Bild zu Bild. Narrative Bildserien von Häftlingen aus NS-Zwangslagern


Autor(en)
Wendland, Jörn
Erschienen
Köln 2017: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
409 S., ca. 43 s/w- u. 283 farb. Abb.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelia Brink, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Br.

Die (Erinnerungs-)Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager lässt sich auch im Comic erzählen. Das hat spätestens Art Spiegelmans Comic Strip „Maus“ gezeigt, dessen erste Folge 1980 in einem US-amerikanischen Comic-Magazin erschien. Dabei war Spiegelman keineswegs der erste, der diese Darstellungsform wählte. Hans Rosenthals „Mickey au Camp de Gurs. Publié sans autorisation de Walt Disney“ etwa entstand schon während seiner Lagerzeit. „Mickey au Camp de Gurs“ und weitere Bildserien, die Häftlinge in NS-Zwangslagern und unmittelbar nach ihrer Befreiung zeichneten, stehen im Zentrum der hier zu besprechenden Studie von Jörn Wendland.

Der Autor hat sich jedoch entschieden, statt von „Comic“ (bzw. von Alternativen wie „Lagerkunst“, „Bildgeschichte“, „Serie“ oder „Sequenz“) von „narrativen Bildserien“ zu sprechen und fünfzehn Bildserien mit Szenen aus Auschwitz, Bergen-Belsen und Schwarzheide, einem Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen, aus dem Ghetto Theresienstadt und dem französischen Internierungslager Gurs ausgewählt. Darunter finden sich Einzelblätter ebenso wie Werke, deren Bilder sich auf mehrere Blätter verteilen. Alle bestehen aus einer Sequenz, die mindestens zwei Bilder enthält, ein narratives Element ist zumindest in rudimentären Ansätzen vorhanden. Den Kunsthistoriker Wendland interessiert vor allem, ob die Form Bildserie den Häftlingen eine Möglichkeit bot, dem chaotischen Strom wiederkehrender Ereignisse inmitten einer lebensfeindlichen Umgebung im Lager eine gewisse Ordnung zu geben.

Um die Primärquellen zusammenzutragen, musste Wendland weit reisen: Die Originale werden in Museen, Gedenkstätten oder bei Privatpersonen in den USA, in Polen, Tschechien, Frankreich, Österreich und Israel aufbewahrt. Ausschlaggebend für die Auswahl waren neben der Verfügbarkeit der Zugang zu weiteren Informationen und die Möglichkeit, mit den Überlebenden oder deren Angehörigen in Kontakt zu treten. Mit einer Ausnahme stammen alle Werke von jüdischen Zeichnerinnen und Zeichnern, darunter ausgebildete Künstler wie István Irsai, Hilda Zadiková oder Joseph Spier, Häftlinge ohne künstlerische Ausbildung wie Helga Weissová und auch Laien, die sich vor oder nach ihrer Haft kaum bildnerisch bestätigten wie Thomas Geve oder Zsuzsa Merényi.1 Die Bandbreite an Themen, Materialien und Umfang der Arbeiten ist groß. Nicht alle sind datiert und/oder signiert; Informationen aus Interviews, Selbstzeugnissen oder der Literatur, teils auch biografische Daten, inhaltliche oder stilkritische Analysen ermöglichten es, den Entstehungszeitraum zumindest einzuengen.

Für seine Untersuchung konnte sich Jörn Wendland auf wenige Vorarbeiten stützen, darunter die wichtigen Monografien von Mary S. Constanza und Ziva Amishai-Maisels2; in Deutschland haben seit den frühen 1990er-Jahren der von Thomas Lutz und anderen herausgegebene Sammelband „Über-Lebens-Mittel“ und zahlreiche Aufsätze des Kunsthistorikers Detlef Hoffmann auf die bildnerische Produktion in den Lagern aufmerksam gemacht.3 Von dieser Grundlage aus fragt Wendland nach den Produktionsbedingungen der einzelnen Bildserien, nach Material, künstlerischen Ausdrucksformen und danach, wie die Ereignisse des Lageralltags in die Form der narrativen Bildserie umgesetzt wurden. Wendlands Anspruch, die Werke in ihrem geschichtlichen und sozialen Umfeld zu kontextualisieren, ihre kunstästhetische Eigenständigkeit zu würdigen und die jeweiligen Narrationen umfassend zu untersuchen, führt historische, kunstwissenschaftliche und narratologische Perspektiven zusammen.

