Mobilität und Tourismus in Ost- und Ostmitteleuropa

: The Near Abroad. Socialist Eastern Europe and Soviet Patriotism in Ukraine, 1956–1985. Toronto 2017 : University of Toronto Press, ISBN 9781442631076 344 p. $ 52.50

Burrell, Kathy; Hörschelmann, Kathrin (Hrsg.): Mobilities in Socialist and Post-Socialist States. Societies on the Move. London 2014 : Palgrave Macmillan, ISBN 9781137267283 xiii+263 S. £ 68.00

: Skvoz’ ‚železnyj zanaves‘. Russo turisto. sovetskij vyezdnoj turizm, 1955–1991 [Durch den "Eisernen Vorhang". Russo turisto. Der sowjetische Auslandstourismus 1955–1991]. Moskau 2016 : Izdatel'skij Dom HSE, ISBN 978-5-7598-1394-1 359 S. $ 72.93

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Tondera, Institut für Geschichtswissenschaften und europäische Ethnologie, Geschichte Mittel- und Osteuropas, Universität Bamberg

Auf einer mental map hat selbstverständlich auch die öffentliche Toilette ihren Ort. Zum Beispiel auf jener von Svetlana, einer Serbin um die 30. Auf einer Zugfahrt von Novi Sad nach Belgrad im April 2006 überrascht sie ihre Mitreisenden mit einer Theorie darüber, warum im „Westen“ die Eisenbahntoiletten immer so sauber seien. Dies habe nichts mit der Kultiviertheit der dort lebenden Menschen zu tun, sondern mit einer besonders effizienten Form staatlicher Überwachung. Sobald ein Bürger versuche, das stille Örtchen ohne Betätigung der Klospülung zu verlassen, verriegele die Tür automatisch.

Diese Anekdote verdanken wir der Sozialanthropologin Marina Simič, eine der Beiträgerinnen zu dem faszinierenden Sammelband „Mobilities in Socialist und Post-socialist States“. Der Einblick in die Gedankenwelt der jungen Serbin verdeutlicht das Potential soziologischer und historischer Mobilitätsstudien: Sie finden ihre ProtagonistInnen dort, wo sie sonst nicht greifbar scheinen: In klapprigen Bussen auf Landstraßen irgendwo im Kaukasus, auf Fahrrädern im ostdeutschen Niemandsland oder in den Trolleybussen zentralasiatischer Großstädte. Und sie erlauben es uns, deren Wünsche, Ängste, Hoffnungen und Wertvorstellungen nachzuvollziehen, die sie nicht nur auf ihre Reisen mitnehmen, sondern ebenso auf diese projizieren.

Studien zu Tourismus, öffentlichem Nahverkehr und dem Automobil tragen dazu bei, zentnerschwere Begriffsbrocken wie „Kapitalismus“, „Sozialismus“, „Globalisierung“ und „Kalter Krieg“ in handlichere Einheiten zu zerlegen und sie mit konkreter gesellschaftlicher Bedeutung zu füllen. Denn – und das verdeutlichen alle drei hier besprochenen Bücher – Menschen reflektieren abstrakte Konzepte wie Staatlichkeit, Effizienz und Modernität in Metaphern der Mobilität. Ob sie ihre Verwaltung als funktionierend und ihre Gesellschaft als fortschrittlich empfinden, machen sie daran fest, ob die Busse pünktlich fahren, die Straßen gut ausgebaut sind oder eben die Zugtoiletten einen hygienischen Eindruck hinterlassen.

Damit sind wir wieder bei Svetlanas eingangs zitierter Vorstellung, westliche Gesellschaften seien geprägt von vorauseilendem Gehorsam aufgrund allumfassender staatlicher Überwachung. Was zunächst wie die Beschreibung einer Orwell‘schen Dystopie klingt, ist, so versichert Marina Simič, keineswegs so gemeint: Die junge Serbin entwarf den Westen schlicht als diametrales Gegenbild des eigenen, als dysfunktional und abwesend empfundenen Staats. In ihrer Vorstellung von Modernität nahm funktionierende Staatlichkeit eine zentrale Rolle ein; etwas, was es zuletzt im sozialistischen Jugoslawien gegeben habe und im Westen schließlich zur Vollendung geführt worden sei.