Seiner Leitfrage nach der Narrativität der Bildserien nähert sich Jörn Wendland in mehreren Schritten. Zunächst skizziert er die Geschichte jener Lager, in denen die Bilder entstanden, und die jeweils gegebenen Möglichkeiten der Bildproduktion. Wie man in Auschwitz-Birkenau oder in Bergen-Belsen, in Gurs oder Theresienstadt an Papier, Stifte oder Farben kam, hing von der Funktion des Lagers ab und ebenso von der individuellen Stellung des Häftlings. Auch Zeit und Raum zum Zeichnen standen nicht in gleicher Weise zur Verfügung. Wendland stellt die verschiedenen Trägermedien und künstlerischen Techniken der Werke vor, diskutiert die Funktionen der Bildserien als dokumentarische Zeugnisse, als Mittel der Selbstbehauptung oder Rückbesinnung auf frühere künstlerische und berufliche Erfolge. Manchem Häftling mochte der künstlerische Prozess für einen kurzen Moment die Kontrolle über das eigene Leben, eine ironische Darstellungsweise auch die Distanzierung von den Schrecken des Lagers ermöglichen. Zudem konnten die Bilder als soziales Medium fungieren, Anerkennung oder Ablehnung bezeugen, eine Gruppenidentität bestärken oder, wie Spiers’ Bilder aus Theresienstadt, die dieser 1944 anlässlich des Besuchs einer Delegation des Roten Kreuzes zeichnete, als Mittel der NS-Medienpolitik eingesetzt werden.

Die beiden umfangreichsten Kapitel sind der Ästhetik und Narration der Bildserien gewidmet. Am Beispiel eines anonymen Skizzenbuchs und der farbigen Aquarelle von Waldemar Nowakowski, die beide in Auschwitz entstanden, untersucht Wendland Zeichenstil und Figurendarstellung: Ging es dem Künstler um eine möglichst realistische Darstellung des Lageralltags oder wollte er durch einen expressionistischen Stil seine Gefühle zum Ausdruck bringen? Den Unterschied zwischen deskriptiven und symbolischen Ausdrucksformen analysiert Wendland am Beispiel der Zeichnungen, die Helga Weissová und Hilda Zadiková in Theresienstadt fertigten. Pavel Fantls und Erich Lichtblau-Lesklys Bilder werden als politische Karikaturen betrachtet, die Arbeiten von Joseph Spier und Alfred Kantor darauf hin untersucht, welche Rolle der Auftraggeber für ihre Darstellungen des Lagers spielte. Mit dem Thema „Schlüsselmomente“ folgt Wendlands Studie dann einer thematisch organisierten Struktur: Existiert zu den Themen Ankunft im Lager, Essensausgabe und gemeinsames Waschen in den Lagerbildfolgen eine lagerübergreifende Bildsprache oder besitzt der jeweilige Ort einen Einfluss auf Wahl und Ausgestaltung eines Bildmotivs? Davon, wie „Zeit“ in den Bildern thematisiert und welche Bezüge zur Zeitgeschichte des Lagers oder Häftlings es gibt, handelt das fünfte Kapitel. Einzelbilder, so Wendland, enthistorisieren das Geschehen im Lager, die Zeitbezüge zwischen mehreren Bildern sind eher weit, die Szenen scheinen von Bild zu Bild zu springen. Das „langsame Dahinkriechen der Zeit“, wie es viele Häftlinge beschrieben haben, kann Wendland in den Bildserien nicht feststellen. Ausführlich diskutiert er die Lücke, die das Auschwitz-Skizzenbuch zwischen einem Vorher und einem Nachher der Morde in den Gaskammern lässt. Weil der Zusammenhang dieser Bilder insgesamt uneindeutig bleibe, könne auch die Fantasie des Rezipienten die Leerstelle nicht füllen. Das Buch beschließt ein Vergleich mit zwei Bildserien von Thomas Geve und Simon Wiesenthal, die in den Monaten nach der Befreiung entstanden.