Der Sammelband von Kathy Burrell und Kathrin Hörschelmann ist reich gefüllt mit derartigen Selbstverortungen und Geschichtsbildern mittel- und osteuropäischer BürgerInnen, wobei der Untersuchungszeitraum der Beiträge von der Nachkriegszeit bis in die jüngste Vergangenheit reicht. Die „Wendejahre“ 1989 bis 1991 bilden in vielen Aufsätzen den Ausgangs- bzw. Endpunkt, ohne explizit in die Untersuchung einbezogen zu werden. Der Niedergang des sozialistischen Staatenraums ist damit auf eigentümliche Weise präsent und abwesend zugleich. Wie ein schwarzes Loch verschluckt er die materielle und geistige Welt der vorangegangenen Jahrzehnte und hinterlässt ein Vakuum, das in den Texten zur postsozialistischen Ära deutlich spürbar ist. Je ferner die Erfahrung des Lebens im Sozialismus in die Vergangenheit rückt und je nachhaltiger die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft enttäuscht werden, desto breiter macht sich eine nostalgisch überhöhte und verklärte Erinnerung an „Damals“. Das, was man spiegelbildlich zu Alexander Yurchaks Konzept des „imaginary west“ als „imaginären Sozialismus“ bezeichnen könnte1, nimmt auf diese Weise in den Aufsätzen zu Albanien, Serbien, Bosnien-Herzogowina, Zentralasien und Ostdeutschland eine zentrale Rolle ein. Der sozialistische Staat, den man nur noch vom Hörensagen oder aus Kindheitserinnerungen kennt und dessen autoritäre, paternalistische Züge durch die Patina weichgezeichnet erscheinen, funktioniert als Projektionsfläche für alles, was in der Gegenwart fehlt: funktionierende Sozialsysteme, garantierte Arbeitsplätze, bezahlbare Mobilität und das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein.

Wie unterschiedlich postsozialistische Gesellschaften mit diesem Erbe umgehen, verdeutlicht Wladimir Sgibnews Studie über den städtischen öffentlichen Nahverkehr in Zentralasien. Die meisten Kommunalverwaltungen der aus den Sowjetrepubliken hervorgegangenen Staaten stellten den Tramverkehr aus Kostengründen weitgehend ein und überließen den öffentliche Nahverkehr privaten Anbietern. Nicht so die Machthaber in Kirgistan und Tadschikistan: Sie schätzen die legitimierende symbolische Wirkung und den Nostalgie-Effekt eines von der öffentlichen Hand bereitgestellten Transportsystems. In der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe befand sich so zu Beginn der 2010er-Jahre auf den einheitlich gestalteten Trams insofern auch keine Reklame, stattdessen waren dort großformatig staatstragende Slogans aus Reden des Präsidenten Emomalij Rahmon abgedruckt.

Eine derart plakative Instrumentalisierung staatlicher Dienstleistungen im Transportsektor ist zwar im postsozialistischen Raum die Ausnahme, aber sie führt vor Augen, dass Mobilität ein Politikum darstellt. Durch Entscheidungen für oder gegen die Bereitstellung staatlicher Infrastruktur signalisiert der Staat Präsenz oder Abwesenheit; ganze Regionen gewinnen oder verlieren durch verkehrspolitische Entscheidungen Anschluss an überregionale und globale Verkehrsnetze und damit an die Moderne insgesamt. Eine buchstäblich abgekoppelte Region beschreibt Ina Dietzsch am Beispiel von Wittenberge, einer zu DDR-Zeiten bedeutenden Industriestadt, die nach 1989 den Großteil der lokalen Betriebe und mit ihnen ein Drittel der Bevölkerung verlor. Dietzsch beschreibt den Alltag in einer Stadt der zwei Geschwindigkeiten: Auf der einen Seite diejenigen, die aus eigenen Kräften (bzw. jenen des Automobils) Anschluss halten an die Mobilitätserfordernisse der Arbeitswelt; auf der anderen Seite diejenigen, die dies nicht mehr können oder wollen. Das Nebeneinander von Geschwindigkeitsregimen erzeugt permanente Reibungen im Alltag. Wittenberge ist gewissermaßen „aus dem Takt“ geraten, aber Dietzsch verdeutlicht auch, dass die Konsequenzen hieraus vielschichtig und ambivalent sind. Wer „Modernisierungsverlierer“ und „-gewinner“ ist, ist auch eine Frage der Perspektive. Die mobile Mittelschicht verfügt über Sozialprestige und Geld, zahlt dafür aber mit Zeitmangel und erhöhtem Stress. Rentner, Arbeitslose, Aussteiger und andere „Ausgebremste“ richten sich in der Entschleunigung ein und empfinden diese je nach Lebenssituation und Bedürfnislage als bereichernd oder belastend. Slow-Food, Slow-Travel, Urban Gardening und autofreies Leben sind hier keine Lifestyle-Entscheidungen, sondern ökonomisch erzwungen.

Die Kategorie „Modernität“ erweist sich für den Fall Wittenberges überhaupt als wenig trennscharf. Wer ist in dieser Stadt modern? Die Bürger, die an den globalen Verkehrsströmen und Konsumpraktiken teilhaben und damit letztlich den Lebensstil des 20. Jahrhunderts in intensivierter Form perpetuieren? Oder diejenigen, die – ob gewollt oder erzwungen – auf lokale Ressourcen zur Befriedigung Ihrer alltäglichen Bedürfnisse zurückgreifen und den städtischen Raum als öffentlichen Ort wiederentdecken?

Es ist das Verdienst und die Absicht des Bandes von Burrell und Hörschelmann, die LeserInnen immer wieder zu derartigen begrifflichen Reflexionen anzuregen. Dies gilt nicht nur für die Untersuchungen der postsozialistischen Zeit, sondern gerade auch für die Aufsätze, die im Kalten Krieg verortet sind. Die Herausgeberinnen möchten die Annahme, dass „Geschwindigkeit, Bewegung und radikaler Wandel die Domäne fortschrittlicher kapitalistischer Gesellschaften im globalen Norden“ seien, hinterfragt wissen (S. 4).2 Mobilität habe auch für die Herrschaftslegitimation sozialistischer Staaten eine zentrale Rolle gespielt, maßen doch Bevölkerungen die Effektivität ihrer Regierung nicht zuletzt an deren Fähigkeit, „reibungslose, schnelle und gleiche Bedingungen für den Transport von Menschen, Gütern und Informationen“ (S. 7–8) bereitzustellen. Die Warteschlange funktioniert bis heute im Westen genau wie in den postsozialistischen Staaten als mächtiges Symbol ineffizienter und korrupter Planwirtschaft. Gleichzeitig verdeckt die Vorstellung stundenlang vor kargen Verkaufsräumen ausharrender Menschenmassen den Blick darauf, dass der Sozialismus gerade in der Nachkriegszeit für viele Bevölkerungsgruppen ein Versprechen auf soziale und ökonomische Aufwärtsmobilität darstellte, der Zugriff auf Mobilitätsressourcen hier ähnlich wie in westlichen Industriegesellschaften eng mit dem sozialen Status verknüpft war und die vielen Formen des erzwungenen Wartens und Stillstehens neue soziale Praktiken und Begegnungsräume hervorbrachten.