Allein, dass Jörn Wendland diese Arbeiten in einem umfangreichen Katalog zusammengetragen hat, ist als Verdienst anzusehen. Die Bildserien sind vorzüglich (wenn auch nicht in jedem Fall vollständig) reproduziert, Wendland bietet, wo immer möglich, Informationen zum Titel4, zu Entstehungsort und -zeit, zum Medium, zu Techniken, Maßen und Standort. Hinzu kommen Verzeichnisse von Ausstellungen und Veröffentlichungen, außerdem biografische Informationen. Die Untersuchung zeichnet sich durch eine systematische Argumentation sowie durch sorgfältige Interpretationen aus. Für seine Deutungen zieht Wendland weitere Kunstwerke und Fotografien heran, die in einem eigenen Bildteil belegt werden; regelmäßige Exkurse zu Begriffen (z.B. Propaganda, autobiografischer Pakt), Genres (Karikatur, Comic, Serie) oder zu bildnerischen Traditionen, in denen er die Lagerbildserien sieht (z.B. Monatsbilder) betten die Analysen in größere kulturhistorische Zusammenhänge ein. Überhaupt beeindruckt die umfassende Literaturkenntnis. Zuweilen führen die Exkurse fort vom Gegenstand, auch zahlreiche Redundanzen wären vermeidbar gewesen. Nicht immer leuchtet der Erkenntnisgewinn von Fragen ein wie der, ob es sich bei einer Bildserie um eine Autobiografie im Sinne Philippe Lejeunes oder um eine Karikatur nach der Definition Thomas Kniepers handelt. Wenn die Bildserien einerseits „als eigenständige Kategorie innerhalb der Lagerkunst mit der Sequenz als Unterscheidungsmerkmal“ (S. 16) von anderen visuellen Erzeugnissen abgegrenzt werden sollen, hört man den Kunsthistoriker, der aber zugleich darauf verzichtet, die Lagerbilder zum Kunstwerk zu erhöhen und stattdessen von „Bildwerken“ oder „Lagerbildern“ spricht – und immer wieder von „Künstlern“. Solche Uneindeutigkeiten dokumentieren, dass die Aufgabe, sich von der eigenen disziplinären Schulung zu lösen, nicht zu unterschätzen ist: Ein Gegenstand wie die Bildserien aus Konzentrationslagern, für den sich lange keine Fachwissenschaft zuständig sah, erfordert nicht nur eine interdisziplinäre Perspektive, sondern ebenso neue Fragen, die seiner Eigenart entsprechen.

Dem Betrachter, der Betrachterin führt Jörn Wendland in seinem sorgfältig gestalteten Buch Bilder vor Augen, die man selten zu sehen bekommt. Mit dem Autor schaut man genau hin und kann in den Bildserien vieles erkennen, das in Worten so nicht ausgedrückt werden kann. Das wäre ein weiterer Zugang: Was geben die narrativen Bildserien zu sehen, das so mit Worten nicht ausgedrückt werden konnte? Auch Wendlands Hinweis auf Lagerbildserien aus anderen Gefangenenlagern des Ersten Weltkriegs, der sowjetischen Speziallager der Nachkriegszeit oder der japanischen Lager aus dem besetzten Niederländisch-Indien, von denen in Amsterdam und Den Haag tausende Bilder aufbewahrt werden, sollten Forschungen folgen.

Anmerkungen:
1 Dass weitere Bildserien zu ergänzen wären, ist naheliegend, darunter etwa Charlotte Salomons bekannte Arbeit „Leben oder Theater“ aus Gurs oder auch Georg Zielinskis nahezu unbekannte Zeichnungen aus deutschen Konzentrationslagern.
2 Mary S. Constanza, The living witness. Art in the concentration camps and ghettos, New York 1982; Ziva Amishai-Maisels, Depiction & Interpretation. The Influence of the Holocaust on the Visual Arts, Oxford 1993.
3 Vgl. Thomas Lutz / Wulff E. Brebeck / Nicolas Hepp (Hrsg.), Über-Lebens-Mittel: Kunst aus Konzentrationslagern und in Gedenkstätten für Opfer des Nationalsozialismus. Marburg 1992; Detlef Hoffmann, Relics of the Force Field of Art. Drawings Made in Concentration Camps, in: David Mickenberg / Corinne Granof / Peter Hayes (Hrsg.), The Last Expression. Art and Auschwitz, Evanston 2003, S. 24–35.
4 Bei den Bildern von Spier scheinen die Titel vertauscht worden zu sein.

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