Dies verdeutlicht insbesondere der Beitrag von Tauri Tuvikene über die Garagensiedlungen (garage areas) in Tallin und Tartu während der poststalinistischen Ära. Das Auto brachte hier komplementär zu neuen Mobilitätserfahrungen eine regelrechte Subkultur des Stillstands (mooring) in den häufig weit von den Wohnblöcken gelegenen Garagensiedlungen hervor. Der Bau der Garage, die Instandhaltung der Autos und die damit in Zusammenhang stehenden Praktiken des gegenseitigen Helfens, des Warentausches und der Freizeitgestaltung wurden mangels entsprechend funktionierender staatlicher Infrastruktur im Freundes- und Bekanntenkreis organisiert. Die Defizite der sozialistischen Planwirtschaft sorgten also dafür, dass Bürger sich eigenverantwortlich vergemeinschaften mussten, um Autos mobil zu machen.

Dass die Bereitstellung „unfertiger“ staatlicher Dienstleistungen die Entstehung informeller Netzwerke beförderte, lässt sich auch am grenzüberschreitenden Reiseverkehr studieren. Ciprian Cirniala, Adelina Oana Stefan und Botakoz Kassymbekova untersuchen in ihren Beiträgen die sich in den 1960er- und 70er-Jahren massiv ausweitende touristische und berufliche Mobilität in Rumänien und der UdSSR. Einerseits förderten beide Staaten die Öffnung der Grenzen in der Hoffnung auf eine Stärkung des eigenen kulturellen und wirtschaftlichen Einflusses im Ausland; andererseits wuchs bei den zuständigen Funktionären die Sorge vor unerwünschten Nebeneffekten durch ideologische Beeinflussung und Schmuggelgeschäfte. Die Etablierung stärkerer Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen erwies sich dabei als zweischneidige Angelegenheit, denn nicht selten waren Geheimdienstmitarbeiter und staatliches Aufsichtspersonal selbst in illegale Praktiken involviert. Darüber hinaus fanden Touristen – wie Kassymbekova anhand von Zeitzeugengesprächen dokumentiert – immer wieder Mittel und Wege, sich dem Gruppenzwang im Ausland zumindest zeitweise zu entziehen.

Wer mehr darüber erfahren möchte, wie sich die Sowjetunion der Herausforderung des globalen Tourismus annäherte, findet in der Monographie von Aleksej Popov und Igor Orlov: „Skvoz' ‚železnyj zanaves‘. Russo turisto: sovetskij vyezdnoj turizm, 1955-1991“ reichlich Anschauungsmaterial. Gerade das umfangreiche erste Kapitel bietet einen in dieser Detailfülle bislang einzigartigen Einblick in die Gründungsphase der auslandstouristischen Organisationsstrukturen in den frühen 1950er- und 1960er-Jahren. Popov und Orlov schildern darüber hinaus akribisch den Umfang und das geographische Profil des sich im Laufe der Jahre stetig ausweitenden Reiseangebots, den bürokratischen Hürdenlauf, der potenziellen Touristen abverlangt wurde, die den Reisenden auferlegten Verhaltensnormen, das dichte Netz an sichtbaren und unsichtbaren Kontrollmaßnahmen sowie nicht zuletzt die berüchtigte touristische Schattenwirtschaft.

Während „Russo turisto“ eine Fülle spannender Anekdoten und Fakten aus dem sowjetischen Reisealltag liefert, halten sich die Autoren mit klaren Thesen in Bezug auf die historische Bedeutung des Auslandstourismus eher zurück. Sie behandeln den knapp vier Jahrzehnte umfassenden Betrachtungszeitraum weitgehend als zeitliche Einheit, in der sich lediglich die Perestroika als Übergangsphase in ein postsozialistisches, privatwirtschaftlich geprägtes touristisches Zeitalter merklich vom übrigen Geschehen absetzt. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf den 1960er-Jahren, in denen sich das organisatorische Gefüge im Auslandstourismussektor herausbildete und eine Vielzahl eigentümlicher Praktiken und Rituale etabliert wurden. Dazu zählten die obligatorischen und sorgfältig durchchoreographierten „Freundschaftsabende“ im Anschluss an Betriebsbesuche ebenso wie die kollektive Beschämung von sich nicht konform verhaltenden Touristen bei Versammlungen der Reisegruppe.

Popov und Orlov befassen sich auch mit den kulturdiplomatischen Aspekten des Auslandstourismus. Einerseits finden sie zahlreiche Belege für den Anspruch führender Kader, dem touristischen Geschehen im sozialistischen Raum einen sowjetischen Stempel aufzudrücken, und beobachten eine zunehmende Politisierung der Auslandsreisen unter Breschnew. Andererseits beschreiben sie an vielen Stellen, wie sowjetische Touristengruppen mit ihrer „politisch-ideologischen Mission“ (S. 149) im sozialistischen Ausland scheiterten, weil die dortigen Bevölkerungen häufig allergisch auf erzwungene Freundschaftsinszenierungen und Belehrungsversuche reagierten. Ob die touristischen Initiativen im sozialistischen Staatenraum angesichts dieser widersprüchlichen Befunde dem Ansehen der Sowjetunion in der Gesamtschau eher nutzten oder schadeten, bleibt auch nach Lektüre von „Russo turisto“ offen.

Was Reisen über den Eisernen Vorhang hinweg angeht, stellt sich die Frage, ob sich die These des „interkulturellen Schocks“ (S. 212 und S. 264) der Touristen angesichts prall gefüllter Ladenregale und freundlichem Verkaufspersonal mit der Erkenntnis verträgt, dass es bis in die späten 1980er-Jahre vorwiegend gut vernetzte, einflussreiche und durchaus weltläufige Sowjetbürger waren, die Länder wie die USA, Westdeutschland oder Frankreich bereisten. Anstatt das vermeintlich naheliegende Bild vom schlecht gekleideten, mit offenem Mund durch westliche Einkaufsmeilen stolpernden Sowjettouristen noch einmal bestätigt zu bekommen, hätte man sich an dieser Stelle auch eine Reflektion darüber vorstellen können, ob sich unter den oft gut gebildeten und polyglotten Reisenden nicht auch viele fanden, die sich in eleganten Pariser Cafés und in Londoner Kaufhäusern bestens zurechtfanden?

Dessen ungeachtet ist es Popov und Orlov gelungen, der russischsprachigen Leserschaft eine längst überfällige Monographie zum sowjetischen Auslandstourismus mit gut sortiertem und erzählerisch ansprechend aufbereitetem Quellenmaterial an die Hand zu geben, die gerade aufgrund der zugrundeliegenden akribischen Recherche eine wertvolle Grundlage für weitergehende Untersuchungen darstellt.

Wie vielseitig und gegenwartsrelevant die Fragestellungen sind, die sich auf Grundlage von Untersuchungen zu Mobilität bearbeiten lassen, verdeutlicht Zbigniew Wojnowskis jüngst veröffentlichte Dissertation „The Near Abroad. Socialist Eastern Europe and Soviet Patriotism in Ukraine, 1956-1985“. Wojnowski legt in seiner Monographie den Schwerpunkt auf die komplexe Frage, in welchem Verhältnis ukrainischer Nationalismus und „Sowjetpatriotismus“ standen. Er verortet sich damit ganz explizit in dem aktuell heiß umkämpften politischen Diskurs um die Frage kollektiver postsowjetischer Identitäten in der Ukraine.

Ausgehend von der Tauwetterperiode bis zum Beginn der Perestrojka spielt das titelgebende „benachbarte Ausland“ (near abroad) dabei die Rolle des primären Bezugspunktes für Vergleichs- und Abgrenzungsdiskurse unter der Bevölkerung der Sowjetukraine. Wojnowski konstatiert bei dieser eine allmähliche Abwendung von Vorstellungen eines sozialistischen Internationalismus unter kultureller und politischer Führung der Sowjetunion. Stattdessen definierten immer breitere Teile der sowjetukrainischen Bevölkerung ihre Republik als Schutzraum gegenüber fehlgeleiteten Reformideen in den sozialistischen Nachbarstaaten.

Diesen Befund differenziert Wojnowski in fünf Kapiteln aus, in dem er an verschiedenen Beispielen beleuchtet, wie sich das Sprechen über das sozialistische Ausland und der Kontakt mit diesem im Laufe der Jahre veränderten. Den Ausgangspunkt bilden Meinungsäußerungen aus der ukrainischen Bevölkerung über die Aufstände in Ungarn und Polen 1956, die auffallend vielschichtig ausfielen. Ermutigt von der liberalen Grundstimmung des Tauwetters wagten sich viele Bürger hervor mit vorsichtiger Kritik an dem Kurs der KPdSU und nahmen die Ereignisse in den Nachbarländern zum Anlass, gesellschaftliche Reformen zu fordern. Diese von Wojnowski als „reformist patriotism“ bezeichnete Grundhaltung war zu dieser Zeit durchaus verbreitet und wurde erst im Laufe der 1960er-Jahre infolge der zunehmenden Engführung des öffentlichen Diskurses durch die Partei marginalisiert und in die Dissidenz verdrängt.

Auf der Gegenseite skizziert Wojnowski den „conservative patriotism“ als Haltung, die den Einsatz militärischer Mittel zur Bekämpfung „kontrarevolutionärer“ Entwicklungen im Ausland und dogmatische Antworten auf innenpolitische Grundsatzfragen befürwortete. Der konservative Patriotismus habe spätestens unter Breschnew den gesellschaftlichen Diskurs in der Ukraine dominiert und es einer aufstrebenden Mittelschicht erlaubt, sich als loyale Sowjetbürger zu positionieren. Die Niederschlagung des Prager Frühlings verlieh dem konservativen Patriotismus in den 1970er-Jahren weiteren Rückenwind; befördert von der staatlichen Propaganda-Maschinerie spielten ethnisch definierte Kriterien als zentrales Merkmal von Zugehörigkeit zur Ukraine (naši) eine zunehmend wichtige Rolle. Gerade in den westlichen Grenzregionen waren weite Teile der ukrainischen Gesellschaft darum bemüht, durch Abgrenzung vom benachbarten Ausland ihre Loyalität zur sowjetischen Sache zu signalisieren.

Indem Wojnowski die untersuchten Diskurse auf die regionale Ebene herunterbricht, führt er den Lesern vor Augen, dass die in der zeitgenössischen Debatte häufig ins Feld geführte Unterscheidung eines EU-affinen ukrainischen Westens und eines pro-russischen Ostens mit Blick auf die historischen Ursprünge kollektiver Loyalitäten zu kurz greift. Wie der Autor in einem informativen und klugen Epilog ausführt, lässt sich die aktuelle politische Gemengelage in der Ukraine als Fortsetzung der Konkurrenz eines reformerischen und eines konservativen Sowjetpatriotismus begreifen, dessen Anhänger sich nicht eindeutig gewissen geographischen Regionen zuordnen ließen.

Kritisch anmerken lässt sich an „The Near Abroad“ der zuweilen etwas nachlässige Umgang mit Begriffen. An einer Stelle argumentiert der Autor zur Selbstlegitimierung der Sowjetunion unter Breschnew: „The Soviet bloc was defined in historical and geographical, not ideological terms.“ (S. 114). Angesichts der Prämissen dieses Buches ist es überraschend, dass Wojnowski einen Gegensatz zwischen „Geschichte und Geographie“ auf der einen und „Ideologie“ auf der anderen Seite aufmacht, denn in seinem Buch geht es über weite Strecken ja gerade um die ideologische Indienstnahme von Geschichte und Geographie. Der von Wojnowski vermutlich gemeinte Rückgang marxistisch-leninistischer Argumentationsmuster zugunsten ethnisierender Propaganda-Metaphern in der offiziellen staatlichen Rhetorik müsste an dieser und anderer Stelle deutlicher herausgearbeitet werden. Auch gelingt es dem Autor nicht immer, die Besonderheiten der Beziehungen der ukrainischen Grenzregion zum polnischen Ausland zu belegen. Gerade die in Kapitel 2 behauptete Sonderrolle Lwiws im Verhältnis zu Polen am Beispiel von touristischem Austausch in der Tauwetterphase wird nicht ausreichend argumentativ belegt. Zwar überzeugt die These Wojnowskis, dass über den Tourismus performativ und diskursiv eine Grenzziehung zwischen dem sowjetischen „Kernland“ und dem erweiterten sozialistischen Einflussbereich vorgenommen wurde, gleichzeitig gilt dieser Befund aber eben nicht nur für die Grenzregionen, sondern für den sowjetischen Auslandstourismus insgesamt, was nicht zuletzt die Lektüre des oben vorgestellten Bandes von Popov und Orlov unterstreicht.

Welche Rückschlüsse lassen sich zusammenfassend aus den hier vorgestellten Beiträgen ziehen? Zunächst einmal erinnert die eingangs geschilderte eigenwillige Erklärung der jungen Serbin für den sauberen Zustand der Zugtoiletten „im Westen“ daran, dass Menschen ihre Umwelt immer vor dem Hintergrund der eigenen Sozialisation und eines bestehenden Weltbildes interpretieren. Daher greifen Narrative zu kurz, die den defizitären Charakter des osteuropäischen Transport-, Verkehrs- und Tourismussektors hervorheben und daraus kollektive Frustrations- und Inferioritätsgefühle ableiten. Die Frage, wie sich Mobilitätserfahrungen im In- und Ausland auf Reisende auswirkten, ist außerordentlich komplex und lässt sich nur unter Einbeziehung der Eigenperspektive der betrachteten Akteure beantworten.

Darüber hinaus behandeln alle der hier betrachteten Mobilitätsstudien ihren Gegenstand aus einer vorwiegend nationalen, regionalen oder lokalen Perspektive. Obwohl das untersuchte Geschehen in den meisten Fällen Grenzen zwischen Städten, Ländern und Machtblöcken überschreitet, finden sich kaum multipolare Ansätze, die die Interaktion von Besuchten und Besuchenden in den Blick nehmen oder sich mit sozialen, kulturellen und ökonomischen Verflechtungen auseinandersetzen. Wie Heike Wolter und Mark Keck-Szajbel bereits 2011 kritisch anmerkten, bleibt es – zumindest mit Blick auf den osteuropäischen Raum – für die Mobilitätsforschung im Allgemeinen und Tourismusstudien im Besonderen weiterhin eine Herausforderung, die transnationale Dimension konsequent in das Forschungsdesign miteinzubeziehen.3 Gleichwohl stimmt die hier vorgestellte kleine Auswahl an neuerer Forschung zu Mobilität in Osteuropa optimistisch, denn während einschlägige Studien noch vor gut einem Jahrzehnt Exotenstatus hatten, erlebt das Feld in jüngster Zeit einen enormen Aufschwung.

Anmerkungen:
1 Vgl. das gleichnamige Kapitel in Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2006, S. 158–206.
2 Übersetzung vom Rezensenten.
3 Vgl. dazu die kritischen Anmerkungen in Mark Keck-Szajbel / Heike Wolter, A Contradiction in Terms? An Analysis of the Historiography on East Bloc Tourism, in: Gijs Mom (Hrsg.), Mobility in History. Themes in Transport, Yearbook 2011, Neuchâtel 2011.

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